Backcover: Alltagsabsurditäten II

Bereits im November 2021 waren auf der Rückseite der woxx „Alltagsabsurditäten“ zu sehen, jetzt folgt die Fortsetzung. Ein persönlicher Bericht über die Hintergründe der kuriosen Aufnahmen.

Ein Defibrillator trägt zur Sicherheit der Mitarbeiter*innen und der Fahrgäste bei, während der modrigen Birne nur der Komposthaufen bleibt … (Fotos: Isabel Spigarelli)

Alles begann mit einem Keks im Baumarkt. Damals lebte ich in Frankfurt am Main, wohin ich zum Studium aus einem Kaff im Süden Luxemburgs gezogen war. An einem Frühlingsnachmittag folgte ich einer Freundin in den Baumarkt. Wonach wir suchten, habe ich vergessen, doch nicht, was ich fand: Zwischen den Regalen, auf einem Stapel auseinandergefalteter Pappkartons, lag ein angebissener Keks. Nur einer der vier Ecken fehlte ein kleines Stück. Ein Keks war das Letzte, was ich in einem Baumarkt erwartet hatte. Gleichzeitig fühlte ich mich dem Gebäck in der muffigen Halle nahe: Ich war angefressen, weil ich hessischen Baumärkten nicht mehr abgewinnen konnte als den luxemburgischen. Warum ich trotzdem mitgefahren war? Vermutlich war mir ein Kaffee im Anschluss versprochen worden, ich weiß es nicht mehr. Ich kramte jedenfalls mein Handy aus der Hosentasche und schoss ein Foto, gleich aus mehreren Winkeln. Meine Freundin stand neben mir. „Absurd, oder?“, sagte ich und deutete auf das Gebäck. Ich erinnere mich nicht an ihre Antwort, doch ich denke oft an den Keks. Nicht, weil ich ein Herz für angebrochene Kekse habe. Vielmehr trat ich durch dieses Fundstück in einen besonderen Dialog mit der Stadt, mit der ich ohnehin eine geheime Sprache teilte.

Peng und Lampenschirme

Zu jener Zeit war ich Peng auf der Spur: Peng bereichert Frankfurt mit verspielten Strichmännchen und Tierbildern auf Stickern, aber auch mit aufwendigen Wandmalereien und kryptischen Zitaten in krakeliger Schrift. Sie kleben und verstecken sich oft an den dreckigen, bemoosten Ecken von Häuserwänden, manchmal an Elektrokästen fernab des Stadtzentrums oder an Laternenpfosten. Heute hat Peng einen eigenen Instagram-Kanal, Menschen lassen sich die Motive tätowieren. Damals war ich es, die vielen meiner Kommiliton*innen Peng näherbrachte. Noch heute blinkt mein Handy auf, wenn eine*r von ihnen Werke von Peng in Frankfurt entdeckt. „Habe einen Peng gesehen und musste an dich denken“, heißt es dann. Entfachte Peng meine Leidenschaft für Straßenkunst, die nicht nach Auftragsarbeit riecht, schärfte der Keks meinen Blick für Kuriositäten. Ich begann mehr zu fotografieren, als Streetart, die meiner Begleitung nur auffiel, weil sie peinlich berührt neben mir stand, während ich mich verrenkte, um sie auf einem verpixelten Handyfoto festzuhalten. Immerhin lebt die wahre Straßenkunst von ihrer Vergänglichkeit – schon in den nächsten Stunden hätte jemand Pengs Aufkleber übermalen oder abreißen können. Und genauso ephemer waren meine anderen Entdeckungen: ein Straßenschild mit Lampenschirm; ein Ergometer, angekettet an einem Fahrradständer; ein Flamingo-Schwimmreifen, der an einem regnerischen Morgen am Eisernen Steg kopfüber von einem Brückenpfeiler hing. Ich suchte nicht nach diesen Motiven, sie boten sich mir unerwartet an, nie half ich nach. An vielen Tagen ist die Realität absurd genug.

Ich kann mich darüber amüsieren, wenn auf einem Defibrillator in der U-Bahnstation eine modrige Birne liegt, für die jede Hilfe zu spät kommt. Ich lache, werde aber auch nachdenklich, wenn ich in einem Blumenbeet zwischen vertrocknetem Gestrüpp zwei aufgerissene Plastikfolien eines Duftbaums sehe, auf denen steht: „Wunderbaum“. Wollen wir so das Klima und die Umwelt retten, mit Wunderbäumchen aus der Plastikfolie? Einen Versuch ist es wert … Für mich erzählt jedes Fundstück eine unausgesprochene Geschichte, in manchen liegt ein Stück Wahrheit; andere bringen Licht in einen doch viel zu häufig eintönigen Alltag. Wahrscheinlich sind es am Ende oft dieselben Menschen, die unerwünschtes Graffiti von Häuserwänden entfernen, die auch diese kuriosen Konstellationen auseinandernehmen und Dreck entfernen müssen, aus dem sich eine interessante Narrative spinnen ließe.

Der Keks machte den Anfang: Mit dieser Aufnahme aus dem Jahr 2016 begann mein zunächst privates Fotoprojekt „Alltagsabsurditäten“.

Im November 2021 habe ich auf der Rückseite der woxx ausgewählte Aufnahmen aus den Frankfurter Jahren unter dem Titel „Alltagsabsurditäten“ geteilt, jetzt sind ausschließlich Fotos aus Luxemburg an der Reihe. Eins vorneweg: Luxemburg hat bisher weniger zu bieten als Frankfurt. Liegt das daran, dass das eigene Geburtsland weniger Neugier weckt als eine fremde Stadt? Oder ist Luxemburgs öffentlicher Raum öde? Beides trifft zu, denke ich. Durch Großstädte wie Frankfurt geistern täglich Millionen kreativer Köpfe, hungrige Student*innen und Finanzhaie. Ein Großteil läuft zu Fuß durch die Nebengassen und Hauptstraßen, anders als in Luxemburg, wo viele in Blechkästen auf der Autobahn bis zur nächsten Ausfahrt anstehen. Auch ich bewege mich hierzulande weniger und halte mich seltener im öffentlichen Raum auf, als das in der Mainmetropole der Fall war. Wenn, dann lieber in dichten Wäldern mit Heng, meinem Hund, an der Leine. Trotzdem streckt mein heutiges Wohnviertel im Süden Luxemburgs (ja, es hat mich hierhin zurückgezogen …) die Hand nach mir aus, serviert mir Kuriositäten, die ich dankend annehme: Hier gibt es Mülltonnen mit Klodeckeln; einsame Treträder bei Sonnenuntergang; Türen, die nirgens hinführen, und nachhaltige Schrotthaufen.

Ich frage mich übrigens bis heute, wie der Keks im Baumarkt gelandet ist – und habe bisher zwei Theorien. Eine Szene: Schwitzende Eltern schieben einen Einkaufswagen mit plärrendem Kind und Tapetenkleister durch die Baumarktgänge. Das Kind schreit nach Schokolade, die Eltern haben aber nur die zuckerfreien Bio-Karottenkekse dabei, weswegen der Keks angebissen auf den Pappkartons landet. Oder war ich etwa einem Skandal auf der Spur? Den Mitarbeiter*innen des Baumarktes wurde von der Leitung jede Pause untersagt. Zu Mittag gab es für alle nur den einen Keks, weil der sich im Gehen essen lässt. Manchmal ließen die Mitarbeiter*innen den Keks auf den Pappkartons liegen, für die nächsten Kolleg*innen, die gestresst von der Sanitärabteilung zu den Topfpflanzen eilen mussten. 
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