Brasilien in der Pandemie: Bolsonaros schwerste Krise

Die brasilianische Opposition hat einen „Superantrag“ zur Amtsenthebung des Präsidenten Jair Bolsonaro eingereicht, bei Demonstrationen gegen seine Pandemiepolitik versammeln sich Zehntausende. Derweil feiert sein Vorgänger „Lula“ ein Comeback.

Der Präsident als Gevatter Tod: Diese Symbolik wird auf Demonstrationen gegen die Pandemie-Politik der brasilianischen Regierung zunehmend populär; hier Mitte Juni in Rio de Janeiro. (Foto: EPA-EFE/Andre Coelho)

Viele Demonstranten trugen Fotos mit sich, als sie auf die Straßen der Städte Brasiliens zogen. Lächelnde Menschen waren auf den Bildern zu sehen, einige älter, manche jung. Es waren Fotos von an Covid-19 verstorbenen Verwandten. In den vergangenen Wochen demonstrierten mehrfach Zehntausende gegen die Regierung. Die Botschaft war unmissverständlich: Unsere Geduld ist am Ende! Mehr als 544.000 Coronatote hat es bis Mitte dieser Woche in Brasilien gegeben. Krankenhäuser stehen vor dem Kollaps, die Impfkampagne verläuft schleppend: Die Pandemie hat das Land weiterhin fest im Griff. Viele machen die Regierung von Präsident Jair Bolsonaro für das Chaos verantwortlich.

Ein parlamentarischer Ausschuss untersucht seit zwei Monaten das Verhalten der Regierung in der Pandemie. Anfang Juni machte er brisante Vorwürfe öffentlich: Bolsonaro soll von Korruptionsversuchen bei der Beschaffung des indischen Impfstoffs Covaxin gewusst und nichts dagegen unternommen haben. Bisher hat der ultrarechte Staatschef viele Skandale gut überstanden. Die jüngsten Korruptionsvorwürfe wiegen jedoch schwer. Sie kratzen am Image des Saubermanns und rastlosen Kämpfers gegen Korruption. „Das Versprechen, die Korruption zu beenden, war der wichtigste Grund für Bolsonaros Wahlsieg im Jahr 2018. Deshalb wird ihm der Skandal definitiv schaden“, sagt Thomas Traumann, ein politischer Analyst und ehemaliger Kommunikationsminister unter Dilma Rousseff, der woxx. Der Oberste Gerichtshof hat Ermittlungen gegen Bolsonaro eingeleitet.

Die brasilianische Opposition hat derweil alle 120 bisher eingereichten Amtsenthebungsanträge gegen Bolsonaro gebündelt und einen „Superantrag“ eingereicht. Neben linken Politikerinnen und Politikern haben auch rechte Abgeordnete und ehemalige Verbündete Bolsonaros den Antrag unterzeichnet. Dem Präsidenten werden schwere Verfehlungen im Umgang mit der Pandemie vorgeworfen, die eine Amtsenthebung rechtfertigen könnten. Doch es ist unwahrscheinlich, dass es so weit kommt. Über die Aufnahme des Verfahrens entscheidet der Präsident des Abgeordnetenhauses, ein Verbündeter Bolsonaros. Und im Parlament genießt der Rechtsextreme bisher noch die Unterstützung des centrão, des einflussreichen Mitte-Rechts-Blocks.

Dennoch: Bolsonaro durchlebt derzeit die schwerste Krise seit seinem Amtsantritt am 1. Januar 2019. Die sozialen Auswirkungen der Wirtschaftskrise machen sich immer stärker im Alltag bemerkbar, die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordniveau. Zudem ging die kurzfristige Ausrichtung des kontinentalen Fußballturniers Copa América in Brasilien für Bolsonaro nach hinten los, die Mehrheit im Land betrachtete sie kritisch. Im Finale um die Südamerika-Meisterschaft zwischen Brasilien und Argentinien unterstützten viele Brasilianerinnen und Brasilianer ganz offen den Erzrivalen – deutlicher kann sich Unzufriedenheit in dem fußballbegeisterten Land wohl nicht ausdrücken.

Durch ausgebliebenen Regen sinken derzeit die Pegel der Flüsse, weswegen vielen Regionen eine schwere Energiekrise droht. Etwa drei Viertel der Elektrizität werden mit Wasserkraft erzeugt, es könnte schon bald zu Stromrationierungen kommen. Das könnte neue Proteste anfachen.

Lulas Ziel ist klar: ein breites Bündnis gegen Bolsonaro schmieden. Ob ihm das gelingen wird, darf jedoch bezweifelt werden.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Zustimmungswerte des ultrarechten Präsidenten zuletzt abgestürzt sind und er in den Umfragen für die Präsidentschaftswahl 2022 weit hinter einem Mann liegt, der ein spektakuläres politisches Comeback gefeiert hat: Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Nachdem alle gegen den ehemaligen Präsidenten verhängten Urteile im März annulliert worden waren, hat der Sozialdemokrat mit der Kratzstimme die Wahl 2022 fest im Auge.

Kaum jemand zweifelt daran, dass Lula dann antreten wird. In den vergangenen Wochen traf er sich sowohl mit Vertretern von sozialen Bewegungen und linken Verbündeten als auch mit Militärangehörigen, Evangelikalen und konservativen Politikerinnen und Politikern. Das Ziel ist klar: ein breites Bündnis gegen Bolsonaro schmieden. Ob ihm das gelingen wird, darf jedoch bezweifelt werden.

Der Hass auf Lulas Arbeiterpartei PT ist nach spektakulären Korruptionsskandalen und einer rechten Medienkampagne immer noch weit verbreitet in der brasilianischen Gesellschaft. Zwar haben sich viele Konservative mit Bolsonaro überworfen, doch für die bürgerliche Führungsschicht sind Lula und die Linke insgesamt eigentlich inakzeptabel. Davon könnte Bolsonaro profitieren.

Die außerparlamentarische Linke wirkte lange Zeit wie paralysiert und trat kaum mehr in Erscheinung. Das lag auch daran, dass wegen der dramatischen Infektionszahlen Proteste kaum möglich waren. Nun aber scheint der Widerstand gegen Bolsonaro an Breite und Dynamik zu gewinnen. Hitzig diskutieren Linke darüber, ob man gemeinsam mit konservativen und rechten Bolsonaro-Gegnern demonstrieren solle. In São Paulo ließen sich auf einer Demonstration einige Konservative blicken, es kam zu Rangeleien mit Linken. Die Gräben sind tief und die Gesellschaft ist extrem polarisiert. Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass es gelingen wird, sozusagen an der Basis eine breite Protestallianz gegen Bolsonaro zu schmieden.

Wie geht es weiter in Brasilien? Nicht wenige meinen, dass Bolsonaro in der Coronakrise zu viel Vertrauen verspielt hat, und sagen ihm eine Abwahl voraus. Allerdings wäre es voreilig, sich dessen allzu sicher zu sein. Bis zur Wahl im Oktober des kommenden Jahres kann noch viel passieren, auch hing das Wahlverhalten in Brasilien in der Vergangenheit häufig stark von Entwicklungen kurz vor dem Wahltag ab. „Im kommenden Jahr wird die Wirtschaft wieder wachsen. Außerdem wird es ein neues Sozialprogramm geben, durch das arme Menschen ein bisschen mehr Geld in der Tasche haben werden“, sagt Thomas Traumann. „Bolsonaro wird sich schnell erholen können. Deshalb muss mit ihm auf jeden Fall bei der nächsten Wahl gerechnet werden.“

Seine Stammwähler, rund 24 Prozent der Bevölkerung, stehen ihm ohnehin treu zur Seite. Viele verehren ihn wie einen Gott – nicht trotz, sondern wegen seiner ungehobelten Art, der ständigen Ausfälle und der Hetze. In den vergangenen Wochen fanden Motorradrallyes statt, wo Bolsonaro, umringt von seinen Fans, durch die großen Städte düste. Mit solch machohaften Auftritten versucht er, Stärke zu demonstrieren und seine Anhänger und Anhängerinnen bei Laune zu halten.

Dass Bolsonaro jede Gelegenheit zu einer Inszenierung nutzt, bewies er auch Mitte voriger Woche, als er in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, weil er seit Tagen an anhaltendem Schluckauf und starken Bauchschmerzen litt. Diagnostiziert wurde ein Darmverschluss. Wie im Wahlkampf 2018, als Bolsonaro von einem geistig verwirrten Mann niedergestochen worden war, ließ Brasiliens Präsident auch diesmal Fotos vom Krankenbett in den sozialen Medien posten und betonte, der damalige Attentäter habe der Partei für den Sozialismus und der Freiheit (PSOL) angehört.

Im krisengeplagten Brasilien versteht es Bolsonaro wie kein Zweiter, Ängste zu entfachen. Mit einer populistischen Medienstrategie, infamen Attacken auf Minderheiten und den bisweilen paranoid anmutenden Warnrufen vor einer kommunistischen Gender-Diktatur könnte er es erneut schaffen, willige Anhänger um sich zu scharen. Auch im Wahlkampf von 2018 fanden seine homophoben und rassistischen Äußerungen viel Anklang. Statt über Inhalte diskutierte das Land damals wochenlang darüber, ob Bolsonaros Gegenkandidat Babyfläschchen in Penisform an Kitas verteilen ließ.

Ähnlich wie sein Idol Donald Trump versteht es Bolsonaro, permanent Unruhe zu stiften. Fast täglich wettert er gegen das elektronische Wahlsystem und sagt, er werde die Wahlergebnisse nicht akzeptieren. Das wird von vielen als Drohung verstanden, sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten.

Könnte in Brasilien im Falle einer Niederlage Bolsonaros ein Putsch drohen? Die Einschätzungen gehen weit auseinander. Der Kongress und der Oberste Gerichtshof pfeifen Bolsonaro regelmäßig zurück, viele betrachten die demokratischen Institutionen als stabil. Allerdings hat Bolsonaro gezielt seinen Einfluss in der Polizei und im Militär ausgebaut. Der Politikexperte Traumann meint: „Der Staatsapparat steht komplett auf seiner Seite, und das wird Bolsonaro sicherlich zu nutzen wissen.“

Niklas Franzen arbeitet als Journalist und lebt in São Paulo.

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