Unser Kleingärtner sitzt in seinem Garten und sinniert: „Was wäre wenn …“. Wie immer kippt die zunächst gehobene Stimmung mit dem Auftauchen der Sozialdemokratie.
Heute war es soweit. Es ist immer ein großer Moment im Leben eines Kleingärtners, wenn das eigene Saatgut tatsächlich gedeiht. So ehrenwert es zum Wohl der weltweiten Sortenvielfalt sein mag, Saatgut selber nachzubauen, es also aus der Ernte des Vorjahres für die Aussaat im nächsten Jahr zurückzubehalten: Man verbringt etliche unruhige Tage, mitunter Wochen, ehe man sicher ist, dass es den Weg nach oben, also zur Sonne findet. Was sich dann abspielt, ist die gärtnerische Vorwegnahme des Arbeiterklassikers „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ – und entspricht keineswegs einem historischen Determinismus.
Schließlich kann man sich nie sicher sein, ob man beim Trocknen und der Aufbewahrung des Saatguts alles richtig gemacht hat. Ganz unter uns: Kleingärtner machen viele Fehler. Öffentlich würde ich das natürlich nie zugeben. Dazu besteht aber auch keine Notwendigkeit, denn meine dicken Bohnen strecken und räkeln sich, zarte Sprösslinge durchbrechen die eben noch betonhart versiegelte Erdkrume Richtung Himmel. Und weil um diese Jahreszeit noch nicht viele Erfolgserlebnisse in meinem Gartenreich zu beobachten sind, kehre ich mehrfach täglich zu meinen Bohnensprösslingen zurück und schaue, ob sich in den vergangenen Stunden weitere Keimlinge in Richtung Sonne und Freiheit auf den Weg gemacht haben. Das gleicht dem Darben eines Fußballfans, der sich die wenigen großen Momente in der Geschichte des eigenen Vereins immer wieder anschaut und dabei vor Wonne gluckst.
Wo wir hier schon bei den kleingärtnerischen Betrachtungen der Freiheit sind: Ich werde oft gefragt, wie denn meine Hühner vom Freigehege zu dunkler Stunde zurück in den Hühnerstall finden, wo sie vor Fuchs und Marder geschützt sind. Ganz einfach: Sobald es dunkel wird, gehe ich zu ihnen. Bereits mein Kommen löst freudige Betriebsamkeit und Aufmerksamkeit aus. Ich zücke mein Handy, schalte die Taschenlampe ein und gehe leuchtenderweise meiner Hühnerschar voraus. Für sie bin ich wie ein Leuchtturm, der sie sicher durch die Unbill der anbrechenden Nacht in ihren heimischen Hafen bringt. Dort, wo die Freuden des Lebens, wo Futter und Wasser auf sie warten.
Ja, die Freiheit ist immer ein großes Thema von unsereinem. Oder umgekehrt: Zu allen großen Themen weiß unsereiner viel Gescheites zu sagen. Als am 25. April 1974 die Ausnahme die Regel bestätigte und die üblicherweise unsympathischen Militärs diesmal etwas sehr Sympathisches taten, indem sie in Portugal die Diktatur wegputschten, steckten sich die aufständischen Militärs rote Nelken in ihre Gewehrläufe. Fortan nannte man diesen Aufstand Nelkenrevolution. Die rote Nelke ist seit 1889 die Blume der Arbeiterbewegung und wird weltweit zum 1. Mai getragen.
Es passiert selten, dass Militärs mal nicht nach rechts abbiegen. Umso erwähnenswerter daher, dass sich das portugiesische Beispiel neun Jahre später in Burkina Faso (damals noch: Obervolta) unter dem legendären Oberst Thomas Sankara wiederholte. Damit das Land zu marktwirtschaftlichen Gepflogenheiten zurückfände, nahm sich Frankreich der Sache an, was in der Ermordung Sankaras endete und dem linken Projekt den Todesstoß gab. Ähnlich, aber weniger blutig engagierten sich in Portugal die deutschen Sozialdemokraten mit ihrem Credo „Reform statt Revolution“ – nur nicht übertreiben.
Nur ein Bruchteil des schönen Lebens, das möglich gewesen wäre, wurde realisiert.
Zu viel Freiheit ist nie gut, meinen die Wahrer und Beschützer der freien Kräfte des Marktes genau wie die Islamisten, weswegen Letztere Frauen unter das Kopftuch oder gleich die Burka zwingen. Nun denn – jedenfalls denke ich, wenn ich in meinem Garten bin, des Öfteren an die Freunde der Freiheit auf der ganzen Welt. Immerhin sind die Verhältnisse in Portugal und in Burkina Faso heutzutage vorteilhafter als vorher. Doch nur ein Bruchteil des schönen Lebens, das möglich gewesen wäre, wurde realisiert.
Zu den Möglichkeiten sozialistischer Experimente verhält sich die Sozialdemokratie nicht viel anders als die Kirche zum in der Bibel versprochenen Paradies. Beides wird mit viel Pathos vorgetragen und es bleibt die große Frage „Was wäre, wenn …?“. Doch wenn die Sonntagsreden be- endet sind, heißt es wieder, die Ruhe zu bewahren und sich in der irdischen Welt der vertanen Möglichkeiten einzurichten. Manch einer sucht sich als Ersatz einen Garten. C’est la vie. Hat das Leben nicht mehr zu bieten? Ich muss darüber nachdenken und melde mich in ein paar Wochen wieder. An gleicher Stelle mit einem hellen Gedanken. Wartet auf mich. Ich brauche euch.
Mit Blumen hatte übrigens noch ein weiterer politischer Verwandter von mir zu tun: Der Sozialist José Mujica, von 2010 bis 2015 Präsident Uruguays, war ansonsten Blumenzüchter und kehrte nach seinem kurzen Intermezzo an der Regierung wieder zurück in seine gärtnerische Welt. Ich mag ihn.
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