Einen Monat lang gibt das Kulturzentrum Moussem in Brüssel Kunst aus der syrischen Hauptstadt ein Podium. Ein Besuch ist verstörend und faszinierend – und konfrontiert Besucher*innen mit den eigenen Stereotypen.
Die Revolution war überall. In Daraa und Baba Amr, Muhasan und Nabk, Bustan al-Qasr und Midan. Sie kennen diese Namen nicht? Sind sie verschwunden hinter den Bildern des Horrors aus Aleppo oder Homs, den Massakern von Sinjar, den Grausamkeiten von Raqqa? Wie war das überhaupt, als die Opposition gegen das Assad-Regime noch anderes im Sinn hatte als eine islamistische Diktatur? Als der Wunsch nach Emanzipation die Menschen auf die Straße trieb und nicht das erzwungene Beiwohnen öffentlicher Hinrichtungen? War da Fortschritt vor dem Zivilisationsbruch? Und wie viel davon haben wir im neunten Jahr des Kriegs vergessen?
Das, was von der Revolution übrig blieb, findet man dieser Tage in einem Hinterhof im Zentrum von Brüssel. Globe Aroma ist ein interkulturelles Kunst- und Begegnungszentrum, im Erdgeschoss wird geschrieben und gemalt und an den kalkweißen Wänden im ersten Stock hängen 30 Tafeln, die jeweils ein Werk syrischer Künstler*innen samt Begleittext enthalten. Die Ausstellung „The Creative Memory of the Syrian Revolution“ ist eines der Kernstücke der diesjährigen Ausgabe des Moussem Cities Festivals. Im Fokus steht wie immer eine Metropole im Nahen Osten oder Nordafrika. 2019 ist es Damaskus.
Jede der Tafeln erzählt die Geschichte der Revolution aus einer lokalen Perspektive. Die verschiedenen Einfallswinkel lenken den Blick auf weniger bekannte Episoden und Begebenheiten: den Hungerstreik im Frauengefängnis von Adra nordöstlich von Damaskus oder die Graffiti der Protestbewegung in Saraqib in der Provinz Idlib. Eine Landkarte hilft bei der geografischen Zuordnung. Daneben findet sich eine künstlerische Interpretation des Geschehens: hier Diala Brislys Bleistiftzeichnung einer mageren Gefängnisinsassin, dort zwei Rosen auf einer Backsteinwand aus Saraqib, darüber die Parole „Die dunkelsten Momente kommen gleich vor der Morgendämmerung“.
Manches davon ist in seinem lokalen Bezug sehr plastisch, wie das Gemälde „Detail of Baba Amr“ von Abdul Razzak Shaballot, das einen in sich zusammengesunkenen Mann zeigt, gegen eine Tür gelehnt. Ist er tot oder nur zu Tode erschöpft? Andere beinhalten eher allgemeine Botschaften, die Zeugnisse des verzweifelten Überlebenskampfs der Zivilist*innen, wie die Karikatur „The Explosion Did Not Ask Which Side I’m On“ von Juan Zero.
Was von der Revolution übrig blieb
Letzterer Titel führt uns direkt zum Ansatz des Festivals. „In unserem Programm kommen Krieg und die politische Situation in vielen Projekten zur Sprache”, sagt Mohamed Ikoubaân, der aus Marokko stammende Direktor von Moussem, das sich selbst als „nomadisches Kulturzentrum” beschreibt. „Aber es geht auch um den Einfluss des Kriegs auf normale Menschen, auf ihren Gemütszustand, auf Liebesbeziehungen und Freundschaften.”
Moussem ist klein, aber agil. Fünf Personen, beziehungsweise sechs während des Festivals, halten den Betrieb am Laufen, der auch für eigene (Co-)Produktionen verantwortlich zeichnet. Das Cities Festival fand erstmals 2016 statt. Beirut, Tunis und Casablanca gingen Damaskus als Themenstädte voraus. Die eigene Rolle sieht Mohamed Ikoubaân, bedingt durch die syrische Situation, diesmal anders: „Wir sind nun mehr Moderator als Kurator. Das bedeutet, wir fragten syrische Künstler und Ausstellungsmacher hier selbst Programmpunkte beizusteuern.”
Außergewöhnlich war dieses Jahr bereits der Beginn des Festivals: Mitte Januar gab es einen zweitägigen Prolog in Beirut. „Die Grenze nach Libanon ist diejenige, die Syrer noch überqueren können.”, so Mohamed Ikoubaân. Der Auftakt in Beirut zollt dem Stellenwert der Stadt für syrische Künstler*innen Tribut. Was den Veranstaltungsmonat in Brüssel betrifft, hat Moussem sich inzwischen einen Namen gemacht. Man rechnet mit 5.000 Besucher*innen, wobei kleine, intime Veranstaltungen weiterhin ein wichtiger Bestandteil sind.
Prädestinierter Schauplatz dafür: die Kaaistudio’s ganz im Westen des Brüsseler Zentrums. Draußen liegt der Kanal, dahinter beginnt Molenbeek. Drinnen verwinkelte Räumlichkeiten, enge Treppen, eine Bar mit Veranda als Herzstück, von wo die Besucher*innen zu den Vorstellungen abgeholt werden und wo sich dazwischen alles wieder einfindet. Künstler*innen, Veranstalter*innen und Publikum: hier läuft nach dem letzten Applaus des Abends alles durcheinander.
Die Intimität kann dabei durchaus auch verstörend wirken. Etwa im Fall von „The Math Book“ von Hiba Alansari, halb Performance, halb Trümmerlandschaft-Installation nach einem Bombenangriff. In dieser Situation stieß Hiba Alansari 2014 im Norden Syriens auf ein Mathematikbuch. Es gehörte einem Mädchen namens Nour Bazakadi, das bei dem Bombardement starb und dem nun die Vorstellung gewidmet ist.
Puzzlestücke aus dem Krieg
Diese Konstellation bringt das Publikum, das gleich hinter den weiß markierten Grundrissen eines zerstörten Hauses hockt, unmittelbar an das Geschehen heran. Innerhalb der Markierung bewegt sich Hiba Alansari zwischen zwei Trümmerhaufen. Einer enthält beschädigten Hausrat, der andere verkohlte Dachziegeln. Alansari sucht zwischen den Überresten nach Brauchbarem, schiebt einzelne Gegenstände zwischen den Haufen hin und her, legt Besteck auf Ziegeln, markiert sie mit mathematischen Formeln und Symbolen.
All das ist ein hilfloser Versuch, so etwas wie Ordnung zu bringen in die vollkommene Zerstörung. Mal geht die Protagonistin zielstrebig und energisch auf und ab, mal kriecht sie mühsam über den Boden. Die Hände sind geschwärzt vom Ruß der Ziegeln. Ab und an übermannen sie Erschöpfung und Verzweiflung. Sie bettet das Gesicht, liegend zwischen den Trümmern, in die Armbeuge, zwingt sich aber umgehend weiterzumachen. Hiba Alansari ist ein syrischer Sisyphos, umgeben von der atemlosen Stille eines kleinen Theatersaals. Klingt sie so, die furchtbare Stille einer zerbombten Stadt unmittelbar nach einem Angriff?
Eine gute halbe Stunde dauert „The Math Book“ und just durch die stetigen Wiederholungen ihrer eintönigen wie sinnlosen Handlung baut Hiba Alansari eine Spannung und Beklemmung auf, die drückend ist und fast zu viel für den kleinen Raum. Ab und an steigt ein neues Grollen aus den Lautsprecherboxen im Hintergrund, so als gehe das Bombardement in der Ferne noch weiter. Vielleicht sind es auch Echos oder Vorboten neuen Horrors. Mit einem Mal macht die Trümmerfrau der Sache ein Ende. Wie in Panik rennt sie hinaus und lässt ein Publikum zurück, das sich kaum zu klatschen traut.
Spielerischer, aber nicht weniger eindringlich ist die Vorstellung „Temporary Stay“ der Theatermacher*innen Waël Ali und Chrystèle Khodr. Sie stellen die aktuelle Situation Syriens und der Region in den Kontext früherer Krisen, was in beiden Fällen biografisch bedingt ist. Waël Ali verließ das Land 2006 zum Studieren und lebt heute in Lyon. Die Libanesin Chrystèle Khodr hat syrische Vorfahren. Kennengelernt haben sie sich vor fünf Jahren. Ihre Zusammenarbeit geschah aus der Distanz, mit viel Skypen und mehreren zweiwöchigen Residenzen in Frankreich und Beirut.
„Temporary Stay“ basiert auf einer alten Audioaufnahme von 1976. Eine zufällig gefundene Cassette, auf der ihr nach Schweden geflüchteter Onkel Nouri vom Leben dort berichtet, unterbrochen durch Reflexionen und Monologe. Bisweilen ist das sarkastisch und komisch, wenn es um die vermeintliche Exotik des Lebens so nah am Nordpol geht, um den Vater, der betrunken einen Goldfisch tötet, um die Geflüchteten des libanesischen Bürgerkriegs, die erste sprachliche Gehversuche in Schweden unternehmen.
Punktuell geht es aber auch durch Mark und Bein – etwa wenn Chrystèle Khodr von ihrer Famile spricht, „von der in den letzten 100 Jahren niemand im gleichen Land geboren wurde und starb“. Von einem Hund namens Soez, den die Familie irgendwann einmal hatte. Von den Erinnerungsstücken, die jeder Mensch nun mal irgendwo aufbewahrt und die im Fall ihrer Familie verteilt auf mehrere Städte und Länder in irgendwelchen Kellern lagern.
Der Krieg, das ist die Botschaft, kommt immer wieder. „40 Jahre später, dasselbe Geräusch. Als ob der Krieg retro wäre”, heißt es in einem Monolog Chrystèle Khodrs. „Für mich ist es schwierig, die Perspektive auf Syrien zu beschränken”, sagt Waël Ali nach der Vorstellung in der Bar. „Es ist eine ganze Serie von Kriegen in der Region, die bewirkt, dass die Lebenslandschaften der Menschen verschwinden.”
Gerade unter diesen Gesichtspunkten nehmen zwei Künstler*innen eine besondere Stellung im Festivalprogramm ein: Hoor Malas, eine 32-jährige Tänzerin, und der vier Jahre jüngere Theaterschauspieler Mayar Alexane, beide Absolvent*innen des Konservatoriums von Damaskus. Während die übrigen Moussem-Teilnehmenden von überall herkommen, aus Frankreich und der Türkei, den Niederlanden, Berlin oder Beirut, sind Hoor und Mayar die einzigen, die noch in Syrien leben. Und sie haben keinerlei Ambitionen, sich auf diese Rolle festlegen zu lassen.
„Was wir machen, ist universal”, sagt die Tänzerin mit Nachdruck. „Wir sind zwar Künstler aus Syrien, aber keine syrischen Künstler.” Mayar Alexane ergänzt: „Es ist beinahe ein Stereotyp. Eigentlich wollen wir Veranstaltungen vermeiden, die einen direkten Bezug zu Syrien haben. Es ist hip, damit Geld zu machen.” Die Frage liegt auf der Hand: Nervt das eigentlich, Journalist*innen, die immer wieder vom Krieg beginnen? Sie scheinen erleichtert, das einmal unumwunden herauszulassen. „Ja, absolut!” Hoor Malas erklärt: „Wir fragen uns dann, sind sie an unserer Arbeit interessiert oder haben wir nur die Nationalität, die sie suchen?”
Dass die beiden trotzdem nach Brüssel gekommen sind, gemeinsam mit ihrem Produktionsmanager Ibrahim Diab, liegt am besonderen Konzept des Cities Festivals. Dort sind sie nun die einzigen Repräsentant*innen einer „zerbrochenen Szene” (Programmheft), die, wie Mayar Alexane berichtet, deutlich kleiner ist, weil viele Künsler geflohen sind, und die deutlich weniger Veranstaltungen organisiert. Der Rahmen, in dem sie agieren, ist doppelt problematisch: zum einen war da die alltägliche Wirklichkeit des Kriegs. Und dann stoßen sie, wenn sie in Europa auftreten, auf den Blick des Publikums, der zumindest zum Großteil vom Horror der Nachrichtenbilder geprägt ist.
Die Tauben sollen wieder fliegen
Genau dies zeigte sich eben in der Premiere ihrer Performance „Three Seconds“, die auf die durchschnittliche Länge einer Traumsequenz referiert. Hoor Malas turnte und tanzte, sie faltete sich in einem Regalfach zusammen, flirtete und küsste ihr Ebenbild im Spiegel, während Mayar Alexane sie als Lichtmeister in Szene setzte. Metallisches Blau, sanftes Gelb und virtuose Taschenlampenblitze akzentuierten die unterschiedlichsten Trauminhalte. Und ja, ein Alptraum war auch dabei, doch der, so Hoor Malas, war „ziemlich kondensiert”.
Als Zuschauer*in ist man allerdings geneigt, den bedrückenden Sequenzen mehr Gewicht beizumessen. Müssen Damaszener Träume nicht per se mehr Horror verarbeiten? Wenn die Protagonistin sich am Ende verzweifelt bemüht aufzuwachen, ist das kein Hinweis auf den unendlichen Schrecken des Lebens in Syrien? Womit man sich selbst durchaus fragen kann: Gestehen wir Künstler*innen aus Kriegsgebieten eine universelle und vermeintlich unpolitische Themenauswahl zu, wie dem Traum als letztem Rückzugsort des Individuums?
Solcherlei Reflexionen anzustoßen, gehört zu den Qualitäten dieses Festivals. Stimuliert wird dies wiederum durch ein Konzept, das breit gefächert und zugleich nuanciert ist. Bestes Beispiel ist eine Ausstellung namens „Kashash“, die derzeit im Bozar zu sehen ist, dem prächtigen Palais des Beaux Arts im Zentrum Brüssels. Kashash sind die syrischen Taubenzüchter, die seit 2011 unter Druck geraten sind. Im Krieg beanspruchten Scharfschützen die Dächer. In Raqqa wurde die jahrtausendealte Tätigkeit vom IS verboten und Taubenzüchter exekutiert. Die Ausstellung, zu der 22 Künstler*innen aus zehn Ländern beitrugen, begreift sich selbst als Appell für „friedliche, freie syrische Himmel”, in denen die Tauben wieder tanzen.
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