Was haben Virologen und Fußballexperten gemeinsam? Laut unserem letzten linken Kleingärtner so manchen rhetorischen Taschenspielertrick – und manchmal auch den Vornamen.
Dass ich das noch erleben durfte: Lothar Matthäus hat sich verwandelt. Jahrelang erklärte uns Lothar (eigentlich „Loddar“) den Fußball und die Welt und bereitete uns viel Freude mit seinen Spielereien auf dem Platz und darüber hinaus. Legendär sind seine Auftritte als Englisch- und als Nahostexperte („Ich bin eine Art Israel-Fachmann“).
Loddar verzieh man auch noch den letzten Schmarren, weil man sich, getragen von großer Güte, an sein wohlgefälliges Fußballspiel erinnerte. Auf dem grünen Rasen beherrschte er eigentlich alles außer den Schuss vom Elfmeterpunkt. Und seine Interviews nach emotional aufwühlenden Spielen sind Legende. Den fehlenden Sprachschatz und seine einfache Weltsicht kompensierte er mit gekonnt auf die Kamera visierten Emotionen aller Art.
Das alles ist jetzt vorbei. Ist „unser Lothar“ gestorben? Habe ich etwas nicht mitbekommen? Nein, Fußball-Lothar lebt. Aber für seine Lebensrolle als „unser Lothar“ ist er medial gestorben. Nun nämlich betrat mit Corona-Lothar ein neuer Spieler das Feld: Professor Doktor Lothar Wieler kommt vom Robert-Koch-Institut in Berlin. Diesen Verein aus der Wundertüte des modernen Fußballs kannten vor sechs Wochen nur Insider. Jetzt weiß alle Welt, wofür die Abkürzung RKI steht.
Und ähnlich wie sein Vorgänger Loddar erklärt uns auch der RKI-Lothar die Welt. Dabei fasst er die großen Dinge mit seinen einfachen Worten. Wir sollen höflich sein und die Nies-Etikette beachten, indem wir in die Armbeuge niesen und uns öfter die Hände waschen. Steile Thesen, die man erst mal verarbeiten muss. Ich ertappte mich dabei, dass ich mit meinem einfachen Kleingärtnergemüt dem neuen Lothar wochenlang folgte, bis mir verschämt auffiel, dass mir bereits meine Mutter diese hygienischen Umgangsformen erziehungstechnisch eingehämmert hatte.
Könnte es sein, dass der neue Lothar, ähnlich wie der alte, gar nicht so viel Ahnung hat und trotzdem große Entwürfe ausbreitet, weil er an keiner Kamera und keinem Mikrofon wortlos vorbeigehen kann? Dieser verwegene Gedanke lässt mich nicht mehr los. Ich bin jetzt im Lothar-Fieber, fühle mich zum neuen Deutschland-Lothar hingezogen und spüre eine innere Wesensverwandtschaft mit ihm, die mich in ihren Bann nimmt.
Könnte es sein, dass der neue Lothar, ähnlich wie der alte, gar nicht so viel Ahnung hat?
Als Kleingärtner geht es mir oft wie Corona-Lothar. Im Grunde weiß ich auch nicht immer, weshalb die Ernte miserabel oder überbordend ausgefallen ist und warum mal wieder manche meiner gärtnerischen Vorhersagen und Vermutungen ein Griff ins Klo waren. Doch gelingt es mir recht locker, das eigene Nichtwissen ob der Zusammenhänge mit großen Worten und intellektuellem Habitus zu übertünchen.
Auf den Klang und den Schein kommt es an. Daher erklärt uns Lothar nicht, warum es in Deutschland keinen ständig tagenden Runden Tisch von Virologen gibt, die sich austauschen oder gar einen internationalen Virologen-Stammtisch mit chinesischen Kollegen. Stattdessen podcasten manche Virologen vor sich hin und haben ihre Lieblingsjournalisten, von denen sie voll objektiv befragt werden. So hat es Fußball-Lothar auch immer gehalten. Bei mir ist es genauso. Ich erkläre lieber die Welt alleine, anstatt die mediale Aufmerksamkeit mit anderen Kleingärtnern zu teilen.
Genug lotharisiert. Ein Gang durch den nach und nach eingesäten und langsam Form gewinnenden Garten entschädigt für vieles. Der sonnige Frühling lässt die Samen aufgehen und langsam wachsen. Aber auch diese Jahreszeit hat ihre Tücken. Mal wieder fehlt der Regen. Wenn es weiter dumm läuft, wird dies der zweite trockene Sommer hintereinander. Das kann in den ersten Wochen nach der Aussaat teilweise kompensiert werden, weil der Boden noch eine Restfeuchte in tieferen Schichten hat und das Saatgut dank eigenem Nachbau natürlich hervorragend ist.
Außerdem kann man punktuell etwas gießen. Aber ich mag nicht jeden Tag mit der Gießkanne herumlaufen. Das schadet meinem Image. Es ist wie es ist: Die Zeiten werden härter. Früher war alles besser. Als es genug Regen und kein Corona gab. Als der andere Lothar uns noch die Welt erklärte.
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