Genderstereotype
: Hilfreich und schädlich zugleich

Genderstereotype können das Zusammenleben erleichtern, haben aber auch einen ausschließenden und einschränkenden Effekt. Wir haben mit Miriam-Linnea Hale, Doktorandin an der Uni Luxemburg, darüber gesprochen, warum es so wichtig ist, Stereotype bereits im Kindesalter aufzubrechen, und auch Forscher*innen die ihren hinterfragen sollten.

„Es ist wichtig, dass wir als Forscher und Forscherinnen unsere eigenen Stereotype hinterfragen und nicht nur Populationen untersuchen, die bekannten Forschungsmodellen entsprechen“: Doktorandin Miriam-Linnea Hale sieht noch viel Nachholbedarf, wenn es um die Erforschung nicht-binärer Personen geht.
 (Quelle: Universität Luxemburg)

woxx: Sie haben im Rahmen einer internationalen Kollaborationsstudie über Genderstereotype geforscht. Welches sind dabei die wichtigsten Ergebnisse?


Miriam-Linnea Hale: Das wichtigste Ergebnis ist der signifikante Zusammenhang zwischen bestimmten stereotypen Einstellungen und der Bereitschaft von Männern sich für Gleichstellung einzusetzen. In Ländern mit mehr struktureller Gleichstellung war vielfach die Haltung anzutreffen: Jeder Gewinn an Rechten für Frauen ist ein Verlust an Rechten für Männer.

Was könnte der Grund dafür sein?


Es gibt eine Theorie, die nennt sich „precarious manhood theory“. Im Volksmund wird das auch häufig als „toxic masculinity“ bezeichnet. Demzufolge ist Männlichkeit etwas, das in unserer Gesellschaft als Status angesehen wird, den man sich sozusagen verdienen muss und der im Umkehrschluss auch in Frage gestellt werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Theorie würde man dann sagen, dass die größere Gleichstellung in der Gesellschaft den Status der Männlichkeit in Zweifel stellt. Das kann dazu führen, dass Männer sich weniger für Gleichstellung einsetzen aus Angst, dieses Recht zu verlieren. Das wäre zumindest eine theoretische Möglichkeit, diesen Befund zu erklären.

Handelt es sich dabei um eine völlig neue Erkenntnis oder bestätigt Ihre Arbeit vielmehr vorangegangene Studien?


Es handelt sich hierbei um die größte kulturübergreifende Studie zum Thema Genderstereotype der letzten 30 Jahre. Es gab bisher keine vergleichbare Studie, bei der 67 Länder mit teils mehr, teils weniger struktureller Gleichstellung miteinander verglichen werden konnten. Das Level an struktureller Gleichstellung haben wir im Übrigen am Global Gender Index vom World Economic Forum festgemacht. Demzufolge gibt es zurzeit in keinem Land komplette Gleichstellung.

Dass wir in Stereotypen denken, ist evolutionär bedingt, weil sie uns das Leben leichter machen.

Im Titel Ihrer Arbeit ist von „sexisme hostile“ die Rede. Gibt es auch so etwas wie „sexisme bienveillant“?


Bei hostilem Sexismus geht es um Einstellungen wie „Frauen versuchen die Macht zu erlangen, indem sie Kontrolle über Männer beanspruchen“. Es handelt sich um Einstellungen, die in der Gesellschaft häufig auch als sexistisch erkannt werden. Benevolenter Sexismus dagegen ist deutlich subtiler. Darunter fällt etwa die Einstellung, dass Frauen zwar ganz wundervolle, aber leicht zerbrechliche Geschöpfe sind, die von Männern beschützt werden müssen. Benevolenter Sexismus wird gemeinhin nicht als diskriminierend, sondern eher als Zeichen der Höflichkeit angesehen. Dabei implizieren diese Aussagen, dass Frauen schwächer und weniger kompetent sind als Männer, und können, auch wenn gut gemeint, negative Konsequenzen mit sich bringen. Werden solche Ansichten verinnerlicht, können sie beispielsweise die Berufswahl beeinflussen. Sie können aber auch dazu führen, dass etwa ein Mann einer Frau mit gleicher Qualifikation vorgezogen wird, wenn es um eine Führungsposition geht.

Wie kann man denn gegen Sexismus ankommen, egal ob hostil oder benevolent?


Gerade bei benevolentem Sexismus ist es wichtig, Aufklärung zu betreiben und zur Hinterfragung der eigenen stereotypen Einstellungen anzuhalten. Bei hostilem Sexismus sollte die Devise gelten „If you see something, say something“, also gerade auch im Freundes- oder Familienkreis bei sexistischen Aussagen oder Verhaltensweisen einzuschreiten. Über die individuelle Ebene hinaus ist es aber auch wichtig, strukturell gegen Sexismus vorzugehen, beispielsweise indem sexuelle Belästigung geahndet wird.

Sie haben auch über den Zusammenhang von Genderstereotypen und sozialen Medien geforscht. Wie werden erstere denn von letzteren beeinflusst?


Genderstereotype werden von Kindheit an gelernt und entwickeln sich über das ganze Leben hinweg. Viele Studien zeigen, dass neben den Eltern und den Freunden auch Medien eine wichtige Vorbildfunktion für soziales Lernen darstellen. Oft sind Darstellungen in den sozialen Medien stark stereotypisiert und können dadurch Stereotype verstärken. Das klingt erst einmal sehr negativ, aber soziale Medien können ebenso genutzt werden, um über Stereotype zu informieren oder Stereotype zu brechen.

Wenn es um Genderstereotype geht, wird oft die Frage aufgeworfen, inwiefern diese sozial erlernt oder doch evolutionsbedingt entstanden sind. Ist diese Frage berechtigt? Sind Stereotype nicht immer sozial konstruiert?


Dass wir grundsätzlich in Stereotypen denken, ist evolutionär bedingt, weil sie uns das Leben leichter machen. Es ist einfach praktischer, in Kategorien zu denken. Was Genderstereotype angeht, gibt es sicherlich auch welche, die evolutionsbedingt entstanden sind, um die Überlebenschancen zu erhöhen. Es gibt durchaus Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern, etwa anatomische. Daraus aber typische Eigenschaften oder Rollenzuschreibungen automatisch abzuleiten, ist das Problem. Heutzutage existieren Geschlechterrollen nur noch, weil sie uns von unserem Umfeld vorgelebt werden. So ist es zu erklären, dass es bei Geschlechterrollen kulturelle Unterschiede gibt: Je nachdem, in welchem Kontext wir aufwachsen, haben wir andere Vorbilder und erlernen andere Stereotype.

Es gibt noch andere Geschlechter als Männer und Frauen. Werden diese bei der Erforschung von Geschlechter-
stereotypen ebenfalls berücksichtigt?


(pickpik.com)

Momentan ist das leider noch kaum der Fall. In den Studien, die wir durchführen, schließen wir Personen außerhalb der Männlich-Weiblich-Geschlechterbinarität zwar nicht aus, das Problem ist aber, dass das meist nur eine Handvoll Teilnehmende sind. Deshalb ist es uns nicht möglich, signifikante statistische Berechnungen durchzuführen. Das eigentliche Problem ist aber noch ein ganz anderes, und zwar, dass man bezüglich dieser Thematik spezielle Untersuchungen machen müsste, mit Messinstrumenten, die viel inklusiver sind, sowohl in puncto Geschlecht als auch nicht-heterosexueller Orientierungen. Hier steht die Forschung noch sehr am Anfang. In diesem Kontext ist es auch wichtig, dass wir als Forscher und Forscherinnen unsere eigenen Stereotype hinterfragen und nicht nur Populationen untersuchen, die bekannten Forschungsmodellen entsprechen.

Auch durch den gezielten Einbezug von Menschen, deren Geschlechtsausdruck nicht genderkonform ist, ließe sich bestimmt eine interessante Perspektive auf die Bedeutung von Stereotypen gewinnen.


Wie man sein Geschlecht nach außen hin zeigt, ist definitiv auch ein wichtiger Aspekt. Sobald man eine Person sieht, versucht das Gehirn, sie unbewusst sofort zu klassifizieren: Handelt es sich um einen Mann, eine Frau? Ein Kind, einen Erwachsenen? Das ist ein automatischer Prozess, der ins Stocken gerät, wenn eine Person in keine uns bekannte Schublade passt. Das wiederum kann sich darauf auswirken, wie wir uns dieser Person gegenüber verhalten. In dem Bereich ist auf jeden Fall noch sehr viel Forschung nötig.

Werden Genderstereotype nicht erfüllt, wird zum Teil sehr heftig in Form von Wut oder Aggressionen reagiert. Ist dieses Phänomen wissenschaftlich erforscht?


Ja, da gibt es Forschung dazu. Dieses Phänomen ist bereits bei Kindern zu beobachten. Wenn beispielsweise ein kleiner Junge im Kindergarten keine typischen Jungenklamotten trägt, wird er von Gleichaltrigen dafür in Form von Hänseleien bestraft. Durch die Klassifizierung in die Kategorien „männlich“ und „weiblich“ geschieht etwas, das in der Psychologie als „Ingroup“ und „Outgroup“ bezeichnet wird: Man ordnet sich einer Gruppe zu, identifiziert sich mit deren Merkmalen und grenzt sich von einer anderen Gruppe ab, die wiederum andere Merkmale hat. Stößt man schon als Kind auf negative Reaktionen, weil man in keine Geschlechtergruppe richtig reinpasst, kann das dazu führen, dass man sich einer Gruppe anpasst, um keine weitere Sanktionierung befürchten zu müssen. Gerade damit dieser Druck wegfällt und Menschen sich so verhalten können, wie es ihnen entspricht, ist es wichtig, Stereotype von Kindesalter an aufzubrechen.

Miriam-Linnea Hale ist Doktorandin an der Universität Luxemburg, ihre Forschungsschwerpunkte sind Genderstereotype und soziale Medien. Im Rahmen der Konferenzreihe „Webtalks“, die die Universität Luxemburg in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Gleichstellung von Frauen und Männern organisiert, stellt Hale am 9. Dezember die Ergebnisse ihrer Doktorarbeit „From Stereotypes to Hostile Sexism – A Psychological Analysis of Conceptions about Gender“ vor. Sowohl vergangene als auch kommende Vorträge können auf dem Youtube-Kanal der Uni Luxemburg und dem des Gleichstellungsministeriums gestreamt werden.


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