Häusliche Gewalt: Gewalt fängt mit Worten an

Die Zahl polizeilicher Einsätze bei häuslicher Gewalt in Luxemburg stieg 2023 erstmals auf über 1.000. Die Regierung handelt zögerlich und wird dafür auch international von Expert*innen kritisiert. Jetzt hat sie einen Aktionsplan gegen geschlechtsspezifische Gewalt angekündigt.

 

Zeit zu handeln: Neuer Aktionsplan zu allen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt soll im Frühjahr 2025 erscheinen. (FOTO: saif71com Unsplash)

„Kein Mensch hat damals geredet. Deshalb habe ich angefangen, meine Geschichte zu erzählen.“ Es ist Ende August, und Ana Pinto sitzt auf ihrem Balkon. Kein Lüftchen bewegt die gläserne Figur eines Phönix, die an der Tür hängt. Der Feuervogel, der aus seiner eigenen Asche entstiegen ist, gilt als Sinnbild für Erneuerung. Deshalb wurde er auch zum Symbol des Vereins „Voix de Survivant(e)s“ auserkoren, den Ana Pinto im August 2022 gegründet hat, um Überlebenden von häuslicher und sexualisierter Gewalt eine Stimme zu geben. „Lange bevor ich den Verein gegründet habe, bin ich schon in die Schulen gegangen, um darüber zu sprechen. Das mache ich auch heute noch.“

Es gibt kaum eine Klasse, in der sie nach ihrem Bericht nicht noch individuell angesprochen wird. Zumeist sind es Mädchen, die selbst sexualisierte oder häusliche Gewalt erlebt haben. „Es ist wichtig, dass die Jugendlichen wissen, dass sie nicht allein sind.“ Mittlerweile wird Pinto regelmäßig von Schulen eingeladen. Versuche, ihre eigene Präventionsarbeit mit den Bemühungen des Bildungsministerium zu verknüpfen, blieben erfolglos – obwohl Luxemburg die Bekämpfung von Sexismus „in allen Altersgruppen, also auch schon im Kindesalter als Schlüsselelement der Gleichstellungspolitik benennt.

Luxemburg und die Istanbul Konvention

Im Jahr 2018 ratifizierte Luxemburg als eines von 39 Ländern die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Das Abkommen legt internationale Standards fest, um Opfer zu schützen, Gewalt vorzubeugen und Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Im Juli 2023 kritisierte die „Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence“ (Grevio), eine internationale Gruppe von Expert*innen, die die Einhaltung der Konvention überwacht, Luxemburgs Gesetze zögen geschlechterspezifische Aspekte nicht ausreichend in Betracht. Entsprechende Vorfälle würden nicht ausreichend dokumentiert und die Gegenmaßnahmen reichten ebenfalls nicht aus.

Luxemburg verteidigte seine Strategie und argumentierte, Frauen seinen zwar stärker von Gewalt und Diskriminierung betroffen, der geschlechtsspezifische Ansatz werde aber mit Aufklärungsaktionen und mit Bildungsmaßnahmen, die sich schon an die Jüngsten richten, umgesetzt.

Tatsächlich tauchen das Wort „Femizid“ oder vergleichbare Kategorien weder im Code pénal noch im Rapport violence auf. Es werden schlichtweg keine spezifischen Daten hierzu erfasst. Der Bericht ist voll von Zahlen und Statistiken, die nicht weiter interpretiert oder erläutert werden. Bekannt ist, dass die Polizei im vergangenen Jahr diesbezüglich erstmals mehr als 1.000 Einsätze verzeichnete, während die Zahl der Wegweisungen, bei der ein mutmaßlicher Täter oder eine Täterin polizeilich der Wohnung verwiesen wird, bei 246 stagnierte. Weniger bekannt: Die meisten Einsätze gab es im Mai und Juni (je 105), gefolgt vom Dezember (100). Der Anteil von Wegweisungen in Folge eines solchen Polizeieinsatzes war im Juli am höchsten (30 Wegweisungen bei 85 Einsätzen). Die einzelnen Situationen werden nicht erläutert. Die zahlreichen Statistiken aus verschiedenen Quellen führen zwar die Komplexität des Themas vor Augen, ohne Kontext verzerren sie jedoch häufig das Bild.

In der Polizeistatistik ist zu lesen, dass Frauen 33 Prozent der Täterinnen im Falle häuslicher Gewalt ausmachen. Erst wer sich durch den Grevio-Bericht und die dazugehörigen Kommentare aus Luxemburg gearbeitet hat, weiß, dass die Frauenquote hier erhöht ist, weil die Polizei auch Handlungen erfasst, die aus Not- oder Gegenwehr erfolgen, ohne dass dies angemerkt oder später im juristischen Prozess statistisch weiterverfolgt wird. Der „Service d’assistance aux victimes de violence domestique“ (Savvd) gibt den geschlechtsspezifischen Anteil der Opfer mit 78 Prozent Frauen und 22 Prozent Männern an. Bei der Rot-Kreuz-Organisation „Riicht Eraus“, die mit Täter*innen arbeitet, liegt die Quote der Täter*innen bei 12,8 Frauen zu 87,2 Prozent Männern. Trans-, inter- oder nicht-binäre Personen werden statistisch nicht erfasst. Beide Organisationen kontaktieren die Beteiligten nach einer Wegweisung durch die Polizei. Täter*innen sind gesetzlich zur Kontaktaufnahme verpflichtet. Von den 246 verwiesenen Personen erschienen jedoch leider nur 70,6 Prozent zum Erstgespräch.

In Verantwortung nehmen

Foto: Diana Cibotari/Pixabay)

Laut Laurence Bouquet, Direktorin von Riicht eraus, sind viele, die zum Gespräch erscheinen, prinzipiell bereit, an sich und ihrem Verhalten zu arbeiten. „Gewalt ist ein schleichender Prozess und sie fängt mit Worten an“, sagt sie. In ihrem Büro hängt das Bild von Banksy, das ein Mädchen mit einem entfliehenden roten Herzballon zeigt. Bouquet betont, wie wichtig ein vorurteilsfreies Zugehen auf die Täter*innen sei, um eine Basis für Veränderung zu schaffen. Gewalt in Partnerschaften und Familien sei ein eskalierender Prozess, der mit dem sogenannten Zyklus der Gewalt erklärt wird. Der Zyklus beginnt mit der Anspannungsphase ungelöster Konflikte, gefolgt vom Gewaltausbruch. Dies ist die gefährlichste Phase, in welcher der Täter Gewalt ausübt. Danach folgt oft die Reue- oder Honeymoon-Phase, in der Täter sich entschuldigen und versprechen, sich zu ändern.

Bei Riicht eraus arbeiten überwiegend Frauen als Beraterinnen. Auf die Frage, wie die männliche Klientel damit umgeht, sagt Bouquet: „Wenn einmal eine Vertrauensbasis geschaffen ist, ist das Geschlecht nicht mehr wichtig.“ Im Gegenteil böten die Beratungen eine Art Übungsplattform zur intergeschlechtlichen Kommunikation. Viele Männer müssten erst lernen, Gefühle wie Angst zu erkennen, zuzulassen und zu kommunizieren, ohne dass sie in Aggressionen umschlagen „Es geht nicht um Macht, vielmehr um Ohnmacht“, sagt Laurence Bouquet. Auch dass Wut nicht automatisch gleichbedeutend mit Gewalt ist, müsse gelernt werden. Viele Probleme der Gefühlsregulation seien auf gesellschaftliche Geschlechternormen zurückzuführen. Die Direktorin betont, dass die Menschen, die zu Riicht eraus kommen, nicht krank seien. Sie müssten lernen, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. In der Ausnahmesituation einer Wegweisung erreiche sie ihre Klientel gut. Dennoch bleibe die Rückfallquote bei häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt hoch, was für die Fachkräfte und Polizei, eine Belastung darstelle.

Hohes Gefahrenpotenzial

„Das Besondere an Einsätzen bei häuslicher Gewalt ist, dass es hier ein hohes Gefahrenpotenzial für die Polizisten gibt“, sagt Kristin Schmit, Zentraldirektorin und Verantwortliche des Dossiers Häusliche Gewalt der Police grand-ducale. Die Sicherheit ihrer Kolleg*innen steht für sie an erster Stelle. Als Risiken benennt sie unter anderem die hohe Emotionalität der Situation und oftmals alkoholisierte Beteiligte. Mit knapp drei Einsätzen pro Tag ist häusliche Gewalt für Polizist*innen Alltagsgeschäft. Deswegen wird sie auch in der Ausbildung thematisiert. In einem eigenen Block, aber auch immer wieder zwischendurch, als Fallbeispiel. NGOs wie Saavd und Riicht eraus werden mit eingebunden, um das Prinzip des Gewaltzyklus zu erklären und Einblicke in die Situation der Opfer und Täter*innen zu geben. Auch dass Polizist*innen immer wieder zu denselben Menschen fahren müssen, wird thematisiert.

In einem Interview mit dem Radiosender „100,7“ hat Kristin Schmit bereits letztes Jahr Unterstützung durch den Gesetzgeber gefordert, zum Beispiel durch vereinfachte Verfahren der Wegweisung bei Wiederholungstäter*innen. Noch bis Ende des Jahres läuft ein Pilotprojekt, bei dem ein auf die spezifischen Situationen angepasstes Formular zur Risikoabschätzung bei Einsätzen zu häuslicher Gewalt in Testbezirken verwendet wird. Seit letztem Jahr gibt es zudem eine spezialisierte Einheit innerhalb der Polizei, die bei schwerwiegenden Fällen das bestehende Risikopotenzial evaluieren soll.

Ana Pinto von La Voix des Survivant(e)s sieht nicht nur bei der Aus- und Weiterbildung der Polizeieinheiten Verbesserungsbedarf. Stimmen und Sichtweisen der Opfer fehlen in der der Aus- und Weiterbildung behördlicher Akteure, wie Polizei und sozialer Begleitdienst der Ligue médico-sociale (SAS). Überlebende von häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt stoßen laut Pinto immer wieder auf Unverständnis. Ob eine polizeiliche Intervention zu einer Wegweisung oder anderen schützenden Maßnahmen führt, hängt letztendlich von der Einschätzung einzelner Menschen ab, ob Polizist*innen, Staatsanwält*innen oder Richter*innen. Ein ausreichendes Verständnis und Einfühlungsvermögen seien nicht immer gewährleistet. So bemühe man sich bei Fällen sexualisierter Gewalt gegen Frauen zwar, dass eine weibliche Polizistin bei der Befragung des Opfers anwesend ist, garantiert oder gar vorgeschrieben ist es aber nicht.

Von alldem sind nicht nur Zweierbeziehungen, sondern ganze Familien betroffen. Trotz der massiven Gewalt, die ihr Ex-Mann ausgeübt hatte, musste Pinto jahrelang um das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn kämpfen. Immer wieder musste sie im Verlauf bei der Polizei und vor Gericht ihre Aussagen wiederholen. Sie habe teilweise das Gefühl gehabt, es werde nur daruf gewartet, dass sie einen Fehler macht. Unangemessene und sich wiederholende Befragungen, das Gefühl von Behörden nicht ernstgenommen zu werden, sind Formen einer „victimisation secondaire“, die Betroffene retraumatisieren können. Auch Verzögerungen im rechtlichen Verfahren und bürokratische Hürden zählen dazu, sind aber üblich. „Das System spielt den Tätern in die Karten“, sagt Ana Pinto.

Luft nach oben

Verbesserungsbedarf sieht sie, genau wie die Expert*innen der Grevio, auch in punkto geschlechterspezifischer Gewalt. Luxemburg hat immer noch keine 24/7-Telefonhotline speziell für Mädchen und Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Das ist eine Forderung der Istanbul-Konvention, die die hiesige Regierung letztes Jahr jedoch von sich gewiesen hat. Die bestehende Helpline (täglich zwischen 12 und 20 Uhr unter der Telefonnummer 20 60 10 60 zu erreichen) verzeichne keinen entsprechenden Bedarf. Ignoriert wird dabei, dass die geringe Nachfrage möglichweise gerade auf die von Grevio aufgezeigten Mängel zurückzuführen ist, wonach die Helpline weder geschlechtsspezifisch noch auf Formen sexualisierter Gewalt ausgerichtet sei. Zudem seien tagsüber auch andere Hilfen erreichbar.

La Voix des Survivant(e)s fordert eine bessere rechtliche Basis zum Schutz der Betroffenen und härtere Sanktionen für Täter*innen. Zu diesem Zweck arbeitet der Verein, zu dessen Mitgliedern auch eine Reihe von Jurist*innen zählen, an einem Gesetzesentwurf, für den Best-Practice-Beispiele aus der ganzen Welt zusammengetragen wurden. Als Beispiel nennt Pinto auf häusliche und geschlechtsspezifische Gewalt spezialisierte Gerichte, wie etwa in Spanien, oder das in nordischen Ländern etablierte „Barnahus“-Modell (zu deutsch Kinderhaus), das eine einmalige Befragung von Kindern für alle behördlichen und bürokratischen Zwecke in einem geschützten Raum ermöglicht. Ana Pinto will den Gesetzesentwurf noch im Oktober dieses Jahres präsentieren.

Das Ministerium für Gleichstellung und Diversität ließ auf Nachfrage der woxx wissen, dass im Frühjahr und Sommer 58 Organisationen Vorschläge und Analysen zur Ausgestaltung des Nationalen Aktionsplans zu allen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt eingereicht haben. Diese würden aktuell ausgewertet, um im Dezember dann während einer großen Tagung in Arbeitsgruppen weiter diskutiert zu werden. Die Vorstellung des Aktionsplans ist im Frühjahr 2025 geplant. Ob wirklich Änderungen erfolgen oder es bei leeren Versprechungen bleibt, wird sich zeigen. Voix de Survivant(e)s gehört zu den Organisationen, die ihre Analyse bereits abgegeben haben.

 

Was ist geschlechtsspezifische Gewalt?

Laut der Istanbul-Konvention wird geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen als Gewalt definiert, die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist oder die Frauen unverhältnismäßig betrifft. Diese Art von Gewalt steht in Zusammenhang mit ungleichen Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern, die Frauen in eine untergeordnete Stellung drängen. Diese Form der Gewalt ist tief in sozialen und kulturellen Strukturen verankert und wird oft durch gesellschaftliches Schweigen und Verleugnung aufrechterhalten.

Die wichtigsten Anlaufstellen bei häuslicher Gewalt:


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