Nach dem Vorbild des Türkei-Abkommens will die EU die Flüchtlingszuwanderung eindämmen. Ein neuer Plan sieht vor, insbesondere afrikanische Länder mit allen nötigen Mitteln in solche „Partnerschaften“ zu zwingen. Luxemburger NGOs finden deutliche Worte.
Es ist ein Wunder, dass sie es überhaupt herausgeschafft haben. Aus dem vom Islamischen Staat kontrollierten Territorium der Provinz Aleppo sollen Obaid al-Abo und seine Familie gekommen sein, aus Dscharabulus oder aus der 40 Kilometer weiter im Landesinneren gelegenen IS-Hochburg Manbidsch. Die ist mittlerweile völlig von der syrischen Opposition eingekesselt. Zehntausende sind dort eingeschlossen, doch immerhin 13.000 der 120.000 Einwohnern ist seit Beginn der Anti-IS-Offensive Ende Mai die Flucht aus der erbittert umkämpften Region gelungen.
So wie der Familie al-Abo. In der Nacht vom 18. auf den 19. Juni sind Vater, Mutter und ihre sechs Kinder nach Chirbet al-Dschus im Nordwesten Syriens gegangen, um dort den Grenzübertritt in die Türkei zu wagen. Doch Schüsse türkischer Grenzschützer haben allen Hoffnungen ein Ende gemacht. Obaid und fünf seiner Kinder – Hassan (sechs Jahre alt), Waed (15), Walaa (17), Fatoum (20) und Amani (21) – sind tot. Seine Frau und ein weiterer Sohn überlebten verletzt. „Wahllos“ hätten die Grenzer auf die Flüchtlinge gefeuert, erzählen lokale Aktivisten später. Mindestens acht Personen sollen durch die Schüsse getötet worden sein, der britische „telegraph“ berichtet gar von elf Toten.
Türkische Offizielle versichern, die Sache werde untersucht, bislang habe man die Ereignisse nicht „unabhängig verifizieren“ können. Von „offizieller“ syrischer Stelle hat man jedenfalls keine Anschuldigungen zu befürchten. Denn „offizielle Stellen“, die sich um so etwas kümmern, gibt es in dem im Zerfall begriffenen Land längst nicht mehr, auch wenn Organisationen wie „Human Rights Watch“ immer wieder die Todesfälle zu verifizieren suchen. Das in Großbritannien ansässige „Observatory for Human Rights“ geht von 60 Todesschüssen auf Flüchtlinge durch türkische Sicherheitskräfte seit Jahresbeginn aus; wie immer in vergleichbaren Situationen ist unbekannt, wie hoch die Dunkelziffer ist.
Für die Europäische Union mag es vorteilhaft sein, dass es für solche Geschehnisse kaum Aussicht auf unanfechtbare Belege gibt, ist man doch derzeit dabei, den Modellcharakter des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei hervorzustreichen. „In Folge der Schließung der Westbalkanroute und der Umsetzung des Türkei-Abkommens, sind Bewegungen von der Türkei auf die griechischen Inseln nahezu vollständig zum Erliegen gekommen“, heißt es in der Abschluss- erklärung des EU-Rats von vergangener Woche. Es sei jedoch wichtig, auf eine „nachhaltige Lösung“ hinzuarbeiten, so die 28 Staats- und Regierungschefs der EU. Zu diesem Zweck sollen „maßgeschneiderte“ Migrationspartnerschaften mit vorwiegend afrikanischen Ländern vorbereitet werden.
Von der Berücksichtigung spezifischer Flucht- gründe, etwa von LGBTI-Personen, kann unter solchen Bedingungen „keine Rede mehr sein“.
Laut EU-Kommission sollen dabei „sämtliche Politikmaßnahmen und -instrumente, die der EU zur Verfügung stehen“, genutzt werden, um die Flüchtlingsbewegungen zurückzudrängen, und, wie es heißt, „Flüchtlingen den Verbleib in größerer Nähe ihrer Heimat zu ermöglichen“. „Sämtliche Maßnahmen und Instrumente“ beinhaltet dabei vor allem finanzpolitische Mittel, wobei insbesondere im Bereich der Entwicklungshilfe „positive und negative Anreize“ an die anvisierten Länder gegeben werden sollen. Aber auch handelspolitisch will sich die EU am Ausmaß der Kooperationsbereitschaft jeweiliger „Drittstaaten“ orientieren. Die am vergangenen Mittwoch vom Europäischen Parlament beschlossene Einrichtung einer Europäischen Grenz- und Küstenwache, zu der die bereits existierende Grenzschutzbehörde Frontex erweitert wird, soll ihr Übriges zur Abriegelung der EU vor Flüchtlingen und Migranten tun.
Unter den Ländern, die mit solch „maßgeschneiderten Partnerschaften“ beglückt werden sollen, finden sich Eritrea, Mali, Nigeria, Somalia, der Sudan, Algerien, Tunesien, Afghanistan, Bangladesch oder Pakistan. Einige diese Länder sind nicht in erster Linie als sicherer Hafen für Flüchtlinge bekannt, sondern für Situationen, aus denen die Menschen in Scharen fliehen. Für Eritrea indes trifft beides zu: Während das vergleichsweise kleine Land am Horn von Afrika 700.000 Flüchtlinge aus den umliegenden Regionen beherbergt, hat das in einem UN-Bericht jüngst als „autoritärer Staat“ qualifizierte Regime zugleich 360.000 Flüchtlinge unter seinen Bürgern produziert (siehe den Interglobal-Beitrag in dieser Ausgabe). Und der Sudan hat mit Omar al-Baschir einen Mann zum Präsidenten, gegen den der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag bereits 2008 einen Haftbefehl wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen erlassen hat.
Sérgio Ferreira von der ASTI hält die genannten Pläne für einen „Fehler historischen Ausmaßes“. Unter anderem verspiele die EU damit auf Jahrzehnte jede Glaubwürdigkeit, wenn es um Menschenrechtsfragen geht. Der Direktor von „Amnesty International“ in Luxemburg pflichtet ihm bei. „Wenn man Regierungen unterstützt, die sich schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig machen, dann wird nicht nur das Asylrecht als Teil der universellen Menschenrechtserklärung zerstört“, so Stan Brabant, „die EU wird zum zentralen Akteur bei der Zerstörung der Menschenrechte“.
Brabant gibt zu bedenken, dass selbst die Türkei, wo sich bereits jetzt über 2,7 Millionen Flüchtlinge aufhalten und wo im Vergleich zu den meisten der 16 für eine „Migrationspartnerschaft“ auserkorenen Länder die Menschenrechte noch relativ respektiert werden, die Hauptelemente der Rechte für Flüchtlinge und Asylsuchende in keiner Weise erfülle: „Es gibt keine Prozeduren, die eine verlässliche Beurteilung zulassen, ob jemand den Flüchtlingsstatus zugesprochen bekommen soll, es gibt keine nachhaltige Perspektive für die Integration ins Land und die Menschen bekommen nicht die nötigen Mittel, die ihr Auskommen ermöglichen.“ Zudem schiebe die Türkei immer systematischer Flüchtlinge in Richtung Syrien ab.
„Das ist nicht einmal mehr paternalistische Entwicklungshilfe, sondern bloß eine Regelung zugunsten der EU-Länder.“
Von der Berücksichtigung spezifischer Fluchtgründe, etwa von LGBTI-Personen (woxx 1362), kann unter solchen Bedingungen ohnehin „keine Rede mehr sein“, so Brabant. „Wenn wir etwa von Algerien, Marokko, Bangladesch oder Afghanistan reden, sind die Rechte der LGBTI-Personen nicht nur inexistent, sondern diese Länder sind mit die repressivsten wenn es um den Umgang mit LGBTI geht.“
Die Texte verschiedener NGOs werden angesichts der erbarmungslosen EU-Politik immer sarkastischer, während die EU-Verlautbarungen immer technokratischer werden. Letztere stoßen auch Brabant sauer auf: „Hier und da werden dann Elemente aus dem Menschenrechtsdiskurs eingestreut, und das macht es schwer, diese Texte auseinanderzunehmen, weil da und dort scheinbar gute Intentionen auftauchen, wie auch bei dem Türkei-Abkommen. Unterm Strich ergibt eine genaue Analyse jedoch, dass dieses Abkommen eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte darstellt.“
Während allerdings bei diesem Deal die Trümpfe eher auf der türkischen Seite lagen, wird man die afrikanischen Länder mit handels- und entwicklungspolitischen „Anreizen“ gnadenlos unter Druck setzen. Im EU-Klartext: „es müssen Konsequenzen folgen für all jene, die bei der Rücknahme von Flüchtlingen nicht kooperieren“, während sich für Entwicklungshilfe qualifiziert, wer sich durch die „Fähigkeit und Bereitschaft“ auszeichnet, beim „Migrationsmanagement zu kooperieren, insbesondere bei der effektiven Prävention irregulärer Migration“.
Laut Nicole Etikwa Ikuku steht ein solches Vorgehen „in direktem Widerspruch zu dem, was offiziell als Entwicklungshilfe definiert wurde“. „Wenn man sagt, ihr bekommt die Gelder, wenn ihr bestimmte Bedingungen erfüllt, und diese Bedingungen sind dann nicht mal solche, die die Entwicklung des betroffenen Landes verbessern, sondern lediglich die Migrationsbewegung in Richtung Europa stoppen sollen, ist das nicht einmal mehr eine paternalistische Entwicklungshilfe“, so die Koordinatorin der Action solidarité Tiers Monde (ASTM), „dann ist es ausschließlich eine Regelung zugunsten der EU-Länder.“ Dabei sei gerade die kontinuierliche Reduzierung der Entwicklungshilfe in den vergangenen zehn Jahren für die Ursachen der Migrationsbewegungen mitverantwortlich.
Ikuku weist darauf hin, dass ein solches Vorgehen einen direkten Eingriff in die Politik der Länder bedeutet, denn welche Opposition kann schon damit punkten, auf Gelder zu verzichten. „Das Problem ist, dass in vielen Ländern versäumt wurde, dazu beizutragen, dass es auch einen richtigen demokratischen Ansatz gibt. Man hat sich für Partner interessiert, die zwar vielleicht Stabilität garantiert haben, aber nicht für demokratische Prinzipien gestanden sind. Basisnahe Strukturen der Zivilgesellschaft hat man hingegen nicht gestützt.“
Darum geht es heute so wenig wie gestern. „Die Verzweiflung wird die Menschen immer versuchen lassen, Europa zu erreichen“, sagt Sérgio Ferreira von der ASTI. Auf allen möglichen und unmöglichen Routen, solange „wir keine legalen und regulären Wege öffnen, um Europa zu erreichen, etwa mit humanitären Visas und humanitären Korridoren, für alle, die aus Konfliktzonen fliehen“.