Mit „The Stranger Song“ inszeniert das Theaterkollektiv „Independent Little Lies“ ein hochdynamisches Stück, das universelle Lebensfragen beleuchtet. Auf der Bühne stehen vor allem Laienschauspieler*innen.

Manche Mitglieder der „Biergerbühn“ beteiligen sich bereits seit Jahren am Projekt, andere sind erst vor wenigen Monaten hinzugestoßen. (Foto: Mike Zenari, ILL)
Sprache mündet in Stille, Gesang wird zu dissonanter Klangverwerfung, Synchronität schlägt in Tumult um, Ausdruckstanz verwandelt sich in Kampfsport – und jede dieser Mutationen, die Gegensätzliches miteinander verzahnen, ist ein Ausdruck für das Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaftsbildung und Vereinzelung, Beisammensein und Kontaktarmut, Begegnung und Entfremdung. Damit bedient sich das von dem Theaterkollektiv „Independent Little Lies“ (ILL) inszenierte Theaterstück „The Stranger Song“ aller Mittel und Möglichkeiten der darstellenden Kunst und vertraut genau dort der Ausdruckskraft des Körpers, wo das feine Kommunikationsinstrument der Sprache an seine Grenzen stößt.
Eine lineare Geschichte erzählt das Stück nicht. Es lösen sich auch keine einzelnen, genau voneinander abgrenzbaren Szenen ab. Damit durchbricht „The Stranger Song“ das gängige aristotelische Narrationsmuster, das auf der Dreiheit von Anfang, Mitte und Schluss fußt. Stattdessen werden Doppelungen, Spiegelungen und die Wiederaufnahme von Motiven eingeführt. Die 14 Schauspieler*innen imitieren einander, Bewegungsabläufe werden aneinander angeglichen, ein Kollektiv bildet sich aus. Und dann wieder nehmen die Darsteller*innen genau gegensätzliche Positionen ein. Nach dem im Improvisationstheater gängigen Prinzip von Aktion und Reaktion lassen sie Kontraste entstehen, die im nächsten Moment, durch einen bestimmten Wechsel wieder aufgelöst werden – so entwickelt sich zwischen ihnen ein dialektisches Verhältnis, das, seinem Prinzip folgend, auf eine permanente Weiterentwicklung hinausläuft.
So bildet sich im Wechselspiel von Abstoßung und Annäherung letztlich eine Gemeinschaft heraus – als roter Faden zieht sich das doppelgesichtige, die menschliche Identität akut betreffende Thema von Einsamkeit und Zugehörigkeit durch das Stück. Jemand wirft die Frage „Et vous, vous n’aimez pas la solitude?“ in den Raum und die Angesprochene antwortet prompt, dass es zwei Arten des Alleinseins gebe, eine gute und eine schlechte. Letztlich besitzt fast alles mindestens zwei Facetten – und sich in der Gesellschaft zurechtfinden, bedeutet auch, eine Toleranz gegenüber von Ambiguität aufzubauen.
Selbstreflexiv ist „The Stranger Song“ insofern, als dass die Bedingungen des Schauspielens reflektiert werden: die materiell-monetären, aber auch die kreativen, denn schließlich kommt diese so lebendige Kunst nicht ohne Fantasie und Spontaneität aus. Dabei überlassen die Darsteller*innen, die in dem Stück auftreten, längst nicht alles dem Zufall: Auch wenn Improvisation Teil ihrer Performance ist, scheinen Teile ihrer Schritt- und Bewegungsfolgen genau einstudiert. Das Ensemble, unverkrampft und souverän, lässt diese Sequenzen so natürlich wirken, dass sie an die Formationsflüge eines Schwarms erinnern. Eine besonders imponierende Leistung angesichts der Tatsache, dass es sich bei den Auftretenden vornehmlich um Laien und Laiinnen handelt.

Viele unterschiedlichen Techniken und Theaterformen finden Platz in „The Stranger Song“. (Foto: Mike Zenari, ILL)
„The Stranger Song“ fügt sich in das von ILL ins Leben gerufene Projekt „Biergerbühn“ ein. Dieses wurde 2017 für Kinder und Jugendliche geschaffen, seit 2021 können auch Erwachsene daran teilnehmen. Der Impuls für das aktuelle Stück geht unter anderem auf eine Gruppe von Geflüchteten zurück, die sich dem bestehenden Erwachsenen-Ensemble angeschlossen haben, wie man aus einer Broschüre erfährt. Die „Biergerbühn“ lebt von der Unterschiedlichkeit ihrer Mitglieder: Die Differenzen, was Alter und Nationalität, Sprache und kulturellen Hintergrund anbelangt, schaffen eine bemerkenswerte Heterogenität, die dem Kernthema des Stücks – Alleinsein und Verbundenheit – eine berührende Wahrhaftigkeit verleihen.
Die nächsten Aufführungen von „The Stranger Song“ werden am 31. Januar und am 1. Februar 2026 im „Grand Théâtre“ in Luxemburg-Stadt stattfinden. Mehr Informationen zur „Biergerbühn“ findet man auf: www.ill.lu.
Inszenierung und Konzeption: Elsa Rauchs und Claire Wagener
Begleitung und Produktion: Jill Christophe
Pädagogische Betreuung der Kinder: Gilles Seyler
Darsteller*innen: Loay Abbadi, Adnan Ajaj, Ali Alrajab Alabd Alhedi, Martine Berna, Karin Bintener, Frédérique Colling, Hadi Deaibes, Enrique Diaz Vallejos, Noah Diaz Catani, Giuliana Di Bernardo Lucius, Sylvie Ewen-Gindt, Sandra Forgiarini, Elias Fusco Dumet, Nicolas Hirsch, Sraboni Kar, Mohammed Kinbar, Florie Kuta, Laureena Mardini, Lena Martins Da Costa, Jérôme Michez, Xuan Nguyen, Loane Novou, Nior Paul, Juliette Simon, Nadine Wagner, Mohammed Wakkas…
Bühnenbild: Lisa Kohl, assistiert von Marko Mladjenovic
Kostüme: Michèle Tonteling
Gesangsbegleitung: Sarah Klenes
Choreografie: Anne Wirth
Videokonzeption: Anne Schiltz
Licht: Steve Demuth