Auf arte.tv: Pure

Marnie, Hauptfigur der Dramedy-
Serie „Pure“, plagen Zwangsgedanken an Sex. Lacht das Publikum hier auf Kosten von Betroffenen mentaler Krankheiten?

In „Pure“ leidet Marnie unter ihren sexuellen Zwangsgedanken, auch wenn die in der Serie mit humoristischen Momenten verknüpft werden. (Copyright: Arte)

Nachdem Marnie (Charlie Clive) beim Hochzeitsjubiläum ihrer Eltern sexuelle Fantasien mit ihrer Mutter überkommen, nimmt sie Reißaus: Die 24-Jährige flüchtet nur mit einem Rucksack bepackt aus ihrer schottischen Heimatstadt nach London. In der britischen Serie „Pure“, die seit September auf arte.tv zu sehen ist, sucht sie in sechs Folgen nach Antworten: Was sind das für Gedanken, die sie seit Jahren plagen? Kann sie etwas dagegen tun? Und wie soll sie mit anderen zurechtkommen, wenn sie sich fast jede Person in ihrem nahen Umfeld nackt oder als Lustobjekt vorstellt?

„Pure“ wird als Drama-Komödie verkauft. Auf Youtube zeigen sich Nutzer*innen in den Kommentaren zum Trailer deswegen kritisch: „I’m glad my mental condition is a fun happy plot device…“ Es kann durchaus sein, dass manche Betroffene „Pure“ als Verharmlosung ihrer Erkrankung empfinden. Mentale Krankheiten haben viele Gesichter und nicht jede künstlerische Interpretation kann all diesen gerecht werden. Daran ändert auch nichts, dass die Serie auf den gleichnamigen Memoiren von Rose Cartwright basiert: Die Autorin und Aktivistin für mentale Gesundheit leidet selbst unter sexuellen Zwangsgedanken, einer möglichen Ausdrucksform einer Zwangsneurose.

„Pure“ hat durchaus eine gewisse Leichtigkeit: London zeigt sich mit queeren Clubs und WG-Kultur von seiner hippen Seite, die jungen Nebencharaktere treiben vor allem kurzweilige Liebesdramen und Konflikte unter Freund*innen um. Es wäre trotzdem falsch, den Regisseur*innen Aneil Karia und Alicia Macdonald zu unterstellen, sie wären auf Marnies Verspottung oder auf eine leichte Komödie aus. Das allgemeine Lob internationaler Medien, die Serie stelle psychische Krankheiten besonders empathisch dar, trifft jedoch ebenfalls nicht auf alle Szenen zu.

Die meisten Lacher entstehen aus Verlegenheit: Marnie gerät durch ihre Zwangsgedanken und deren Folgen in die absurdesten Situationen, steht irgendwann halbnackt und schreiend in einem Großraumbüro. Die Regisseur*innen brechen diese vermeintlich humoristischen Szenen auf, indem sie Marnies sexuelle Fantasien in kurzen Sequenzen einblenden und Marnies Stimme die Ereignisse aus dem Off kommentieren lassen. Zwar nimmt die Protagonistin sich oft selbst aufs Korn und ist sarkastisch, manchmal aber auch zutiefst verzweifelt. Die Zuschauer*innen fahren demnach mit auf Marnies schwindelerregendem Gedankenkarussell, statt sie nur aus der Distanz zu beobachten.

Kein Witz …

Die Regisseur*innen bemühen sich darum zu erklären, dass die sexuellen Zwangsgedanken nichts mit einer erhöhten Libido zu tun haben. Sie illustrieren, wie schwer es der Hauptfigur fällt, ihren Gedanken Gefühle zuzuordnen: Ist Marnie nicht heterosexuell, weil Frauen wie Männer ungewollte Sexfantasien auslösen? Steht sie auf ihr Gegenüber oder zwingt sie ihre Psyche, sich intime Momente mit diesem Menschen auszumalen? Problematisch wird es, wenn Marnie kein „Nein“ akzeptiert und sturzbetrunken ihrem „love interest“ gegen seinen Willen an die Wäsche will oder in einem Stripclub Frauen belästigt. In der Erzählung werden diese Szenen damit legitimiert, dass Marnie ihren Zwangsgedanken entgegenwirken möchte, indem sie diese tatsächlich umsetzt. Diese Darstellung hat jedoch einen bitteren Beigeschmack: Ausgerechnet die weibliche Hauptfigur mit mentaler Krankheit verhält sich übergriffig und hysterisch, weil sie ihre vermeintliche Lust nicht ausleben kann. Sigmund Freud lässt grüßen. Noch dazu wird Marnie an anderer Stelle als schlechter Mensch bezeichnet, der unabhängig von seiner Krankheit kein Herz für andere hat.

Quelle: serienjunkies.de

Damit bedienen die Regis-
seur*innen einen gängigen popkulturellen Topos: Wer an einer mentalen Krankheit leidet, ist entweder gefährlich oder eine Witzfigur. Letztes Jahr sprachen zwei Personen mit mentalen Krankheiten im Kulturpodcast „Um Canapé mit der woxx“ über dieses Phänomen: In der Folge „Mental Krankheeten“ analysierten sie, wie Betroffene dargestellt werden.

In „Pure“ beißt sich Marnies durchwachsenes Porträt mit der restlichen Inszenierung, denn bei anderen Themen zeigen die Regisseur*innen mehr Feingefühl. Die Besetzung ist ethnisch divers, wiederholt geht es um feministische Belange, verschiedene sexuelle Orientierungen werden gleichwertig behandelt. Die Regisseur*innen zeichnen außerdem interessante männliche Figuren, wie etwa Charlie (Joe Cole, u.a. „Skins“ und „Peaky Blinders“), der sich schnell als Marnies engster Vertrauter entpuppt. Die beiden lernen sich in einer Selbsthilfegruppe kennen. Charlie ist süchtig nach Pornos und Masturbation, aber seit einem Jahr „clean“. Mithilfe seines Charakters hinterfragen die Regisseur*innen Machtverhältnisse zwischen weiblichen Vorgesetzten und ihren männlichen Angestellten oder sprechen Impotenz bei jungen Männern an. Beides Themen, die mit dem nötigen Ernst behandelt werden.

Ähnlich spannend sind die Freundschaften in „Pure“. Die Regis-seur*innen idealisieren diese nicht, im Gegenteil. Versucht Marnie ihre Krankheit anfangs noch zu verbergen, wissen die meisten Menschen in ihrem Umfeld bald Bescheid. Die Reaktionen fallen unterschiedlich aus. Marnies Freund Joe (Anthony Welsh, u.a. „Fleabag“, „Black Mirror“) liest sich zum Beispiel in das Thema ein und hat ein offenes Ohr für sie, während ihre beste Freundin Helen (Olive Gray, u.a. „Halo“) sie zunächst auslacht und sie bei ihren neuen Bekannten schlechtmacht. Auch das gibt Einblicke in den Alltag von Personen mit mentalen Krankheiten: Der Weg bis zur Diagnose ist oft langwierig und kräftezehrend, einmal dort angekommen ist die Unterstützung durch Freund*innen und Familie nicht garantiert.

Eine reine Lachnummer oder ein verkappter Erotikstreifen ist „Pure“ am Ende nicht. Ungeachtet des einen oder anderen Fauxpas verdient die Serie Aufmerksamkeit.

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