Die erste große Flüchtlingskrise, mit der Luxemburg konfrontiert wurde, wurde in den Dreißigerjahren durch die Ankunft der Verfolgten aus Deutschland, besonders der jüdischen, ausgelöst. Humanitäre Gesichtpunkte bestimmten damals kaum die Luxemburger Regierungspolitik.
Ungarn 1956, Chile 1973, Vietnam 1975. Die wenigen Angaben zur Geschichte der Flüchtlingspolitik in Luxemburg beziehen sich auf internationale Ereignisse aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Flucht von verfolgten Menschen oder Bevölkerungsgruppen hat es immer gegeben; als fundamentales Recht gilt Asyl dagegen erst seit der Menschenrechtskonvention von 1948: Die katastrophalen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs hatten es möglich gemacht, dass die UNO-Mitgliedstaaten diesem Grundsatz zustimmten.
Vorher sahen sich die Regierungen nicht in der Pflicht, Asylsuchende aufzunehmen. Doch zwischen 1933 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs verließen eine halbe Million Menschen gegen ihren Willen Deutschland, mehr als die Hälfte von ihnen war nach Nazi-Kriterien jüdisch. Auslösende Momente waren der Machtantritt Hitlers Ende Januar 1933, der Anschluss des Saargebiets (in dem sich viele Verfolgte aufhielten), das Inkrafttreten der Nürnberger Rassengesetze im September 1935 und schließlich die Ereignisse des Jahres 1938: Anschluss Österreichs im Frühjahr, gescheiterte Konferenz von Évian im Juli, Sudetenkrise ab September, Einführung des Juden-Stempels in Pässen im Oktober, Reichspogromnacht im November. Die Gesetze zur wirtschaftlichen Arisierung ab November 1938 machten das Überleben für „Nicht-Arische“ in Deutschland vollends unmöglich.
Wie verhielt sich dazu die rechtsliberale Regierungskoalition in Luxemburg, die seit 1926 am Ruder war? Diese Frage kann nicht losgelöst vom Status der einheimischen jüdischen Gemeinschaft beantwortet werden. Die Einführung des Gleichheitsprinzips durch die französische Revolution hatte die jüdische Wiederansiedlung in Luxemburg überhaupt erst möglich gemacht, doch in der Praxis stieß die jüdische Emanzipation an ihre Grenzen. So schien es in Luxemburg – anders als in den Nachbarländern – bis zum Zweiten Weltkrieg ein ungeschriebenes Gesetz zu geben, das jüdische Glaubensangehörige vom Staatsdienst ausschloss. In der Magistratur wurde lediglich 1937 der Rechtsanwalt Roger Cahen zum Richter ernannt. Als 1940 unter der Nazi-Okkupation jüdische Staatsbedienstete entlassen werden sollten, wurden beim Personal der Sekundarstufe nur zwei, zudem konvertierte, katholische Lehrer „jüdischer Abstammung“ gemeldet, bei den Primärschulen kein einziger Fall.
Dagegen waren im freien Advokaten- wie auch im Arztberuf bereits seit dem 19. Jahrhundert vereinzelt Juden tätig. Während in Frankreich die Ärzteschaft 1933 ein Gesetz gegen die Zulassung sogenannter EmigrantInnen erzwang, erübrigte sich diese Diskussion jedoch in Luxemburg: Hier legte ein seit 1901 gültiges Gesetz die Luxemburger Nationalität als Bedingung für ärztliche Tätigkeit fest. Daher konnte etwa 1937 der vakante Arztposten in Junglinster trotz dringenden Bedarfs nicht mit dem aus Deutschland stammenden jüdischen Arzt Heinrich Goldberg besetzt werden.
Im Handel aber waren jüdische Geschäftsleute, mit oder ohne Luxemburger Pass, seit jeher etabliert. Auch die jüdischen Flüchtlinge, die in Luxemburg ankamen, versuchten, sich auf diesem Weg zumindest eine temporäre neue Existenz aufzubauen. Auf den massiven Druck des Mittelstands hin wurde aber die Erteilung von Handelsgenehmigungen an ausländische Geschäftsleute immer strengeren Regeln unterworfen. Die fremdenfeindlichen Maßnahmen trafen die jüdische Minderheit besonders stark, weil der ausländische Anteil an dieser Gruppe stetig zunahm: 1935 stellten von insgesamt 3144 jüdischen Glaubensangehörigen die Luxemburger nur 871, also knapp 28%.
Bech greift ein
Am Abend des 20. März 1933 spazierte der Luxemburger Vizekonsul für Deutschland, Jean Sturm, auf dem Berliner Boulevard „Unter den Linden“, als er von drei jungen Nazis angegriffen wurde. Sein Äußeres sei ihnen, wie Sturm in einem Brief an Staats- und Außenminister Bech berichtete, „’nicht germanisch‘ oder sonst wie verdächtig“ erschienen. Damit war Luxemburgs Außenministerium erstmals handfest mit der nationalsozialistischen Weltsicht konfrontiert.
Bereits kurze Zeit später, am 29. März 1933, informierte Vizekonsul Sturm das Luxemburger Außenministerium über die Konsequenzen des angekündigten nationalsozialistischen Boykotts gegen jüdische Geschäfte, liberale Berufe und Staatsbedienstete in Deutschland. Sturm berichtete: „Eine grössere Anzahl von Betroffenen ist schon gestern und heute beim Generalkonsulat vorstellig geworden, um sich über die Einreise- und Niederlassungsbedingungen im Grossherzogtum zu unterrichten. Wahrscheinlich werden sich viele Auswanderungsbedürftige nach den westeuropäischen Ländern orientieren und dort einzudringen versuchen, wo die Einwanderungssperre am wenigsten streng gehandhabt wird.“
Die Wortwahl in dieser Meldung macht deutlich, dass man die durch die Hitler’sche Judenpolitik ausgelöste Fluchtbewegung keineswegs unter humanitären Gesichtspunkten betrachtete. Am 6. April informierte Außenminister Bech die Luxemburger Konsulate in Deutschland, die Regierung lasse die Frage prüfen, „ob und wie gegebenenfalls einem unerwünschten Zustrom von ausländischen Israeliten zu begegnen ist“.
Woran Bech dabei dachte, zeigte sich in den nächsten Wochen: Am 15. April 1933 wies er die Polizei an, wie mit „politischen Flüchtlingen, vorwiegend Juden, welche zurzeit besonders aus Deutschland ins Großherzogtum einreisen“ zu verfahren sei. Diejenigen, die Existenzmittel sowie eine Unterkunft bei Verwandten nachweisen könnten und nur vorübergehend in Luxemburg zu bleiben beabsichtigten, hätten sich unverzüglich polizeilich zu melden. Auf keinen Fall dürften die Flüchtlinge einer bezahlten Arbeit oder einem Handel nachgehen. Die anderen sollten in ein Nachbarland „ihrer Wahl“ abgeschoben werden.
Die Kommissariate wurden ebenfalls verpflichtet, wöchentlich über die Zahl der Ankömmlinge Bericht zu erstatten. Das Resultat war nicht ergiebig: Im Zeitraum von Mitte April bis zum 18. Mai 1933 wurden insgesamt 28 Personen notiert, auf die nach Meinung der Polizeibediensteten die Beschreibung „politische Flüchtlinge / Juden“ passte. Dies war der erste Schritt des Luxemburger Staates weg vom verfassungsmäßigen Gleichheitsprinzip.
Die Zählungen wurden zunächst eingestellt, ab 1935 aber vom neuen Fremdenkartendienst wieder aufgenommen. Alle Erstanmeldungen von Fremden wurden notiert, bald wurde dabei auch eine spezifische „Juden“-Rubrik eingeführt. Es ist nicht ersichtlich, wer diese Anordnung gegeben hatte und wie die Fremdenpolizei Jüdisch-Sein definierte.
Bech war 1933 aber auch auf rechtlicher Ebene aktiv geworden. Dabei kam ihm sehr gelegen, dass die Reform des Naturalisierungsgesetzes, die sich bereits seit Jahren auf dem Instanzenweg befand, in ihrer parlamentarischen Abschlussphase angelangt war. Bech sprang auf diesen Zug auf und kündigte im Mai im Parlament neue Änderungsvorschläge zur geplanten Reform an. Neben der Verdoppelung der bis dahin geltenden minimalen Residenzdauer von fünf Jahren für die Naturalisierung schlug er die Einführung bzw. Erhöhung von Taxen bei Pässen, Naturalisierungen, Optionen und Aufenthaltsgenehmigungen sowie die Einführung einer Fremdenkarte vor.
Bech war also regelrecht in Panik geraten. Mit seinem Vorgehen überrumpelte er nicht nur die mit der Reform befasste Spezialkommission, sondern griff in die Ressorts von Justizminister Dumont und Finanzminister Dupong ein. Im Entwurf hieß es, die neuen Maßnahmen seien umso notwendiger, als „depuis mars 1931, date à laquelle le Conseil d’Etat a émis son avis, la situation a singulièrement changé“. Bechs Vorschläge wurden schließlich allesamt vom Parlament akzeptiert, auch von dem Berichterstatter René Blum von der Arbeiter-Partei. Nach 1935 erfolgten auch bis zum Krieg keine Naturalisierungen mehr.
Die Frage der jüdischen Flüchtlingskinder
Im Dezember 1933 schrieb Bech als Unterrichtsminister an das Inspektorenkollegium der Primärschulen, die Regierung sei mit Anfragen zu Plänen befasst worden, in Luxemburg Internate für schulpflichtige jüdische Kinder aus Deutschland einzurichten, deren Eltern weiterhin dort lebten. Solche Internate hätten es den jüdischen Kindern ermöglicht, die Luxemburger Primärschulen zu besuchen. „J’ai cru devoir me prononcer contre l’autorisation sollicitée,“ schrieb Bech. „En effet, d’une part, l’affluence d’élèves étrangers ne saurait être dans l’intérêt de nos écoles et d’autre part, ce ne peut être la mission de nos écoles de donner l’instruction à des élèves étrangers dont les parents resteront domiciliés à l’étranger.“ Es stelle sich darüber hinaus die Frage, ob möglicherweise schon jetzt jüdische Familien aus Deutschland ihre Kinder in Luxemburg unterbrächten. Deshalb verlangte Bech eine prinzipielle Stellungnahme des Inspektorats zu dieser Frage.
Auch das Inspektorenkollegium sprach sich in seiner Reaktion „contre l’admission des enfants israélites en question à nos écoles primaires“ aus, weil die Schulpflicht lediglich Kinder von BewohnerInnen des Großherzogtums treffe. Jedoch müsse eine Entscheidung in dieser Materie „d’une manière uniforme“ die Zulassung sämtlicher ausländischen Kinder, nicht bloß der jüdischen, regeln, deren Eltern im Ausland wohnten. Damit machte das Kollegium aus Bechs „Judenproblem“ semantisch immerhin wieder ein „Ausländerproblem“, zeigte aber keine empathischen Regungen zugunsten der jüdischen Kinder.
Das Lehrpersonal wurde nun aufgefordert, eine Liste der ausländischen Kinder in ihren Schulklassen zu erstellen, deren Eltern im Ausland lebten. Die Antworten zeigen, dass von mehreren Dutzend Kindern aus dem ganzen Land die wenigsten ihrem Namen oder dem ihrer Eltern bzw. Verwandten nach jüdisch waren. Nur vereinzelt, und vor allem im Fall jüdischer Kinder gaben die Lehrkräfte – ungefragt – deren Religion an. Nun schlug das Unterrichtsministerium vor – vielleicht weil das Phänomen marginal war -, dass in Zukunft eine formelle Genehmigung der Gemeindeverwaltung und die Zustimmung der Regierung in Betracht zu ziehen sei. Das Kollegium schloss sich dieser Linie an. Damit war die anfangs von Bech visierte harte Linie vom Tisch.
Aus den folgenden Jahresberichten des Schulpersonals geht hervor, dass besonders in den letzten Vorkriegsjahren die Zahl der Fälle anstieg, in denen ausländische Kinder von in Luxemburg lebenden Familienangehörigen aufgenommen wurden. So reichte die Stadt Luxemburg für das Schuljahr 1937-38 eine Liste von 30 Kindern ein, von denen etwa ein Drittel – aufgrund ihres Namens – als jüdisch einzustufen ist. Soweit ersichtlich, wurde keines von ihnen abgelehnt.
Doch auch dieses Beispiel zeigt, dass die Grundhaltung der Regierung gegenüber den jüdischen Flüchtlingen zu einer Abschottungspolitik tendierte, mit Joseph Bech als treibender Kraft. Anders als das ebenfalls neutrale Belgien unterschrieb Luxemburg auch nicht die internationalen Flüchtlingskonventionen von 1933 und 1936. In der Regierungspolitik wird dabei ein „doublespeak“ sichtbar: Während sich diese offiziell gegen alle Fremden wandte, wurde verwaltungsintern klar ausgesprochen, dass jüdische Flüchtlinge visiert waren. Sowohl außen- als auch innenpolitische Erwägungen, besonders gegenüber dem in der Vorkriegsgesellschaft virulenten Nationalismus und Antisemitismus, spielten bei dieser Ablehnung eine Rolle. Nicht zu unterschätzen ist aber wohl auch die persönliche Einstellung der Regierungsmitglieder selbst.
Quellen
Anlux, AE-00428; AE-03831; IP-1429; IP-1441; IP-1557.
Artuso, Vincent: La « question juive » au Luxembourg (1933-1941). Luxembourg 2015.
Caestecker, Frank / Moore, Bob: Refugees from Nazi Germany and the Liberal European States. Oxford, New York 2010.
Caron, Vicki: Uneasy Asylum. Jersualem, New York 2008.
Gloden, Marc: Die Asylpolitik Luxemburgs von 1933 bis 1940. Trier 2001.
Schor, Ralph: L’antisémitisme en France pendant les années trente. Bruxelles 1991.
Scuto, Denis: La nationalité luxembourgeoise (XIXe – XXIe siècles), Bruxelles 2012.
Flüchtlingspolitik in der Vorkriegszeit
Die Rolle von Regierung und Verwaltungskommission gegenüber der nationalsozialistischen Judenpolitik nach dem 10. Mai 1940 steht seit einigen Monaten in der Diskussion. Doch wie verhielten sich die Regierenden davor, als sie noch freie Entscheidungskraft hatten? Darum geht es in einem zweiteiligen Beitrag zum Aspekt der jüdischen Flüchtlinge in Luxemburg. Er beruht auf den ersten Ergebnissen des Promotionsvorhabens der Autorin zu Judentum und Antisemitismus in Luxemburg.
Im zweiten Teil in der nächsten Ausgabe (8.1.2016) wird gefragt, welchen Einfluss der Eintritt der Arbeiter-Partei in die Regierung nach den Wahlen von 1937 hatte.
Einige Portraits zu den Schlüsselfiguren der Flüchtlingspolitik der Dreißigerjahre gibt es auf unserer Internetseite. woxx.lu/schluesselfiguren