Corona: Trügerisches Paradies für Introvertierte

Auf den ersten Blick scheinen Introvertierte die Corona-Krise und die damit einhergehenden Ausgangsbeschränkungen besser zu meistern als Extravertierte. Doch dieser Auffassung liegen weitverbreitete Missverständnisse über Introversion zugrunde.

Alleine mit der Katze auf dem Sofa sitzen? Während viele Menschen sich nach mehr Sozialleben sehnen, können andere nur dann ihre Batterien aufladen, wenn sie alleine sind. (Foto: Pixabay)

Als sich im Frühjahr nach und nach die ganze Welt in den Lockdown begab, begannen in den sozialen Netzwerken zahlreiche Memes zu kursieren, in denen darüber gewitzelt wurde, dass jetzt endlich die Stunde für Introvertierte geschlagen habe. Wie Susan Cain in ihrem Buch „Quiet – The Power of Introverts in a World That Can’t Stop Talking“ – das sich seit seiner Veröffentlichung im Jahre 2012 zu einem der einflussreichsten populärwissenschaftlichen Werke zum Thema Introversion entwickelt hat –, schreibt, stellte in westlichen Gesellschaften nämlich Extraversion bislang das „kulturelle Ideal“ dar. Ständig unter Menschen zu sein, möglichst viele Kontakte zu knüpfen und an einem sozialen Event nach dem anderen teilzunehmen – was in Kombination mit dem Aufkommen von sozialen Medien zu Phänomenen wie „FOMO“ (fear of missing out) geführt hat –, war die erwünschte Norm. Mal freitags alleine zuhause bleiben zu wollen, stellte dagegen bestenfalls eine unverständliche Abweichung dar, schlimmstenfalls ein Zeichen für einen persönlichen Defizit, dem man mit allen Mitteln entgegenwirken musste.

Während des Lockdowns schlug diese Auffassung jedoch um. Aus dem Absagen von Verabredungen wurde plötzlich ein lebensrettender Akt, und das von Introvertierten so hoch geschätzte Zuhausebleiben wurde nicht zuletzt im Zuge der #StayTheFuckHome-Bewegung zu so etwas wie einem kategorischen Imperativ erhoben. Auch die Tatsache, dass seit der Corona-Pandemie vermehrt auf Homeoffice gesetzt wird, scheint darauf hinzudeuten, dass Introvertierte die derzeitigen gesellschaftlichen Umwälzungen besser verkraften – und sogar dabei florieren können.

Introversion ist keine Kontaktscheu

Setzt man sich einmal genauer mit der Thematik auseinander, erhält das Bild von der Corona-Pandemie als Paradies für Introvertierte jedoch schnell Risse. Die Auffassung, dass letztere es angesichts weitreichender Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen leichter hätten als Extravertierte, hängt nämlich maßgeblich mit leider nach wie vor weitverbreiteten Fehlannahmen darüber zusammen, was es eigentlich bedeutet, introvertiert oder extravertiert zu sein. Obwohl beide Charakterzüge mittlerweile gut erforscht sind, wird Introversion noch allzu oft mit Schüchternheit, Sozialphobie oder sogar Misanthropie verwechselt. Im Juni erst veröffentlichte etwa der freie Autor Magnus Klaue auf Zeit Online einen besonders irreführenden Artikel namens „Null Bock auf Menschen“, in dem er Introversion nicht nur mit „Schüchternheit“ und „Kontaktscheu“ gleichsetzt, sondern auch behauptet, dass Introvertierte angesichts der Schließung von Cafés, Bars und Kinos während des Lockdowns „unverhohlene […] Freude“ verspürt hätten und „der Hype um die Introvertierten […] in Wahrheit die Verherrlichung einer gesellschaftskompatiblen Asozialität [betreibt].“

Ganz abgesehen vom problematischen Gebrauch des vom nationalsozialistischen Regime etablierten Begriffs der „Asozialität“ hat Introversion jedoch schon von vornherein überhaupt nichts mit dem persönlichen Grad an Soziabilität oder Menschenliebe zu tun. Die erstmals 1921 vom Begründer der analytischen Psychotherapie Carl Gustav Jung eingeführte Unterscheidung zwischen Introversion und Extraversion beschreibt nämlich eigentlich nur, woher Menschen ihre Energie nehmen, um die Anstrengungen des alltäglichen Lebens zu meistern. Während Extravertierte sich in soziale Interaktionen stürzen, um ihre Batterien wieder aufzuladen, brauchen Introvertierte eher Zeit für sich selbst.

Introversion ist also weder eine mentale Krankheit wie etwa Sozialphobie, die therapiert werden kann, noch eine bewusst gewählte Weltanschauung. Stattdessen handelt es sich bei ihr um ein ganz gewöhnliches Persönlichkeitsmerkmal, das auf 30 bis 50 Prozent der Gesellschaft zutrifft. Dem neuesten Forschungsstand nach ist Introversion hierbei auch auf physiologischer Ebene nachweisbar. So kam etwa eine neurowissenschaftliche Studie der University of Iowa zum Schluss, dass die Gehirne von introvertierten Menschen bereits von Grund auf stärker stimuliert sind als die von Extravertierten, sodass sie weniger externe Reize suchen müssen. Daher ist es auch wenig überraschend, dass viele Introvertierte als hochsensibel gelten. Wichtig anzumerken ist auch, dass man nicht entweder introvertiert oder extravertiert ist, sondern sich stets irgendwo auf dem Spektrum zwischen beiden Polen einordnet. Insofern gibt es Introvertierte, die deutlich mehr Zeit auf Partys verbringen können als andere. Genauso kann man auch Extravertierte antreffen, die eher Stille suchen als andere Menschen mit dem gleichen Persönlichkeitsmerkmal.

Weniger Rückzugsmöglichkeiten

Genau wie alle anderen Menschen auch haben Introvertierte ein grundlegendes Bedürfnis nach menschlicher Nähe, selbst wenn es weniger ausgeprägt ist als bei Extravertierten. Insofern mögen Introvertierte zwar vielleicht eher als Extravertierte wissen, wie sie ihre Freizeit verbringen können, wenn Ausgangsbeschränkungen vorherrschen – doch letzten Endes leiden auch sie darunter, über längere Zeit hinweg Freund*innen und Bekannte nicht sehen zu können.

Paradoxerweise ereignete sich insbesondere während des Lockdowns aber auch das genaue Gegenteil. Dadurch nämlich, dass viele Introvertierte auf einmal für mehrere Monate am Stück und rund um die Uhr mit WG-Mitgliedern oder Familie in den eigenen vier Wänden eingepfercht wurden, verkleinerten sich nicht nur ihre dringend benötigten Rückzugsmöglichkeiten, sondern sie sahen sich auch mit einem ungewöhnlich hohen Maß an sozialer Interaktion konfrontiert, das es unter gewöhnlichen Umständen nicht gegeben hätte. Ein weiterer, wenig beachteter, aber daran anhängiger Aspekt ist, dass die Corona-Maßnahmen zu einer regelrechten Lawine an Online-Verabredungen mit Freund*innen sowie gestreamten Veranstaltungen geführt haben, die Introvertierte genauso auslaugen können wie Treffen im physischen Raum – wenn nicht sogar mehr. Wie ein Artikel der MIT Technology Review zum Thema vor Kurzem erläuterte, sorgen Anwendungen wie Zoom nämlich alleine schon von ihrer Beschaffenheit her dafür, dass ein eigentlich entspanntes Treffen mit Freund*innen sich schnell wie ein Firmenmeeting oder Vorstellungsgespräch anfühlen kann. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Videokonferenzen, anders als etwa ein Abend in der Bar, keine Nebengespräche oder einen Schritt nach draußen erlauben, die Introvertierten sonst Raum zum Atmen verschaffen könnten.

Auch Klaues Behauptung, dass Introvertierte das Schließen von Orten des öffentlichen Zusammenlebens begrüßt hätten, ist zutiefst fragwürdig. Ganz abgesehen davon, dass die meisten Introvertierten genauso gerne mit Freund*innen ins Kino oder auf Konzerte gehen wie Extravertierte, besteht das Schöne am Dasein mit diesem Persönlichkeitsmerkmal gerade eben auch darin, Aktivitäten dieser Art alleine nachgehen zu können. Dass diese Möglichkeiten durch die nach wie vor geltenden Ausgangsbeschränkungen an vielen Stellen weggefallen oder stark eingeschränkt sind, schmerzt Introvertierte deswegen genauso sehr wie alle anderen Menschen auch.

Kein Paradies, aber dafür 
eine Chance

Doch auch wenn das Paradies für Introvertierte letztlich nicht eingetroffen ist, so öffnet die Corona-Pandemie zumindest ein Handlungsfenster, in dem insbesondere westliche Gesellschaften endlich auch mehr auf die Bedürfnisse von einem bedeutenden Teil ihrer Bevölkerung eingehen können, der bislang maßgeblich zugunsten eines Fokus auf Extraversion vernachlässigt wurden. Wie bereits am Anfang angedeutet wurde, kommen hierbei insbesondere die Änderungen in der Arbeitswelt Introvertierten zugute. Durch die Pandemie wurde nämlich das bislang als Standard geltende Konzept von Großraumbüros, die durch schier endlose zwischenmenschliche Interaktionen, einen hohen Geräuschpegel und konstante Unterbrechungen besonders ungünstige Bedingungen für Introvertierte schaffen, grundlegend in Frage gestellt. Deutlich mehr Unternehmen als zuvor sind dazu bereit, ihren Angestellten zumindest die Wahl zu lassen, ob sie zuhause arbeiten möchten. Das bringt zwar eine ganze Reihe anderer, neuer Probleme mit sich, wie etwa maßgeblich in die Privatsphäre eingreifende Überwachungsmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die Angestellten auch wirklich ihre Arbeit durchführen, oder die zunehmende Auflösung der Grenzen zwischen Privatleben und Arbeit, die schon vor Corona einen fragwürdigen Lauf genommen hat. Doch es ist zumindest ein erster Schritt in die richtige Richtung für Introvertierte, die umso mehr dabei helfen können, auf ebensolche, durch die Corona-Pandemie entstandene Herausforderungen aufmerksam zu machen – und sie zu meistern.


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