Krav Maga, Schlagtechniken, Empowerment: Selbstschutzkurse für Frauen boomen, doch was bringen sie wirklich? Zwischen Fitness und feministischer Kritik geht es um mehr als körperliche Techniken.

Krav Maga ist ein System von leicht erlernbaren, aber effektiven Techniken. (Foto: M. Wurm)
Es knallt laut, als Mariane Huards Fäuste wieder und wieder auf das Schlagpolster treffen. Eine junge großgewachsene Frau hält es ihr auf Brusthöhe hin und feuert sie dabei an. „Weiter, weiter, weiter!“ Nach 60 Sekunden hat sie es geschafft: Mariane Huard atmet kurz durch und nimmt das Schlagpolster mit einem Lächeln entgegen. Die Rollen werden getauscht und schon geht es in die nächste Runde. „Ich wollte etwas machen, um mich sicherer zu fühlen und mir mehr Selbstvertrauen zu geben, wenn ich mich in weniger sicheren Gegenden befinde“, erzählt Mariane während des Trainings im Krav Maga Center in Walferdingen. Viel Zeit für Gespräche bleibt nicht, die Halle ist voll. An diesem Abend sind ein paar mehr Männer als Frauen da, aber die Geschlechterverteilung hält sich im Vergleich zu klassischen Kampfsportschulen die Waage. Heute zeigen die Betreiber*innen Marc Stolz und Jennifer Carat eine Technik zur Abwehr eines Würgeangriffs. Beide waren zuvor beim Militär und bei der Polizei, ehe sie zusammen ein Fitness-Studio mit Krav Maga-Kursen gegründet haben.
In den letzten Jahren haben sie im Club großen Zuwachs erfahren. Heute nutzen auch viele Frauen das Krav Maga Angebot des Studios. „Viele kommen, um an ihrer Fitness zu arbeiten und entdecken dann, dass ihnen die Kombination aus körperlicher Herausforderung, Verteidigung und Technik vom Krav Maga gefällt. Andere kommen gezielt zum Selbstschutz. Für beide Gruppen ist der Einstieg das Schwierigste“, fasst Marc Stoltz die Motivation der weiblichen Teilnehmerinnen zusammen und erklärt das Prinzip von Krav Maga: „Never give up. Auch wenn du körperlich nicht stärker bist als dein Gegner, hast du eine gute Chance, wenn du nicht aufgibst. Das ist unsere Philosophie.“ Mariane Huard hat den Einstieg hinter sich gelassen und sichtlich Spaß daran, ihre eigene Kraft am Gegenüber auszuprobieren. „Ich trainiere jetzt seit etwas über einem Jahr und komme normalerweise einmal pro Woche zum Krav-Maga-Kurs und zwei- bis dreimal zu anderen Kursen.“ Krav Maga entstand kurz vor dem zweiten Weltkrieg und war ursprünglich als Methode einfach erlernbarer, aber effektiver Techniken zur Verteidigung gegen antisemitische Übergriffe angelegt. Später übernahm das israelische Militär die Kampfart und erweiterte es entsprechend. Trotz der simplen Techniken gilt: Nur durch regelmäßiges Training lassen sich diese im Ernstfall auch sicher abrufen.
Historischer Rückblick
Selbstschutz- und Selbstbehauptungskurse für Frauen erleben seit Jahren eine steigende Nachfrage, befeuert durch konkrete Ereignisse, wie die zahlreichen öffentlichen Übergriffe in der Silvesternacht zu Köln im Jahr 2016, die 2017 entstehende #MeToo Bewegung und die allgemein steigenden Zahlen zu geschlechterspezifischer Gewalt. Schaut man auf die Ursprünge derartiger Angebote, stellt man fest, dass dieses Prinzip alles andere als neu ist. Ähnlich wie Krav Maga, entwickelten sich die Anfänge von Selbstschutzkursen aus einer gesellschaftlichen Bewegung für Frauenrechte und mitfolgende Gegenreaktionen heraus. Die Suffragetten, eine britische, feministische Protestbewegung, die sich Anfang des 19. Jahrhunderts für das Frauenwahlrecht einsetzten, erkannten früh, dass politischer Protest auch körperliche Gegenwehr erfordern kann. Aktivistinnen wie Edith Garrud unterrichteten Jiu-Jitsu, um sich sowohl gegen Übergriffe durch die Polizei als auch durch Gegendemonstranten verteidigen zu können. So wurde „Suffrajitsu“ zu einem frühen Ausdruck feministischer Selbstermächtigung, der Sicherheit und politisches Handeln miteinander verknüpfte.

Edith Garrud unterrichtete Anfang des 19. Jahrhunderts Jiu-Jitsu, um Feministinnen gegen Polizei und politische Gegner wehrhafter zu machen. (Foto: WikiCommons)
Als erstes vollständiges System, das als Gesamtkonzept speziell für Frauen entwickelt wurde, gilt Wendo, ein zusammengesetztes japanisches Kunstwort für Frau („Wen“) und Weg („Do“), das im Zuge der zweiten Welle des Feminismus in den 1960er- und 1970er-Jahren entstand. Das kanadische Ehepaar Anne und Ned Paige entwarf das Konzept nicht als neue Kampfsportart, sondern vielmehr als Präventionsprogramm gegen Gewalt. Es kombiniert einfache körperliche Techniken mit mentaler Stärkung und der gezielten Förderung von Selbstbewusstsein und Selbstbehauptungskompetenzen im Alltag. Inspiriert wurde auch diese Initiative durch ein tragisches Ereignis. In 1964 wurde Catherine Susan Genovese in New York City von einem ihr unbekannten Mann auf offener Straße vergewaltigt und ermordet, ohne dass Zeug*innen der Tat Hilfe holten. Der Fall löste eine gesellschaftliche Debatte um die Gleichgültigkeit von Menschen in Großstädten aus, und prägte den Begriff des Bystander-Effekts. Auch Genovese-Syndrom genannt, beschreibt dieser, wie die Wahrscheinlichkeit von Hilfeleistungen sinkt, je mehr potenzielle Zeug*innen anwesend sind.
Der Zuwachs, den Krav Maga und Selbstschutzkurse im letzten Jahrzehnt erfahren haben, entstand nicht zuletzt, weil das daraus entstandene Credo „Hilf dir selbst, weil niemand anders es tut“ von kommerziellen Anbietern genutzt wurde, um mit geschürter Angst neue Mitgliedschaften zu generieren. Die Qualität der Schulen und ihre Eignung als Konzept für wirksamen Frauenschutz lief dabei Gefahr zur Nebensache zu verkommen. Nicht jedes Kursangebot, das unter dem Label „Selbstschutz“ oder „Selbstverteidigung“ firmiert, hält, was es verspricht. Während einige Programme auf fundiertes Training, realistische Szenarien und langfristige mentale Stärkung setzen, beschränken sich andere auf oberflächliche Techniken und veraltete Rollenbilder. Entscheidend ist, ob ein Kurs Frauen tatsächlich Handlungssicherheit vermittelt. Denn Selbstschutz bedeutet nicht nur, sich im Ernstfall wehren zu können, sondern auch im Alltag Grenzen zu setzen, klar, klar zu kommunizieren und sich Raum zu nehmen.
Geschlechtsspezifische Gewalt
Aus feministischer Perspektive stellt sich zudem die Frage, welche gesellschaftliche Botschaft vermittelt wird, wenn gezielt Selbstschutzkurse für Frauen vermarktet werden. Wird hier das Muster von Frauen als Opfer reproduziert? Oder schlimmer noch: Wird geschlechtsspezifische Gewalt zum „Frauenthema“ erklärt – und liefert das Männern eine bequeme Ausrede, Verantwortung zu vermeiden? Fest steht: Solange wir darüber sprechen, wie sich Frauen zu verhalten haben – welche Kleidung sie tragen, wann und wo sie sich draußen aufhalten – anstatt die Taten und Entscheidungen der Täter zu hinterfragen, verfehlen wir die eigentliche Dimension des strukturellen Problems geschlechtsspezifischer Gewalt. Statt nur an Symptomen zu arbeiten, sollten vielmehr die Ursachen hinterfragt werden: Warum fühlen sich Frauen in öffentlichen Räumen überhaupt unsicher? Ein Problem, dass zudem nicht nur Frauen, sondern auch trans- und nicht-binäre Personen betrifft.
„Es gibt zwei Perspektiven, die man gleichzeitig sehen muss“, sagt Claire Schadeck vom CID Fraen an Gender (CID) gegenüber der woxx. „Einerseits müssen wir natürlich an die Strukturen ran. Andererseits kann ein solches Kursangebot auch ein Mittel sein, um das Gefühl von Sicherheit zu stärken. Die Frage ist dann: Bleibt es bei einem Gefühl, oder trägt es wirklich zu mehr Sicherheit bei?“ Ihrer Erfahrung nach, tappen Selbstschutzkurse für Frauen, besonders wenn es sich um einmalige Angebote handelt, wie bei Aktionstagen während der Orange-Week im November oder dem Weltfrauentag im März üblich, häufig in die Falle nur statische Techniken zu vermitteln, ohne wie bei regelmäßigem Kampfsporttraining in ein echtes Zweikampfszenario zu kommen. Trotz dieser Gefahr, bietet auch das Krav Maga Center Luxemburg zu bestimmten Gelegenheiten anlassbezogene einmalige Kurse für Frauen an. „Wir erklären, worauf zu achten ist, zeigen einfache Techniken, zum Beispiel den Frontkick, der bei fast allen gut funktioniert, und wie Körpersprache, Hände hoch, klare Ansagen („Stopp!“) wirken“ sagt Jennifer Carat. „In drei Stunden kann man mehr lernen, als viele denken.“

(Foto: M. Wurm)
Studien, die belegen, dass Ein-Tages-Kurse wirklich zur Sicherheit von Frauen beitragen, gibt es nicht, anders sieht es allerdings bereits bei Angeboten aus, die über ein paar Wochen hinweg angelegt sind. Hier konnte gezeigt werden, dass Frauen, die ein Selbstschutzstraining absolviert hatten, deutlich seltener Opfer sexualisierter Gewalt wurden. Zudem bestätigten Analysen, dass körperliche und verbale Gegenwehr bis zu 80 Prozent von Übergriffen verhindern konnten, ohne das Risiko schwerer Verletzungen zu erhöhen. Ein wesentlicher Grund, warum Frauen mit Erfahrung im Selbstschutztraining seltener Opfer von Übergriffen werden, liegt nicht allein in der Fähigkeit zur effektiven Abwehr. Vielmehr verändert das gestärkte Gefühl von Selbstwirksamkeit ihr Auftreten im Alltag – sie bewegen sich mit mehr Sicherheit, Klarheit und Selbstvertrauen. Dieses veränderte Auftreten wirkt abschreckend auf potenzielle Täter und kann das Risiko, angegriffen zu werden, deutlich verringern.
Auch das CID überlegt deshalb derzeit, ein entsprechendes Training in den eigenen Räumen anzubieten, ohne das strukturelle Problem von Gewalt auszuklammern. „Strukturelle Veränderung muss von politischer Seite angestoßen werden“, sagt Claire Schadeck „aber wir leben nun mal in einer Gesellschaft, in der Gewalt gegen Frauen Realität ist. Unsere Angebote dürfen strukturelle Maßnahmen nicht ersetzen, sondern müssen damit einhergehen.“ Außerdem spricht sie noch ein anderes Problem an: Angebote, die sich nur auf die körperliche Gegenwehr und Schlag- oder Tritttechniken fokussieren, vernachlässigen, dass der Großteil von geschlechtsspezifischer Gewalt im Rahmen der eigenen vier Wände, oder des engen sozialen Umfelds stattfindet. Täter sind in der Regel nicht die „angsteinflößenden Fremden“, die hinterrücks überfallen, sondern der eigene (Ex-)Partner, Ehemann, Arbeitskollege oder Freund. „Das heißt nicht, dass man sich dort nicht verteidigen müsste, aber die Form der Gewalt und die Anforderungen an Selbstschutz sind dann andere“, so Schadeck.
Nachhaltige Veränderung
Mit einer dynamischen Bewegung befreit Mariane Huard ihren Hals von den Händen des „Angreifers“ und hält diese fest, um gleich darauf einen Tritt zwischen die Beine und einen Ellbogenschlag ins Gesicht folgen zu lassen. „Ja, ich glaube, das funktioniert“, sagt sie. Nach etwas über einem Jahr habe sie ihr Ziel erreicht. Sie fühle sich mit dem regelmäßigen Krav Maga Training viel selbstsicherer als vorher. Auf die Frage, weshalb auch viele Frauen regelmäßig in ihren Krav Maga Kurs kommen, antwortet Marc Stoltz, dass viele Frauen zwar anfangs oft etwas mehr Hemmung vor Körperkontakt und Aggression hätten, „aber wenn sie merken, wie effektiv das Training ist, bleiben viele.“ Jennifer Carat fügt hinzu: „Die Atmosphäre hier spielt sicher auch eine Rolle. Wir dulden keine Ego-Männer. Und weil wir Ex-Polizisten sind, fühlen sich viele Frauen sicher bei uns.“
So bestimmt das Gefühl von Sicherheit Weg und Ziel zugleich. Selbstschutzkurse funktionieren in erster Linie auf individueller Ebene: sie können Frauen stärken, Handlungsspielräume eröffnen und Sicherheit vermitteln. Doch ohne eine strukturelle, politische Basis bleibt die Zahl der Betroffenen am Ende gleich und es verändert sich nur, wer zum Opfer wird. Der Mythos der wehrlosen Frau muss gesamtgesellschaftlich entkräftet werden. Wirklich nachhaltig kann Gewaltprävention nur dann sein, wenn sie nicht als isolierte Maßnahme verstanden wird, sondern als Teil eines größeren Ganzen: eingebettet in politischen Willen, konsequente Täterarbeit, strukturellen Opferschutz und ein gesellschaftliches Klima, das Verantwortung dorthin rückt, wo sie hingehört. Ein einzelner Kurs wird geschlechtsspezifische Gewalt nicht beenden, doch er kann den Anstoß zu einem Perspektivwechsel geben. Einer, der nicht nur Frauen verändert, sondern auch die Welt, in der sie leben.
Gewalt in Luxemburg
Bei effektivem Selbstschutz geht es um mehr als eine bestimmte Technik. Wer lernt, sich aufmerksam und selbstsicher zu bewegen, auf sein Bauchgefühl zu hören, und auf zwischenmenschlicher Ebene konsequent Grenzen zu setzen, reduziert die Gefahr von Gewalt bereits erheblich. Regelmäßiger Kampfsport oder Selbstschutztraining kann hierbei unterstützen. Die Zahl der Opfer von Gewalttaten steigt seit Jahren. 2023 musste die Polizei 1052 mal wegen häuslicher Gewalt ausrücken. Zahlen zu geschlechtsspezifischer Gewalt außerhalb dieses Rahmens werden aktuell in Luxemburg nicht erfasst. Im Laufe des Jahres soll ein Nationaler Aktionsplan zu diesem Thema vorgestellt werden. Anfang Mai wurde das Centre national pour victimes de violences (CNVV) als erste Anlaufstelle für alle Opfer von Gewalt, unabhängig vom Geschlecht, eröffnet.