Nicht immer war die Grenze zwischen Mexiko und den USA wie eine Festung gesichert. Der Soziologie-Professor Hector Antonio Padilla über den historischen Wandel der Bedeutung von Grenzkontrollen und wie dieser das Leben der Menschen auf beiden Seiten verändert hat.

Ist als in der US-mexikanischen Grenzregion aufgewachsenes Kind einfach auf eine Limo in die USA geradelt: der Soziologieprofessor Hector Antonio Padilla, der heute auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt. (Foto: Carolina Rosas Heimpel)
woxx: Die US-amerikanisch-mexikanische Grenze ist aus der Ferne betrachtet eine der militarisiertesten Grenzen der Welt. Erscheint sie auch von Nahem so undurchlässig?
Hector Antonio Padilla: Was den meisten Menschen, die nicht direkt an einer Grenze leben, nicht bewusst ist, ist: Grenzen verändern sich. Die Grenze zwischen Mexiko und den USA ist immerhin 3.000 Kilometer lang und noch immer an vielen Stellen recht durchlässig. Es ist nicht so, dass man sie nicht überqueren kann, aber es wird stark kontrolliert, wer das darf. Sie hat eine ausgeprägte Filterfunktion. Historisch gesehen war diese Kontrollfunktion längst nicht immer die gleiche. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Kontrollen eingeführt. Vorher war das eine grüne Grenze, die man einfach überschreiten konnte. Die starre Grenze, die wir heute kennen, entstand in einem langen historischen Prozess.
Welche Kontrollmechanismen gibt es heute?
Grenzmigration wurde unter immer komplexeren Aspekten kontrolliert, Schlagwörter wie „Arbeitsmarkt“, „Gesundheit & Hygiene“ waren schon in den 1920er- und 1930er-Jahren wichtig. In den letzten Jahrzehnten ging es dann auch um „Sicherheit“ und den „Krieg gegen Drogen“. Immer mehr Personal wurde als Grenzschutz eingesetzt. Absurderweise wurden die personenbezogenen Grenzkontrollen genau dann verstärkt, als das nordamerikanische Freihandelsabkommen 1994 in Kraft trat und einen freien Warenfluss zwischen Mexiko, USA und Kanada ermöglichte. Dabei ist auch Arbeitskraft eine Ware. Nun begannen vor allem im städtischen Raum stärkere Grenzkontrollen.
Haben diese Kontrollen jemals Migration verhindern können?
Nein, keinesfalls. Sie verdrängen den Grenzübertritt lediglich in problematischere Gegenden mit tödlichen geografischen und klimatischen Risiken für die Menschen auf dem Weg. Die offen passierbaren Grenzabschnitte werden heutzutage immer kleiner. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde dann eine physische Mauer errichtet, schon lange vor Donald Trumps US-Präsidentschaft.
Abgesehen von der klandestinen Migration gibt es auch den ganz alltäglichen Grenzverkehr. Kommt dieser jemals zum Erliegen?
Noch nicht einmal am 11. September, obwohl dieses Datum einen Wendepunkt an der Grenze darstellte. Die Kontrollen sind seitdem wesentlich strenger geworden und diverse Überwachungsmechanismen wurden eingeführt. Wir wissen, dass seitdem beim Grenzübertritt unsere Gesichter, unsere Bewegungen, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch unsere Gespräche gescannt werden. Auf der Grenzbrücke sollte man nicht über heikle Fragen wie Terrorismus diskutieren, um keine unnötigen Probleme zu verursachen.
Haben Sie noch Zeiten erlebt, in denen die Grenze einfach nur eine imaginäre Linie war?
Daran kann ich mich noch genau erinnern. Wenn du früher keine Papiere hattest, bist du einfach dort durch den Rio Bravo gewatet, wo du keine Beamten gesehen hast. Und wenn dann einer angelaufen kam, dann bist du halt zur Straße gerannt oder schnell wieder zurück nach Mexiko. Wenn du mich nach meinen persönlichen Grenzerfahrungen fragst, kann ich dir sagen, dass ich die Grenze im Laufe meines Lebens auf alle erdenklichen Weisen überquert habe. Als Kind habe ich sie mit dem Lokalausweis meiner Mutter passiert. In den 1970er-Jahren gab es tatsächlich noch einen Familienpass. Da war die Mutter mit allen Kindern auf dem Foto zu sehen. Meine Mutter arbeitete damals als Hausangestellte in El Paso, der texanischen Zwillingsstadt meiner Heimatstadt Ciudad Juárez. Als ich zehn Jahre alt war, bin ich mit meinem Cousin mit dem Rad über die Grenze gefahren, um Erfrischungsgetränke in den USA zu kaufen. Diese verkauften wir dann an mexikanische Gastarbeiter, deren Busse am Zoll warteten. Dafür hatte ich den Pass meiner Mutter dabei und hab dann den Beamten auf dem Foto gezeigt: hier, der bin ich.
Also sind Sie ganz alleine als Minderjähriger über die Grenze?
Auch heute gibt es unzählige Schulkinder, die jeden Tag alleine die Grenze überqueren, um in den USA zur Schule zu gehen. Ich hab das damals gemacht, um ein bisschen Taschengeld zu verdienen. Später haben wir den Familienpass verloren und viele Jahre bin ich nicht mehr über die Grenze gegangen. Erst ab meinem 17. Lebensjahr verbrachte ich viele Sommerferien bei Verwandten auf der US-amerikanischen Seite. Eine Nachbarin nahm mich und meine Mutter am Stadtrand mit über den Fluss. Das habe ich in der Folgezeit dann auch alleine gemacht. Dafür verkleidete ich mich als Jogger mit Laufschuhen und Shorts. Quasi vor den Augen der Beamten, ohne Papiere, und ich sagte nur: „Hi!“ Tatsächlich das einzige, was ich auf Englisch sagen konnte! Ende der 1980er-Jahre begann ich in Ciudad Juárez an einer Privatschule zu unterrichten und hatte damit einen festen Job vorzuweisen. So bekam ich schließlich mein eigenes Lokalvisum. Eine Arbeitsstelle ist auch heute immer noch eine Grundvoraussetzung, um ein Visum für die USA zu erhalten. Denn damit wird vorausgesetzt, dass man sich in den USA keine Arbeit suchen will.
Heute besitzen Sie die doppelte Staatsangehörigkeit?
Mein verstorbener Vater war US-amerikanischer Staatsbürger. Zu Lebzeiten hatte er uns aber nie registrieren lassen. Im Jahr 2003 bat mich mein Bruder, ihm bei der Beantragung eines Aufenthaltstitels zu helfen. Ich hatte daran eigentlich kein Interesse. Die Anwältin, die meinem Bruder half, riet uns aber, direkt die Staatsangehörigkeit zu beantragen, denn darauf hätten wir als Kinder eines US-Amerikaners ein Anrecht. So gingen wir gemeinsam zum Konsulat, um nachzuweisen, dass wir tatsächlich Söhne unseres Vaters seien. Drei Stunden später waren wir US-Amerikaner. Die einzige Nachfrage, die man uns stellte war, warum wir solange damit gewartet hatten.
„Heute versucht Biden mit Blick auf die Wahlen im November eine Grenzpolitik à la Trump zu betreiben.“
Was hat sich seitdem an Ihrem Alltag zwischen den beiden Grenzstädten Ciudad Juárez und El Paso geändert?
Ohne US-amerikanische Staatsangehörigkeit bedeutet es immer eine große Unsicherheit, die Grenze zu passieren. Jeder einzelne Beamte der „Border Patrol“ entscheidet in letzter Instanz, ob er dich einlässt. Als US-amerikanischer Staatsbürger stellst du dich in keine Schlange, du hast einen eigenen Schalter, wirst nicht mehr unter rassistischen Kriterien auseinandergenommen, und gehst meistens einfach durch.
Sind Grenzkontrollen an der US-Grenze per se rassistisch?
Ethnische Zugehörigkeit ist niemals ein offizielles Kriterium, an dem sich die Institution des Grenzschutzes orientiert, aber die stark unterschiedliche Erfahrung des Grenzübertritts für den und die Einzelne spricht für sich. Rassismus spielt da ganz offensichtlich eine enorme Rolle. Als güero („Blonder“/„Weißer“; Anm. d. Red.) werden dir definitiv weniger Fragen gestellt. Für andere Grenzgänger beinhaltet der Grenzübertritt hingegen eine klare Konfrontation mit Rassismus. Das Konstrukt „Rasse“ wird in die Kontrolle mit einbezogen. Hautfarbe ist definitiv ein Faktor, der bestimmt, welche Behandlung dir widerfährt, ob du vor den Grenzbeamten eher als verdächtig oder zu bestimmten Straftaten geneigt giltst. Migrationsbeamte und -Beamtinnen mexikanischer Herkunft werden von Grenzgängern oftmals als stärker diskriminierend als ihre weißen Kollegen und Kolleginnen wahrgenommen. Aber das einfach, weil eine vorausgesetzte Empathie mit mexikanischen Landsleuten nicht stattfindet.
In der Grenzregion leben auf der einen wie auf der anderen Seite in der Mehrheit mexikanisch-stämmige Familien. Fühlen sich Menschen, die auf der US-Seite leben, denen auf der mexikanischen Seite überlegen?
Grenzen sind Filter, durch die einige eingelassen werden und andere nicht. Dadurch entsteht auch ein Wertesystem. Wer durch den Filter kommt, gilt als höher gestellt. Und die eine Seite der Grenze hat einen höheren Wert als die andere. Ich erinnere mich, dass wir in meiner Schulzeit zu jemandem, der sich vor den anderen aufplustert hat, gesagt haben: „Du denkst wohl, du wärst aus El Paso!“ Da haben wir dieses Wertesystem, dass sich in einer Grenzgesellschaft widerspiegelt. Du hast einen höheren sozialen Status, wenn du von der anderen Seite der Grenze bist, aber stehst mit deiner mexikanischen Herkunft immer noch unter einem weißen US-Amerikaner. Während es für diese nicht als erstrebenswert gilt, in der Nähe der mexikanischen Grenze wohnen, bedeutet es für mexikanische Staatsangehörige einen sozialen Aufstieg, vom Süden her in die mexikanischen Grenzstädte nahe den USA zu ziehen.
Viele Menschen in den Zwillingsstädten an der Grenze stehen täglich stundenlang im Stau vor den Grenzkontrollen.
Das war auch für mich jahrelang Alltag. Als ich 2012 die Aufnahme in das „Programm zuverlässiger Reisender“ beantragte, änderte sich meine Grenzerfahrung für immer. Zu dieser Zeit lebte ich mit meinen Söhnen in El Paso, denn Ciudad Juárez war in diesen Jahren im sogenannten Drogenkrieg militärisch besetzt und mit seinen Mordzahlen die gefährlichste Stadt der Welt. Nach einem sehr strengen Hintergrundcheck bekam ich einen speziellen Reisepass und dann gab es auch auf der Autoüberfahrt kaum noch Fragen. Zwei, drei Stunden Warten an der Grenze reduzieren sich seitdem selbst bei viel Grenzverkehr auf wenige Minuten.
Heute kann Ihnen also niemand mehr die Einreise verweigern?
Jein. Während der Corona-Pandemie kam es nochmals zu einer sehr starken Beschränkung des Grenzübertritts. Für viele Menschen, die die Grenze täglich mit Lokalvisum kreuzen, um in informellen Jobs zu arbeiten, war dies nicht mehr möglich. Nur noch Nicht-US-Bürger, die „essenzielle“ Arbeiten im Land verrichteten, konnten einreisen – oder wenn ein medizinischer Notfall gegeben war. Als US-Staatsbürger durfte ich frei die Grenze passieren. Dennoch versuchten die Grenzbeamten meine Motive infrage zu stellen: warum ich gerade jetzt die Grenze kreuzen müsse und mein Vaterland damit gefährde, fragten sie. Aber legal hatten sie keine Handhabe.
Doch nach dem Ende der Pandemie wurde auch diese Maßnahme wieder aufgehoben?
In der Pandemie wurde mit dem berüchtigten gesundheitspolitischen Dekret „Title 42“ das Asylrecht ausgesetzt. Selbst als alle bereits geimpft waren und sogar als das Ende der Pandemie von den USA selbst ausgerufen wurde, wurde das Dekret aufrecht erhalten. Und es war ein langer legaler Kampf diese wohl strikteste Grenzkontrolle, die auf einer gesundheitspolitischen Maßnahme basierte, aufzuheben. Obwohl es tatsächlich eine lange Tradition gibt, medizinische begründete Grenzkontrollen zum angeblichen Schutz der öffentlichen Gesundheit einzusetzen. Dabei kamen Anfang des 20. Jahrhunderts unheilvolle Konzepte von Rassenkunde und Eugenik zum Tragen. Das Coronavirus hat uns an diese geschichtliche Kontinuität in Erinnerung gerufen. Tatsächlich haben die Beamten der „Customs and Border Patrol“ immer ein ganzes Riesenbündel an Zuständigkeiten auf ihren Schultern. Sie sollen Gesundheit, Umwelt und Landwirtschaft der USA schützen, und darauf basierend Grenzgänger kontrollieren und durchsuchen. Ganz abgesehen von der Suche nach Drogen und Waffen und falschen Reisedokumenten.
US-Präsident Joe Biden hatte den Vorsatz, die Grenzpolitik im Gegensatz zu seinem Vorgänger Donald Trump menschlicher zu gestalten. Was ist daraus geworden?
Es gibt mächtige Interessengruppen, die zeigen wollen, dass es an der Grenze eine Krise gibt, dass Gefahr droht. Trump hat dabei kräftig mitgespielt. Die Demokraten wollten das nicht fortführen, aber sie wollen auch keine Wahlstimmen verlieren. Biden fügte sich immer wieder diesem politischen Kalkül. Er wurde aber auch vom Kongress und Bundesrichtern immer wieder aktiv gestoppt, selbst kleinste Gesetzesänderungen durchzubringen. Eine Liberalisierung der Einwanderungspolitik ist schlichtweg verpönt. Heute versucht Biden mit Blick auf die Wahlen im November eine Grenzpolitik à la Trump zu betreiben.
Unter Joe Biden wurde auch der Zugang zum Asylrecht an der Grenze digitalisiert …
Die Smartphone-App „CBP One“ ist die einzige Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Das ist ein sehr kleines Fenster, dass sich nach dem „Title 42“ geöffnet hat. Letztendlich ist es ein weiterer Kontrollmechanismus, mit dem Menschen auf der Flucht und Migranten entmutigt werden sollen. Sie werden in die Arme krimineller Netzwerke getrieben. Es ist unvorstellbar, wieviel Geld Menschen zusammentragen um den Weg nach Norden antreten zu können. Und je weiter sie kommen, desto mehr wird ihnen dann nochmals geraubt und abgenommen. Hier an der Grenze haben sie dann nichts mehr. Ich frage mich, warum diese kriminellen Netzwerke nicht zu Fall gebracht werden können.
Während die mexikanischen Kartelle mittlerweile mehr Geld mit Menschenschmuggel als mit Drogenhandel verdienen, wird auch Mexiko als Transitland immer feindlicher gegenüber Menschen auf der Flucht.
Der Rassismus gegen uns hat sich auf uns übertragen. Die gleichen Argumente, die uns Mexikanern gegenüber in den USA vorgebracht werden, wenden wir in Mexiko auf Menschen aus der Karibik, Mittel- und Südamerika an. Das ist wohl Trumps traurigster Erfolg: die Verrohung der Gesellschaft. Zuerst hat Mexiko auf seiner eigenen Seite der Grenze zu den USA die Mauer mit der Nationalgarde verstärkt und dann begann die mexikanische Grenzbevölkerung darüber zu reden, sie sei der Geflüchteten müde, fühle sich bedrängt. Der physischen Mauer wurde eine kulturelle Mauer hinzugefügt. Rassismus ist eine weitere Mauer auf dem Weg nach Norden geworden.
Hector Antonio Padilla wurde 1964 geboren und hat sein ganzes Leben in der Grenzregion Mexiko/USA verbracht. Mal auf dieser, mal auf jener Seite; mal mit, mal ohne Papiere, und heute mit doppelter Staatsbürgerschaft. Als Soziologie-Professor hat er an den Universitäten der Zwillingsstädte Ciudad Juárez, Mexiko, und El Paso, Texas, geforscht.
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