Auf Netflix: La legge di Lidia Poët

Die Krimiserie „La legge di Lidia Poët“ basiert auf der Geschichte von Italiens erster Strafverteidigerin, Lidia Poët. Wird die Serie deren Verdiensten gerecht?

Lidia Poët setzte sich für Frauenrechte ein, ihr fiktionales Ebenbild hat lieber leidenschaftlichen Sex. (Copyright: Netflix)

Barbusig, vor Genuss stöhnend, den Kopf ihres Liebhabers zwischen den Schenkeln vergraben: Das ist der erste Auftritt von Lidia Poët (Matilda De Angelis) in der Krimiserie „La legge di Lidia Poët“, die im Februar auf Netflix erschien. Gegen Ende der expliziten Sexszene, in der Lidia den Ton angibt, fängt die Kamera Justizbücher ein, erst verschwommen, dann stechend scharf. Nur sie geben Aufschluss darüber, worum es in den kommenden sechs Folgen gehen soll – um die Geschichte der ersten Anwältin Italiens.

Die Ideengeber Guido Iuculano und Davide Orsini haben sich für den Auftakt der Serie einen entscheidenden Moment in Lidia Poëts Leben ausgesucht: Die Ablehnung ihres Beitrittsgesuchs zur Turiner Staats- und Rechtsanwaltskammer gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Damit platzt Lidias Karriere vorerst, doch die junge Frau weiß sich zu helfen. Sie sucht Unterschlupf bei ihrem Bruder Enrico Poët (Pier Luigi Pasino), der mit seiner Familie ein nobles Anwesen bewohnt.

Lidia bietet ihrem Bruder, der ebenfalls Rechtsanwalt ist, ihre Dienste als Assistentin an, damit sie ihren Beruf zumindest über Umwege ausüben kann. Schon bald löst das Geschwisterpaar einen Kriminalfall nach dem anderen, und immer ist es Lidia, die entscheidende Beweise entdeckt oder das richtige Gespür für die vermeintlichen Täter*innen hat, die meist aus prekären Verhältnissen stammen.

Einige Aspekte decken sich mit dem Leben der historischen Figur Lidia Poët, auch wenn es in der Serie mehreren Quellen nach Anachronismen und Verdrehungen wahrer Gegebenheiten gibt, wie etwa die Kostüm- und Fahrzeugwahl oder die Familienverhältnisse im Hause Poët. Was jedoch stimmt, ist, dass Lidia Poët 1883 die Prüfungen der Turiner Staats- und Rechtsanwaltskammer ablegte, um dieser beizutreten.

Es war das erste Mal, dass eine Frau dies im italienischen Königreich tat. Der Antrag wurde trotz Kontroversen zunächst bewilligt, der Generalstaatsanwalt des Königs ging jedoch in Berufung: Nach einer neuen Verhandlung wurde Poëts Zulassung schließlich aufgehoben. Die Argumente: Eine weibliche Verteidigerin lenke ihre männliche Kollegen ab, außerdem sei nicht geklärt, wie Frauen die Anwaltstoga über ihre opulente Kleidung stülpen sollten. Poët ging erfolglos gegen den Entscheid vor, obwohl es kein Gesetz gab, nach dem Frauen den Beruf nicht ausüben durften. Anschließend arbeitete sie, wie in der Serie, ihrem Bruder Enrico Poët zu, der Rechtsanwalt war, und widmete sich dabei vor allem Frauen, Minderjährigen, Gefangenen und anderen marginalisierten Personengruppen.

Poët war jedoch mehr als eine Rechtsanwältin, die in eigener Sache kämpfte. In der Serie wird nicht thematisiert, dass Poët zu dieser Zeit unter anderem Delegierte beim vierten Internationalen Strafvollzugskongress in Sankt Petersburg und Mitglied der International Penitentiary Comission war, wo sie Italien als Vizepräsidentin der Rechtsabteilung in der Welt vertrat. Es kommt auch nicht zur Sprache, dass die französische Regierung ihr 1895 den Titel „Officier dʼacadémie“, eine der höchsten Auszeichnungen für Verdienste im Bildungswesen, verlieh. Ihre offizielle Zulassung als Rechtsanwältin erhielt Poët dennoch erst mit 65, nachdem in Italien die Zustimmungsbedürftigkeit durch den Ehemann bei Rechtsgeschäften ihrer Partnerinnen aufgehoben wurde.

Auch Poëts Engagement für Frauenrechte spielt in „La legge di Lidia Poët“ nur eine Nebenrolle, dabei nahm es in ihrem Leben viel Raum ein: Sie promovierte mit einer Dissertation über die gesellschaftliche Lage der Frau, besonders mit Blick auf das damals noch ausstehende Frauenwahlrecht. Anfang des 20. Jahrhunderts schloss sie sich dem nationalen Frauenrat an, leitete bei den ersten italienischen Kongressen 1908 und 1914 die Vorträge der juristischen Sektion. Im Jahr 1922 präsidierte sie das Turiner Komitee „Pro voto donne“ zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts in Italien, das erst 1946 eingeführt wurde.

Dekonstruktion einer Heldin

Und was haben die Produzent*in-
nen daraus gemacht? Eine seichte Krimiserie mit einer stark sexualisierten weiblichen Hauptfigur. Lidias Liebschaften nehmen in der Serie Raum ein, der für andere Erzählstränge, beispielsweise über ihr politisches Engagement, hätte genutzt werden können. Mit gutem Willen kann das Publikum es als Zeichen weiblicher Emanzipation durchgehen lassen, dass Lidia in den zahlreichen Sexszenen selbstbestimmt auftritt und sich den gesellschaftlichen Normen nicht beugt. Trotzdem hinterlässt die Entscheidung der Produzent*innen, Lidias Sexualität derart in Szene zu setzen, einen bitteren Nachgeschmack, zumal es hierfür keinen historischen Anlass zu geben scheint. Poët war nicht als Femme fatale bekannt und blieb, wie ihr Bruder, mit dem sie zusammenwohnte, ihr Leben lang ledig.

Es ist zudem unglaubwürdig, dass Lidia Poët sich als junge Frau in den 1800er-Jahren derart frei durch Turin bewegen konnte, ohne dabei auf Liebhaber oder Familienangehörige zu stoßen, die sie für ihr freies Sexleben und ihr berufliches Streben verurteilten – immerhin lebte sie in einer Welt, in der ihr der Zugang zur Staats- und Rechtsanwaltskammer aufgrund ihres Geschlechts verwehrt wurde. Diese zeitgenössische Interpretation der Figur und ihrer Lebensrealität macht sich auch an anderer Stelle bemerkbar, etwa wenn die Poëts eine lesbische Arbeiterin verteidigen. Niemand ist über die Homosexualität der Verdächtigen pikiert, dabei stand Homosexualität zu dieser Zeit in Italien unter Strafe.

Die Kritik daran ist keineswegs ein Plädoyer dafür, diskriminierende Inhalte aufgrund historischer Authentizität zu reproduzieren. Es geht hier eher darum, dass durch diese fiktive Diversität und Offenheit, mit der Charakteren wie diesem begegnet wird, die Verdienste von Lidia Poët geschmälert werden. Zwar ist unbekannt, ob es sich um einen realen Fall handelt, doch hätte die Verteidigung einer offen lesbischen Arbeiterin allein aufgrund der Rechtslage sicherlich für einen Aufschrei gesorgt.

Am Ende kann das Publikum also nur darauf hoffen, dass die Serie um eine zweite Staffel verlängert wird, die eine andere Perspektive auf diese wichtige Frau und ihre Kämpfe wirft, statt sie in ein Korsett und unter die Bettdecke zu zwängen.

Auf Netflix.

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