Debattieren will gelernt sein. Hat Luxemburg es drauf? Eher nicht, wie die Philosophin Nora Schleich im Gespräch über die hiesige Debattenkultur verrät.
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Befasst sich in ihrer philosophischen Arbeit unter anderem mit Debattenkultur: Nora Schleich. (COPYRIGHT: Neimënster)
woxx: Nora Schleich, welche Debattenkultur herrscht in Luxemburg?
Nora Schleich: Gibt es überhaupt eine Debattenkultur in Luxemburg? Allgemein habe ich eher das Gefühl, dass wir es hierzulande vermeiden wollen, Meinungsverschiedenheiten auszutragen.
Woher kommt das?
Luxemburg ist klein, niemand will anecken oder es sich mit einem Kontakt verscherzen, der später noch nützlich sein könnte. Wir halten uns also lieber zurück und kehren die Probleme unter den Teppich. In Frankreich ist die Gesellschaft es hingegen gewohnt, dass bei Debatten die Ellbogen ausgefahren werden. In Luxemburg fehlt es darüber hinaus an einem Raum, in dem Debatten stattfinden können.
Was ist mit Rundtischgesprächen oder den Medien?
Es gibt Rundtischgespräche und Sendungen wie „Kloertext“ von RTL, doch werden sie der Komplexität mancher Themen nicht gerecht: Oft fehlt es an Zeit, unter den Teilnehmer*innen herrscht Konsens oder sie kommen alle aus demselben Bereich, sodass keine vielschichtige Debatte zustande kommt. Noch dazu fehlt es in den Panels regelmäßig an Politiker*innen und Betroffenen.
Wie erleben Sie die aktuelle Debatte um das Bettelverbot?
Ich freue mich über die lebhafte Debatte und darüber, dass sich viele unterschiedliche Menschen zu Wort melden. Letzten Endes ist es ein Bürger*innenrecht, sich mit drastischen politischen Maßnahmen auseinanderzusetzen und diese zu hinterfragen.
Was halten Sie für zentrale Momente der Debatte?
Im Zuge der Debatte kommen interessante Fragen auf, etwa die nach der legalen Basis des Verbots oder auch die über die Diskussionsbereitschaft des Premierministers Luc Frieden, des Innenministers Léon Gloden und der Bürgermeisterin der Stadt Luxemburg, Lydie Polfer. Sie versuchen gar nicht erst, die Menschen abzuholen, die gegen das Verbot sind. Unter den Politiker*innen herrscht eine Mentalität von wegen „law and order“: Die Verordnung wurde verabschiedet, trat in Kraft und wird nun ausgeführt – die Debatte über das Verbot fand viel zu spät statt. Allein die Diskussion über juristische Grundlagen hätte in den Arbeitsprozess gehört. Politiker*innen sind dazu verpflichtet, solche Aspekte zu berücksichtigen. Sie haben nicht umsonst ein politisches Mandat inne!
Was kommt noch zu kurz?
Einige Grundsatzfragen werden von den amtierenden Politiker*innen ausgeblendet: Was soll das Bettelverbot bewirken? Warum gibt es so viel Armut in Luxemburg? Warum wünschen sich so viele Bürger*innen, dass diese unsichtbar wird und aus dem Stadtbild verschwindet? Letzteres ist ein Ausdruck von Angst, den die Politik instrumentalisiert. Es sind unangenehme Fragen, deren Besprechung für eine komplexe Debatte jedoch unabdinglich ist. In dem Sinne veranstalte und moderiere ich für die „Erwuessebildung“ (An.d.R. 13. März, um 18:30 Uhr) ein Rundtischgespräch über Menschenrechte und Menschenwürde in Bezug auf Armut. Eingeladen sind bisher der Philosoph Arnd Pollmann und der scheidende Präsident der Menschenrechtskommission Gilbert Pregno. Ich frage auch Politiker*innen an, mal sehen, wer zusagt.
Was sagen Sie dazu, dass die ADR fremden- und queerfeindliche sowie anti-feministische Haltungen mit der Meinungsfreiheit argumentiert?
Der verwendete Jargon ist populistisch und zielt auf den Erhalt von etablierten Machtverhältnissen ab. Rechte Parteien monieren, ihnen werde die Meinungsfreiheit entzogen; sie geben sich dadurch demokratisch und behaupten, eine politische Elite spalte das Volk. Dabei sind sie es, die eine Spaltung herbeiführen und die von Angst und Katastrophengedanken leben. Die Debatte über Meinungsfreiheit überschattet somit die wichtige Auseinandersetzung mit ihren feindlichen Aussagen. Rechten kommt das gelegen, denn ihre Argumentation ist meist substanzlos.
„Es sind unangenehme Fragen, deren Besprechung für eine komplexe Debatte jedoch unabdinglich ist.“
Braucht es dennoch einen Austausch?
Wir dürfen den Diskurs rechter Parteien nicht kommentarlos stehen lassen, denn damit verharmlosen wir ihre Haltungen und verkennen ihre Tragweite. Ein Redeverbot entzieht uns die Mittel, ihre Haltungen zu beobachten, sie zu analysieren und zu kontextualisieren. Woher kommen die Ängste, auf denen ihre Ansichten beruhen? Die Existenz rechter Parteien und der Zuspruch, den sie erfahren, kommt ja nicht von ungefähr. In Luxemburg müssen wir die ADR in den öffentlichen Diskurs einbinden und sie immer wieder zwingen, Position zu beziehen. Wir müssen ihnen Argumente abverlangen, statt ihnen die Darbietung ihrer Gefühlslage zu ermöglichen. All dies darf jedoch nicht von oben herab geschehen: Erstens verhindert das eine Debatte auf Augenhöhe und zweitens würde dies die Rhetorik der Rechten nur unterstützen.
Zerstört ein solcher Austausch Schutzräume?
Zur Wahrung der Schutzräume gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Bei einer Veranstaltung zu Queerfeindlichkeit könnten statt davon Betroffenen beispielsweise Vertreter*innen deren Anliegen verteidigen, die zwar keine Erfahrung mit Queerfeindlichkeit haben, sich dafür aber mit ethischen Fragen auskennen und Argumentationen gut nachverfolgen sowie analysieren können. Es wäre gut solche Menschen in Diskussionen einzubinden, damit sie feindliche Haltungen gekonnt hinterfragen können. Wenn im Zuge einer Debatte deutlich wird, dass Queerfeindlichkeit ein Angriff auf die Menschenrechte ist, fühlen sich die Betroffenen gestärkt und können Paroli bieten.
Ist das eine produktive Debatte?
Eine produktive Debatte kann nur geführt werden, wenn alle Beteiligten valide Argumente liefern. Das verlangt allen ab, eigene Haltungen zu hinterfragen: Stehe ich eigentlich hinter dem, was ich behaupte? Diese Auseinandersetzung erfordert Mut, denn das Ergebnis entspricht nicht immer dem, was beispielsweise die eigenen Wähler*innen hören möchten. Zu einer produktiven Debatte gehört aber auch die Gleichstellung: Diese erreichen wir nur, wenn sich alle auf der gleichen Ebene treffen. Das Wort muss hin- und her gereicht werden, damit wir uns gemeinsam an einem Thema abarbeiten können. Dabei geht es nicht darum, ethische Grundsatzfragen abschließend zu klären, sondern eine gerechte und ausgeglichene Debatte zu führen.
Blendet das bestehende Ungleichheiten aus?
Auch diese Fragen müssten in dem Kontext beantwortet werden: Warum gibt es Menschen, die weniger Raum und Sichtbarkeit haben, als andere? Ich bin aber überzeugt, dass allein die Organisation einer Diskussion zu einem marginalisierten Thema, etwa zu gynäkologischer Gewalt, die Betroffenen stärkt: Sie fühlen sich dadurch gesehen.
2022 ging das Rundtischgespräch „Lëtzebuerg: e koloniale Staat?“ im Musée national d‘archéologie, d‘histoire et d‘art jedoch nach hinten los: Fernand Kartheiser (ADR) konnte ungestört rassistische Kommentare ablassen, während anti-rassistische Aktivist*innen kaum zu Wort kamen …
Es ist die Rolle der Moderation, auf Redner wie Kartheiser einzugehen und seine Haltungen Schritt für Schritt zu dekonstruieren – sie müssen als das entlarvt werden, was sie sind: substanzlos, denn es gibt keine validen Argumente, warum Hierarchien und Machtverhältnisse diskriminierender Natur bestehen bleiben müssten. Diese Haltlosigkeit der Argumentation wird kaschiert von Angst vor Besitz- oder Identitätsverlust, die dann mit stark klingenden Parolen getarnt den rechten Jargon ausmachen. Die Basis davon ist aber eine regelrechte Leere. Es ist mir bewusst, dass dieser Prozess für die Aktivist*innen schwer auszuhalten ist, doch anders können wir die Rhetorik der Rechten nicht brechen. Natürlich braucht es für solche Auseinandersetzungen kompetente Moderator*innen und Politiker*innen, die der ADR die Stirn bieten. Allgemein ist es ein Hohn, dass das Politiker*innen des linken Spektrums nicht gelingt. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Gibt es Cancel Culture in Luxemburg?
Debatten an sich sind „gecancelt“, denn sie finden, wie eingangs erwähnt, kaum statt. Dieser Umstand wirft dieselben Fragen auf, wie die Ausgrenzung einzelner Personen aus dem Diskurs: Wie gehen wir als Gesellschaft mit Andersdenkenden um? Können wir Meinungsverschiedenheiten aushalten oder entscheiden wir verfrüht, eine Debatte gar nicht erst zu führen? Wir müssen uns alle eingestehen, dass es nicht den einen, richtigen Standpunkt gibt, besonders im Hinblick auf ethische Debatten: Diese können unangenehm sein, denn sie verlangen uns die Hinterfragung eigener Überzeugungen ab. Das kann zu Instabilität führen, wenn ich beispielsweise merke, dass mein Weltbild auf unmoralischen Ansätzen fußt. Nur durch diesen Prozess kann ich jedoch problematische Haltungen überwinden. Je mehr Menschen sich an Debatten beteiligen, desto besser werden wir darin, Meinungsverschiedenheiten auszuhalten. Wir lösen gesellschaftliche Probleme nicht dadurch, dass wir Menschen stumm schalten.
Es sind aber doch ausgerechnet jene, die am meisten gehört werden, die von Cancel Culture sprechen, oder?
Ich unterscheide hier zwischen zwei Phänomenen: In der Cancel Culture gibt es den Vorwurf gegen „wokeness“ (An.d.R.: in hohem Maß politisch engagierte Bewegung gegen u.a. rassistische, sexistische, soziale Diskriminierung), aber auch den Ausschluss deren Kritiker*innen. Letzteres geschieht oft mit dem Ziel, Schutzräume für Betroffene von Diskriminierung zu schaffen. Mir ist die Sinnhaftigkeit dieser Schutzräume durchaus klar. Wir umgehen durch die Stummschaltung der Kritiker*innen jedoch nur das Problem, das deren Haltung zugrunde liegt. Es ist sinnvoller, den Argumenten entgegenzutreten. Mir ist bewusst, wie schwer das ist. Ich versuche das Thema an dieser Stelle eher aus einer diskurstheoretischen Perspektive zu betrachten. Rundtischgespräche auf Augenhöhe sind ideal, um solche Diskussionen zu führen. Es ist wichtig, dass alle Parteien ihre Haltungen präsentieren und argumentieren können, denn es kann in Einzelfällen durchaus sein, dass Menschen sich missverstehen. Es ist besser, sich in einem solchen Rahmen auszutauschen, als dass etliche Leser*innenbriefe publiziert werden.
„Mir ist aufgefallen, dass in der Kunstszene viele Grundsatzdiskussionen ausbleiben.“
Haben Sie deshalb auch die Konferenzreihe „Debattekultur, eng Kulturdebatt“ in Zusammenarbeit mit der Abtei Neimënster initiiert?
Mir ist aufgefallen, dass in der Kunstszene viele Grundsatzdiskussionen ausbleiben, auch weil es dafür oft an Zeit fehlt. Ich denke dabei an Themen wie den Zugang zu Kultur oder die faire Bezahlung der Kulturschaffenden. Ich wollte mit diesem Phänomen brechen und einen Raum schaffen, in dem sich alle Akteur*innen treffen können, möglichst frei von Hierarchien. Es gibt immerhin einen Kulturentwicklungsplan und eine Charte de déontologie für den Kultursektor – warum also nicht über die dort enthaltenen Forderungen und Probleme im Sektor sprechen?
Was für einen Stellenwert hat der Kultursektor im öffentlichen Diskurs?
Der Kultursektor wird dort extrem marginalisiert. Für viele gilt Kultur immer noch als „nice to have“. Die Arbeit von Kulturschaffenden wird oft heruntergespielt und der Wert verkannt, den ein Zugang zu Kultur hat. Ich glaube, das ist ein systemisches Problem, weil wir in einer neoliberalen Gesellschaft und einem entsprechenden Wirtschaftsmodell leben: Wer kein hohes Einkommen generiert oder etwas, das schwer mit Geld zu beziffern ist, hat für die Gesellschaft keinen Mehrwert. Materielle Bedürfnisse haben Vorrang, dabei vergessen wir, dass der Mensch auch einen Drang nach Austausch und ein Gemeinschaftsgefühl hat. Dass Kulturschaffende einen wichtigen Beitrag dazu leisten, darf nicht nur ab und zu im Feuilleton oder in der Beschreibung eines Kunstwerks erwähnt werden, sondern muss in den öffentlichen Diskurs einfließen. Dieses Bewusstsein fehlt auch in der Kulturkritik.
Sie meinen im Kulturjournalismus?
In den meisten luxemburgischen Medien geht die ausgiebige Auseinandersetzung mit dem Kultursektor unter. Oft bleibt es bei Beschreibungen von Kulturproduktionen. Das spiegelt nur, was in der Gesellschaft schiefläuft: Kultur wird als Fußnote wahrgenommen. Dabei bietet sie einen Raum, in dem wir uns recht sorglos einer Debatte hingeben können; einen Ort, an dem Ideen aufeinanderprallen können.
Und was ist mit den Kulturschaffenden selbst?
Kulturdebatten bleiben sicherlich auch aus, weil die Kulturschaffenden Angst haben, zurechtgewiesen zu werden. Wenn sie von einem Institut oder von Fördergeldern abhängig sind, überlegen sie es sich vermutlich zweimal, ob sie heikle Themen öffentlich thematisieren wollen.
Nora Schleich promovierte an der Johannes Gutenberg Universität (JGU) in Mainz in Philosophie. Die Philosophin ist derzeit als Tutorin, Autorin, Moderatorin und Konferenzveranstalterin tätig, publiziert aber auch akademische und nicht-akademische Artikel und Bücher und arbeitet als Programmkoordinatorin in der Erwuessebildung asbl. Mehr Informationen gibt es unter noraschleich.lu.