Awareness auf Luxemburger Festivals: Leider noch Neuland

Im europäischen Ausland wird Awareness ein immer wichtigeres Thema auf Festivals – in Luxemburg können hingegen nur wenige Menschen etwas mit dem Wort anfangen. Durch die Initiative „Pipapo“ ändert sich das gerade.

Dank der Initiative „Pipapo“ gibt es seit diesem Jahr auch auf manchen Luxemburger Festivals ein Awareness-Konzept.(FOTO: pexels)

Wie die Streiflichter eines vorbeifahrenden Autos huschen die Lichtstrahlen der Spotlights über die nass geschwitzten Gesichter der Tanzenden, die sich vor der Bühne zusammendrängen. Die wippenden Körper bewegen sich dicht an dicht, während Musik aus den Lautsprechern dröhnt. Den Feiernden kommt es vor, als ließen die hämmernden Beats ihre Herzen im Gleichtakt schlagen, sie trinken und rauchen zusammen, schlucken Pillen, flirten und lachen – für kurze Zeit sind die Regeln, die das Zusammenleben im Alltag bestimmen, ausgehebelt und eine kleine Gegenwelt entsteht: Willkommen auf dem Festival.

Solche Szenen gibt es jedes Jahr unzählige auf den mehrtägigen Musikevents, die diesseits oder jenseits der nationalen Grenzen stattfinden. Es ist ein kollektiver Taumel, der es den Besucher*innen erlaubt, für kurze Zeit der alltäglichen Monotonie zu entfliehen, sich vielleicht auch dem Rausch hinzugeben – doch nicht alle Festivalgänger*innen können ausgelassen feiern, denn jedes Jahr kommt es auf solchen Veranstaltungen leider auch zu Zwischenfällen: Die Grenzen der*des Einzelnen werden nicht respektiert, sexualisierte Gewalt wird in Form von Belästigungen und Übergriffen ausgeübt, Menschen werden diskriminiert oder erleben Drogennotfälle.

Jede*r soll sich willkommen fühlen

In Ländern wie Deutschland entwickelt sich deshalb gerade auf vielen Festivals – und überhaupt im Veranstaltungsbereich – eine Awareness-Kultur. Der Begriff der Awareness stammt aus den USA und bezeichnet das Bewusstsein für Situationen, in denen Grenzen von Menschen überschritten werden. Alle Formen von Diskriminierung und (sexualisierter) Gewalt sowie das persönliche Sicherheitsgefühl und Wohlbefinden einer Person können dabei eine Rolle spielen. Positiv ausgedrückt bedeutet Awareness, dass in gemeinschaftlicher Arbeit Räume geschaffen werden, in denen ein respektvoller, wertschätzender Umgang herrscht, sodass sich jede*r frei und sicher fühlen kann. Personengruppen und Communities, die oft Diskriminierungen ausgesetzt werden, sollen dabei besonders unterstützt und in ihrer Selbstbestimmung gestärkt werden.

Überregional agierende und gut vernetzte Vereinigungen wie die „Awareness Akademie“ in Berlin oder die Leipziger „Initiative Awareness“ leisten Aufklärungsarbeit in diesem Bereich, organisieren Schulungen und betreuen Organisator*innen, die ein entsprechendes Konzept ausarbeiten und auf ihrer Veranstaltung umsetzen möchten. Gerade im Festivalkontext spielt Awareness eine wichtige Rolle, denn: „Festivals definieren eine Art kollektiven Ausnahmezustand – Besucher*innen fühlen sich oft befreiter als im Alltag, es wird den ganzen Tag und die ganze Nacht gefeiert und natürlich auch konsumiert.“1 Das erwecke bei einigen Gästen den Eindruck, dass ihr eigener Spaß im Vordergrund stehe und sie keine Rücksicht auf die Grenzen anderer Besucher*innen nehmen müssten.

Auf jedem Festival gibt es Übergriffe

Im Gespräch mit der woxx sagt Sarah Bergmann, Gründerin des Vereins „Act Aware“, der unter anderem interessierte Veranstalter*innen berät: „Festivals an sich bergen einfach ein sehr großes Potenzial für Grenzüberschreitungen und für drogeninduzierte Problematiken.“ Gerade auf großen Festivals, an denen abertausende Menschen teilnähmen, sei ein ausgereiftes Awareness-Konzept deswegen unerlässlich. „Auf dem Festivalcampus gibt es viele unsichtbare Stellen. Nicht überall gibt es Security, wie zum Beispiel auf dem Campingplatz. Das Festivalgelände ist weitläufig, man verliert schnell seine Freunde aus den Augen – da bleibt vieles unbemerkt.“ Aus diesem Grund bräuchte es vor Ort ein Awareness-Team, das im Notfall auf kompetente Weise Beistand für Betroffene und Zeug*innen leisten könne. Die Aktivistin, die seit 2019 eigene Awareness-Konzepte für Festivals entwirft, weiß um Gängigkeit von Grenzüberschreitungen verschiedenster Art: „100 Fälle sind eigentlich immer dabei, egal von welcher Festivalgröße wir reden.“

Ein Awareness-Konzept wirkt dem durch Prävention und Intervention entgegen. Zu ihm können unter anderem gehören: gut erkennbare Teams vor Ort, die bei Übergriffen oder Zwischenfällen eine Krisenintervention bei der betroffenen Person und Zeug*innen leisten, sogenannte „safer spaces“, also Rückzugsorte, die Menschen bei Bedarf aufsuchen können, an strategisch wichtigen Plätzen ausgestelltes Informationsmaterial, auf dem die Guidelines des Festivals oder die Nummern von Helplines, Beratungsstellen oder Taxidiensten aufgelistet sind, eine im Vorfeld des Festivals durchgeführte Kommunikationskampagne, bei der Besucher*innen zum Beispiel über die Verhaltensregeln aufgeklärt werden, das ebenfalls im Vorfeld durchgeführte Briefing der Festivalcrew und der Künstler*innen, die im Notfall auf das Awareness-Team verweisen können, das Identifizieren von Gefahren- und Angstorten, die man besonders im Blick hat oder minimiert (zum Beispiel mittels Beleuchtung), Workshops für Besucher*innen, die als Anreiz für die Auseinandersetzung mit dem Thema Awareness dienen – die Liste lässt sich noch erweitern.

Noch in den Kinderschuhen

In Luxemburg kommt das Thema Awareness im Festivalkontext trotz seiner Wichtigkeit gerade erst auf. Dieses Jahr wurden beziehungsweise werden erstmals auf drei Festivals Awareness-Konzepte umgesetzt, nämlich auf dem Usina24-Festival in Düdelingen, den Francofolies in Esch/Alzette und dem E-Lake-Festival in Echternach. „In Luxemburg muss Awareness erst Fuß fassen“, sagt Alex Loverre, ausgebildeter Psychologe und Projektmanager bei dem Verein „4motion“, der 2016 „Pipapo“ ins Leben gerufen hat. Als Initiative ist „Pipapo“ dem Gesundheitsministerium unterstellt, die Arbeit des Teams fokussiert sich auf die Festkultur, seine drei thematischen Schwerpunkte heißen „Safer Use“ (der sicherere Drogenkonsum), „Safer Sex“ (der sicherere Umgang mit Sexualität) und „Safer Party“ (das sicherere Feiern). Laut Eigenbeschreibung setzt sich „Pipapo“ dafür ein, „sexistische und sexualisierte Gewalt im Party-Milieu zu verhindern und Partys sicherer, gleichberechtigter und inklusiver für alle zu gestalten“. Verschiedene Projekte der Initiative werden mit EU-Geldern gefördert.

Sie bietet Services wie das Drug Checking, also das Analysieren von Rauschmitteln (siehe woxx 1523), sowie Sprechstunden rund um Sex, Drogen und Feiern an. Darüber hinaus arbeitet „Pipapo“ unter der Etikette „Safer Night“ direkt mit Veranstalter*innen zusammen, um die Partyszene offener und gewaltfreier zu gestalten – und darunter fällt auch neuerdings die Awareness-Arbeit auf Festivals, die sie mit lokalen Partner*innen wie zum Beispiel der Düdelinger Gleichstellungsdienststelle konzipiert und realisiert.

„Awareness ist bei uns eingebettet in einen holistischen Ansatz, bei dem wir uns eben mit Organisatoren an einen Tisch setzen und gemeinsam schauen, was wir tun können, damit sich jeder auf einer Veranstaltung wohlfühlt“, erklärt Loverre. Es gehe darum, das Wohlbefinden eines*r jeden zu fördern, und Teil davon sei auch der Einsatz eines Awareness-Teams, das speziell dafür ausgebildet sei, Personen in einer Notsituation aufzufangen und ihnen durch gezielte Unterstützung ihre Handlungsmacht zurückzugeben. Zu dem Awareness-Konzept gehört auch immer eine über Social Media geführte Informations- und Sensibilisierungskampagne sowie eine akribische Vor- und Nachbereitung mit allen Involvierten – ein vorab stattfindendes Informationsgespräch, das die Security, das Personal und die Künstler*innen mit einschließt, sowie ein im Anschluss der Veranstaltung verfasster Bericht, das zum Feedback gehört, das „Pipapo“ den Organisator*innen gibt.

Internationale Zusammenarbeit

„Awareness ist genau so ein Bestandteil des Events wie es die Security, die Musik und die Bar ist“, sagt Loverre. Auf den Festivals, die von „Pipapo“ betreut werden, gibt es stets einen sogenannten „Lilapoint“, einen Informationsstand sowie einen „safer space“, also einen „espace d’écoute“, in dem Gespräche in einer gemütlichen Atmosphäre stattfinden. Die als „Jobistes“ bezeichneten Mitarbeiter*innen, die als Awareness-Team auf dem Festivalgelände präsent sind, tragen lila Warnwesten, um gut sichtbar zu sein. „Wir sind aber bisher ganz wenig als Awareness-Team erkannt worden“, erzählt Loverre – ein Umstand, der womöglich darauf zurückzuführen ist, dass den meisten Menschen in Luxemburg Awareness noch kein Begriff ist.

Grundlage für die Awareness-Arbeit der Luxemburger Initiative ist das EU-finanzierte „CrissCross Project“, ein europäisches Programm „zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt in Nacht- und Freizeitlokalen“. Im Rahmen dieses zweijährigen Projekts, das vergangenes Jahr begann, konzipierte „Pipapo“ mit Partner*innen aus Portugal, Irland, Italien und Spanien verschiedene Aktionen, die allesamt darauf hinzielen, der Gewalt gegen Frauen und auch queeren Menschen im Party-Kontext etwas entgegenzusetzen. „Ein EU-Projekt ist immer eine internationale Kollaboration im Sinne eines Austauschs von Wissen und Praxen“, erklärt Carlos Paulos, Direktor von „4motion“.

In allen fünf Ländern wurden – gemäß qualitativer Erhebungsmethoden – mithilfe von Fokusgruppen, also Gruppendiskussionen, wie auch Interviews von cis Männern, cis Frauen, nicht-binären Personen sowie Beschäftigten im Veranstaltungsbereich die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte und Bedürfnisse von Feiernden und Festivalgänger*innen identifiziert. Dabei kam zum Beispiel heraus, dass sexuelle Belästigung auch im queeren Nachtleben und in Umgebungen, die als „safer spaces“ geschaffen wurden, vorkommt – das wiederum ist eine wichtige Erkenntnis, wenn es um die Awareness-Arbeit auf Festivals geht. Die Durchführung der Studien sei die erste Phase des Projekts gewesen, sagt Paulos. „Jetzt versuchen wir mit bestimmten Angeboten auf die Ergebnisse einzugehen.“

Ein sichereres Party-Umfeld schaffen

Auch wenn Awareness in Luxemburg erst noch ein Teil der Fest(ival)-Kultur werden muss, sind die Dienste von „Pipapo“ gefragt. „Wir erhalten mehr Anfragen, als wir bearbeiten können“, sagt Loverre. „Usina24 und die Francofolies fanden an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden statt, das war sportlich.“ Trotz der begrenzten Ressourcen der Initiative träumt Paulos von der Einführung einer „Safer Night“-Charta – was sie konkret enthalten würde, ist jedoch noch nicht entschieden. „Wir verfügen über verschiedene Modelle, die wir mit den betroffenen Partnern besprechen müssen.“ Gemeint seien zum Beispiel Gemeinden, Organisator*innen und Akteure im Gastronomie-Bereich, führt Paulos aus. Awareness und Inklusion im Veranstaltungsbereich seien ein transversales Thema, von dem auch mehrere Ministerien betroffen seien, nämlich das Gesundheitsministerium, das Kulturministerium, das Bildungsministerium und das Gleichstellungsministerium. „Jeder könnte prinzipiell nach seinen Kompetenzen und Möglichkeiten etwas beitragen“, erklärt Paulos.

„Pipapo“ bereitet sich jetzt erst einmal auf das anstehende E-Lake-Festival vor, das vom 9. bis 11. August stattfinden wird. Während diesen Tagen wird auch wieder ein Awareness-Team vor Ort sein. „Um den Spaß von jedem auf dem Event zu garantieren“, betont Loverre. „und zwar im Respekt vor den eigenen Grenzen und jenen der anderen.“

1 Das Zitat wurde dem online abrufbaren „Leitfaden zur Erstellung eines Awareness-Konzepts“ entnommen, der von Verantwortlichen des SNNTG-Festivals und des Appletree-Garden-Festivals ausgearbeitet wurde. Das SNNTG-Festival gilt laut der „Awareness Akademie“ und dem Verein „Act Aware“ als besonders vorbildlich, was Awareness angeht.

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