Die Berliner Osteuropa- und Autoritarismusforscherin Gwendolyn Sasse hat eine gelungene Übersicht über den russischen Krieg gegen die Ukraine und dessen Hintergründe vorgelegt.
Zehn Monate nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine wächst die Zahl der Bücher, die über die Ursachen des Krieges aufklären wollen, deutlich an. Ein Buch aus der auf mittlerweile über sechshundert Bände angewachsenen Erklär- und Einführungsreihe „C.H. Beck Wissen“ sticht da unter all den meinungsstarken, umfassende Analyse versprechenden Titeln eher nicht hervor. Viel zu zurückhaltend sind die schmalen, an jedem besseren Bahnhofskiosk erhältlichen und auf die Lektüre während einer längeren Zugfahrt zugeschnittenen Büchlein konzipiert, mit denen man sich vom Urknall über die Völkerwanderung bis zur Roten Armee Fraktion über so gut wie jedes naturwissenschaftliche, historische und gesellschaftliche Phänomen informieren kann.
Dennoch hat der Band „Der Krieg gegen die Ukraine – Hintergründe, Ereignisse, Folgen“ es nicht verdient, dass man ihn zwischen den offensiver vermarkteten Titeln zum selben Thema übersieht. Gerade dank seines verhältnismäßig knappen Umfangs von 128 Seiten ist er nicht nur als Einführung, sondern auch als Erinnerungshilfe und Nachschlagewerk zu den zentralen Aspekten geeignet, die zum Ausbruch des Krieges beitrugen, den Russland seit 2014 gegen die Ukraine führt. Der Autorin Gwendolyn Sasse, die in Berlin das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien leitet und zugleich als Professorin für „vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung“ an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig ist, gelingt der Spagat, sachlich und zurückhaltend zu informieren, ohne dabei ihre politische Sicht auf die dargestellten Sachverhalte zu unterschlagen.
Betitelt mit der Frage „Warum dieser Krieg? Warum jetzt“, kommt natürlich bereits das erste Kapitel nicht ohne eine Gewichtung der verschiedenen Gründe aus. Als Ursache identifiziert Sasse zuvörderst die zunehmend autokratisch regierte Russische Föderation im Wechselspiel mit einer allmählichen Demokratisierung und Westorientierung der Ukraine. Diese unterlaufe damit nicht allein den regionalen und globalen russischen Machtanspruch, sondern könne auch „für die russische Gesellschaft oder die Eliten zu einem Kristallisationspunkt für Hoffnungen und Erwartungen werden, die das existierende russische Staatsmodell von innen in Frage stellen“. Russland zielt mit dem Krieg gegen die Ukraine laut Sasse also in erster Linie auf „autoritären Sys-temerhalt samt seiner neo-imperialen Machtprojektion“.
Der Zerfall der Sowjetunion ging wesentlich weniger gewaltarm vonstatten als häufig kolportiert, wie die Autorin ins Gedächtnis ruft.
Die Frage, inwieweit die Nato-Osterweiterung als Kriegsgrund eine Rolle spielt, wird ebenfalls gleich zu Beginn aufgeworfen. Die immer noch recht gängige Behauptung, die Nato-Mitgliedstaaten hätten im Gegenzug für eine sowjetische Einwilligung in die deutsche Wiedervereinigung versichert, das Militärbündnis nicht nach Osten hin auszuweiten, handelt die Wissenschaftlerin gemäß der tatsächlichen Faktenlage kurz und bündig ab: „Es gab keine verbindliche schriftliche Vereinbarung, aber einige der politischen und diplomatischen Akteure äußerten sich damals in diese Richtung gegenüber ihren sowjetischen Gesprächspartnern.“
Nicht zuletzt von Russland selbst wird dies heutzutage als „Verrat des Westens“ interpretiert. So sagt Wladimir Polenow, ein in Sasses Buch nicht zitierter Teilnehmer der Konferenz von 1990, es sei „ein großer Fehler“ gewesen, dass man „diese Zusicherungen gegenüber der Sowjetunion […] nicht schriftlich festgehalten hat“. Damit gesteht Polenow aber zugleich ein, dass man von sowjetischer Seite eine unterzeichnete Vereinbarung hierüber offenbar auch gar nicht für notwendig gehalten hat. Sasses Ausführungen machen deutlich, warum dies so war: „Letztendlich überstieg die Möglichkeit einer Nato-Osterweiterung den damaligen Vorstellungshorizont aller an den Verhandlungen Beteiligten, die noch nicht vom Zerfall des Warschauer Paktes und der Sowjetunion ausgingen.“
Als der Zerfall dann begann, ging er wesentlich weniger gewaltarm vonstatten als häufig kolportiert, wie die Autorin ins Gedächtnis ruft. Dem grausamen ersten Tschetschenienkrieg 1994 gingen weitere bewaffnete Konflikte mit vielen Tausend Toten voraus; für einige ehemalige Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes ein wichtiger Grund, sich in unsicheren Zeiten in Richtung Nato zu orientieren.
Erst nachdem die Autorin so das Feld abgesteckt hat, kommt sie auf den jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrund der angegriffenen Ukraine und des Aggressors Russland zurück. Knapp stellt sie einige historische Aspekte der ukrainischen Nationwerdung dar, um dann die Entwicklung der beiden Länder nach dem Ende der Sowjetunion zu skizzieren. Vieles bleibt dabei aufgrund des knappen Umfangs ungesagt, aber es gelingt der Autorin, die zum Teil großen Unterschiede in der jeweiligen gesellschaftlichen Dynamik zumindest anzudeuten.
Über die Ukraine schreibt sie etwa, diese „oszillierte zwischen 1991 und 2013 auf der Skala politischer Systeme zwischen einer nicht konsolidierten Demokratie und Ausprägungen des Semi-Autoritarismus“. Bereits unter Präsident Leonid Kutschma (1994-2004) habe sich das System immer mehr einem „kompetitiven Autoritarismus“ angenähert, der Elemente demokratischer Gesellschaften kopiert, um sie für den eigenen Machterhalt einzusetzen. Daraufhin entwickelte sich in der Ukraine jedoch eine gesellschaftliche Dynamik, die von den „Ukraine ohne Kutschma“-Protesten Ende 2000 über die erfolgreiche „Orangene Revolution“ gegen den von Kutschma auserwählten und von Russland unterstützten Präsidentschaftskandidaten Wiktor Janukowitsch 2004 bis zum sogenannten „Euromaidan“ von 2014 führt.
Auf wenigen Seiten legt Gwendolyn Sasse dar, wie sehr zu kurz es griffe, diese letzte Protestbewegung allein als Reaktion auf die von Janukowitsch (seit 2010 nun tatsächlich demokratisch gewählter Präsident) verweigerte Unterschrift unter ein lange vorbereitetes EU-Assoziierungsabkommen oder gar als Folge „westlicher“ Einflussnahme zu deuten. Die Unzufriedenheit war viel tiefgreifender, wie die Autorin zeigt, und die Korruption unter Janukowitsch spielte eine große Rolle dabei. Doch in der russischen „Staatsrhetorik“ begann mit dem Euromaidan „die Fokussierung auf das angeblich faschistische, illegal zur Macht gekommene Regime in Kiew, das es zu bekämpfen gilt“.
Interessant ist ferner die Darstellung, wie es nach der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 gelang, die multi-ethnisch strukturierte Krim politisch zu integrieren und das bestehende Konfliktpotenzial zu entschärfen. Auch die Auffassung einer weitgehenden Zweiteilung des Landes zwischen West und Ost wird nachvollziehbar relativiert, indem gezeigt wird, dass die bestehenden Konflikte und widersprechenden Interessen diffuser strukturiert sind. Ethnische Identität und Sprachpraxis spielen dabei eine viel geringere Rolle als oftmals behauptet.
Wichtig erscheint auch die Bedeutung, die laut der Wissenschaftlerin dem Konzept der Staatsbürgerschaft in der Ukraine zukommt, mit dem ein inklusives Verständnis von Gesellschaft transportiert wird und das eine verengte Wahrnehmung von ukrainischer Identität transzendiert. Inwiefern diese Tendenz in Kriegszeiten bewahrt werden kann, wird sich zeigen. Daran erinnert Sasse auch auf den letzten Seiten ihres Buches, die den möglichen Folgen des Krieges gewidmet sind. Der Entschluss vieler zivilgesellschaftlicher ukrainischer Akteur*innen, sich in der Landesverteidigung zu engagieren, sei es in den territorialen Verteidigungseinheiten oder auch in der Armee, habe den bestehenden zivilgesellschaftlichen Strukturen ebenso sehr Ressourcen entzogen wie die Flucht von Menschen ins Ausland oder innerhalb der Ukraine.
Die Stärke des Buches ist es, ein Bewusstsein für die Komplexität des Themas und die damit verbundenen Probleme und Widersprüche zu schaffen.
Relativ knapp handelt die Autorin die Entwicklung Russlands hin zu Autoritarismus und „(Neo-)Imperialismus“ ab. Über etwaige zivilgesellschaftliche Strukturen und Protestpotenzial erfährt man hier nicht viel; die Darstellung ist hauptsächlich dem von Präsident Wladimir Putin geschaffenen Machtgefüge gewidmet. Sasse betont jedoch die umfassende Repression auf allen Ebenen, die Opposition erschwert und im Zusammenspiel mit der staatlichen Propaganda zu einer zunehmenden „Demobilisierung der Gesellschaft“ führe.
Ungefähr ein Drittel des Buches ist der Rückschau auf die zentralen Ereignisse des russischen Krieges gegen die Ukraine gewidmet. Dieser begann eben nicht mit der Invasion am 24. Februar 2022, sondern mit der Annexion der Krim am 27. Februar 2014 und den Kampfhandlungen im Donbas wenige Wochen später. Hier schließt die Autorin manche Gedächtnislücke. So erinnert sie beispielsweise daran, dass die Ukraine auf eine militärische Reaktion verzichtete, als russische Sondereinheiten ohne Hoheitsabzeichen strategische Punkte der Halbinsel unter ihre Kontrolle brachten. Erwähnt wird auch der Pferdefuß, den das von Deutschland und Frankreich 2015 ausgehandelte Minsker Abkommen für die Ukraine hatte: Es sollte lediglich den Konflikt zwischen der Ukraine und den in der Ostukraine kämpfenden Separatisten befrieden; Russland dagegen wird gar nicht als Kriegspartei definiert.
Die Stärke des Buches ist es, ein Bewusstsein für die Komplexität des Themas und die damit verbundenen Probleme und Widersprüche zu schaffen. Das macht die Auseinandersetzung damit attraktiv und regt an, in Büchern und Artikeln zum jeweiligen Thema weiterzulesen. Außerdem liefert es eine gute Übersicht über die Hintergründe zu aktuellen Entwicklungen, was diese einzuordnen hilft. Eindeutig ist es dort, wo es um die Analyse des russischen Herrschaftssystems und dessen Verantwortung für das mit dem Krieg gebrachte Leid geht.
Gwendolyn Sasse legt viel Wert darauf, die Ursachen dafür nicht allein bei Wladimir Putin zu suchen. Zugleich betont sie, wie zentral er als Instanz in dem von ihm geschaffenen System geworden ist: „Putin allein fällt die wichtigen Entscheidungen, allen voran die Entscheidung über den Krieg.“ Wiederholt bezeichnet sie ihn als „Katalysator“. Schuldig bleibt sie letztlich eine Begründung, weshalb seine Politik, wie von ihr bezeichnet, als „(neo-)imperialistisch“ zu begreifen sei. Während sie einerseits meint, Putin wolle mit Russlands „Rückkehr zu alter Größe“ in die Geschichte eingehen, konstatiert sie zugleich, dass alles in seinem System immer mehr „auf den Selbsterhalt ausgerichtet worden“ sei. Dies jedoch lässt ihn selbst als unter hohem Handlungsdruck stehend erscheinen: „Die Bereitschaft, für diesen Systemerhalt Krieg zu führen, unterstreicht das Ausmaß und die Dringlichkeit der Gefahr, die von der Ukraine für Russland ausging.“
Wenn Putins Kriegsziel aber tatsächlich in erster Linie ist, die Ukraine als ein „politisches und gesellschaftliches Gegenmodell“ zu zerstören, erscheint es zumindest fraglich, dies als „imperialistisch“ zu bezeichnen. Indem man die russische Propaganda für bare Münze nimmt, droht man die Position der Schwäche, aus der heraus das System Putin agiert, zu übertünchen, was diesem letztlich in die Hände spielt.
Das Paradoxe sei, dass mit Putins Entscheidung zur Eskalation des Krieges im Februar 2022 „die Risiken für sein System“ größer, nicht kleiner geworden seien, wie Sasse schreibt. Vielleicht gründet dieses Paradox bereits darin, dass das System gerade aufgrund seines instabilen Charakters permanent eskalieren muss, um seinen Fortbestand zumindest auf kurze Frist zu garantieren. Weniger gefährlich – und weniger zerstörerisch – wird es dadurch nicht.