Benjamin Clementine
: Die Genese einer 
Künstler-Persona

Benjamin Clementine ist eine singuläre Gestalt in der Musikwelt – zwischen Straßenmusik und großer Bühne entfaltet sich seine Welt die es nun in der Philharmonie zu entdecken gibt.

Einer wie kein anderer: Benjamin Clementine.

Den Künstler Benjamin Clementine umgibt eine eine Aura des Mysteriösen. Wenig Sicheres ist bekannt – aber die Geschichte seines Werdegangs ist derart filmtauglich dass sie unwirklich erscheint: Clementine wächst bei seiner Großmutter auf und verbringt nach ihrem Tod den Großteil seiner Jugend in Bibliotheken und am Klavier. Mit 16 reißt er aus, kauft sich mit 19 vom letzten Geld ein Ticket nach Paris, lebt und musiziert dort auf der Straße – und wird „entdeckt“. Auf einen Auftritt bei den Filmfestspielen in Cannes folgt seine Platte „At Least for Now“, für die er 2015 den Mercurypreis erhält, kurz danach spielt er sogar in der New Yorker Carnegie Hall …

So wie auf Youtube die Aufnahmen aus den Konzertsälen der Welt die Videos seiner Straßenmusik flankieren, so spielt er mit dem Bild des Tramps im sauberen Kontext der Hochkultur: Er agiert barfuß auf der Bühne, meistens mit einem übergroßen Mantel bekleidet. Dabei wirkt er aber nicht wie ein Punk, sondern wie eine erhabene Gestalt aus einer anderen Welt, die gerade auf der irdischen Bühne gelandet ist. Sein Klavierspiel: getrieben, hämmernd, repetitiv, ungewöhnlich, impulsiv, einfühlsam. Sein Gesang beginnt meist behutsam, wie nachdenklich vorgetragen, wechselt zu kehligem Sprechgesang und eindringlichem Aufheulen seines Organs – Jazz, Soul, Singer-Songwriter, Benjamin Clementine lässt sich schwer einordnen. Er schafft es, alleine mit seinem Klavier, eine Spannung von seltener Intensität aufzubauen. Es scheint, als könne sich das Mysteriöse, das ihn umgibt, allein durch das Auftreffen der Blicke und die auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit auflösen.

Das Album „At Least for Now“ legte den thematischen Schwerpunkt auf seine Selbstfindung, das Leben auf der Straße und beinhaltet noch poppigere, eingängigere Songs. Das im September 2017 erschienene neue Werk „I Tell a Fly“ wurde ursprünglich als Theaterstück geschrieben und zeigt dementsprechend ungewöhnliche Songstrukturen. Auch ist die opernhafte, schräge Theatralität von Clementines Auftreten hier stärker entwickelt. Die melancholisch geprägten Texte muten einerseits sehr persönlich an, der Künstler scheint sich ganz zu zeigen, direkt, intim. Andererseits jedoch wirkt er fremd, dem Raum seines Aufenthalts entrückt. Dieses Fremdsein und das kompromisslose Ausleben seines Ausdrucks spielt eine besondere Rolle auf seiner aktuellen Platte: Als hätte ihn die Welt entsprechend kategorisiert, trägt Clementines amerikanisches Visum die Personenkennzeichnung „Alien with extraordinary qualities“. Mit dieser Zeile beginnt der Song „Jupiter“.

Die neue Platte versucht außerdem, interessante Analogien zwischen persönlichen Erlebnissen und dem Weltgeschehen herzustellen; in dem Song „Aleppoville“ arbeitet er mit dem Vergleich der psychischen Folgen von Kriegserfahrung und Mobbing. Musikalisch oszilliert die Platte zwischen einem klassisch anmutendem und einem avantgardistischem Ansatz.

Die Faszination, die Clementine auslöst, grenzt an Sensationslust – wir können diesem Menschen ganz nahe sein, seine Besonderheit betrachten, als wäre er ein roher Diamant im Edel-Kaufhaus. Zugleich jedoch kontrastiert diese wie Ehrlichkeit anmutende Blöße mit der Undurchdringlichkeit seiner Person. Liegt dies daran, dass Clementines Werdegang nach einem modernen Märchen klingt – in dem jemand durch seine absolute und ungeschliffene Authentizität auf die Bühnen der Welt gekommen ist? Provoziert sie unsere Ungläubigkeit gegenüber seiner kompromisslos erscheinenden Präsenz? Grenzt die Selbstdarstellung an Manierismus, ist sie gestellt, künstlich, allzu verlockend? Benjamin Clementine scheint in seiner Einzigartigkeit zu triumphieren. Vielleicht liegt es aber auch an seiner Bereitschaft, sich immer wieder auf das – undurchdringliche – Unbekannte einzulassen. Bestenfalls lädt uns diese Frage zur Kontemplation ein bei seinem Konzert in der Philharmonie am 27. November, begleitet von einem spannendem Auftritt, faszinierenden Liedern, Gesang und Klavierspiel.

Am 27. November in der Philharmonie.

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