Im Kino: Dalva

Mit „Dalva“ liefert Newcomerin Emanuelle Nicot ein nuanciertes Porträt eines Opfers inzestuösen Missbrauchs. Der Film sieht zwar von der Darstellung sexualisierter Gewalt ab, neigt aber dennoch zur unnötigen Spektakularisierung.

Auch in der Jugendstruktur besteht die zwölfjährige Dalva darauf, sich täglich zu schminken. (© Diaphana Distribution)

„Dalva“ beginnt mit einer Schwarzblende. Die Handlung der ersten Szene ist nur zu hören: Durcheinander schreiende Stimmen; vor allem eine Frauen- beziehungsweise Mädchenstimme ist immer wieder deutlich herauszuhören. Was da passiert, müssen sich die Zuschauer*innen anhand der akustischen Informationsfetzen selbst zusammenreimen. Alles deutet darauf hin, dass es sich um einen Polizeieinsatz handelt, bei dem Menschen gegen ihren Willen mitgenommen werden.

In der nächsten Szene sehen wir zum ersten Mal das Gesicht des Mädchens, das wir vorhin nur hören konnten. Sie sitzt auf der Rückbank eines Streifenwagens. Ihre Desorientierung und Frustration sind ihr deutlich anzusehen. Was ebenfalls auffällt: Für ein junges Mädchen ist sie auffallend stark geschminkt. Auch ihre Hochsteckfrisur und ihr Blazer lassen ihr Äußeres wie eine Verkleidung erscheinen.

Der Streifenwagen hält an, ein Mann öffnet dem Mädchen, das, wie wir erfahren, Dalva heißt, die Tür. Sie wird darüber informiert, dass sie vorerst in einer Notstruktur für Kinder und Jugendliche untergebracht werden soll. Als sie das hört, ergreift Dalva die Flucht und kann nur mit Mühe und Not wieder eingefangen werden.

Der Grund, weshalb die Zwölfjährige aus ihrem Zuhause entfernt wurde, kennen zunächst weder die Zuschauer*innen, noch sie selbst. Dalva wurde von ihrem Vater sexuell missbraucht. Über Jahre hinweg zwang er sie zudem in die Rolle einer Art Ehefrau. Dazu gehörte auch, dass Dalva sich täglich wie eine Erwachsene anziehen und schminken musste. Dass dem Mädchen nicht bewusst war, dass ihr Vater durch sein Verhalten eine Straftat beging, ist unter anderem ihrer Abschottung geschuldet: Dalva wurde zuhause unterrichtet, die Wohnung verließ sie womöglich nie.

Wie der Alltag im Einzelnen aussah, erfahren die Zuschauer*innen nicht. Regisseurin und Drehbuchautorin Emanuelle Nicot verzichtet in ihrem Erstlingswerk gänzlich auf Rückblenden. In dem Film, der aus Dalvas Perspektive erzählt ist, kommt deren Vater zwar vor, allerdings nur kurz und mit nur wenigen Dialogzeilen.

Leugnung und Verständnislosigkeit

Wie Emanuelle Nicot in einem Interview mit dem französischen Online-Magazin Sens Critique erklärte, gingen dem Verfassen ihres Drehbuchs Besuche in einer entsprechenden Jugendstruktur voraus. „Ce que j’ai pu découvrir et chose à laquelle je m’attendais absolument pas, c’était que c’était des enfants qui étaient encore tous sous l’emprise de leurs parents, et qui souffrait beaucoup plus du fait d’être placés que de ce qu’ils avaient vécu dans leur famille“. Daraus sei ihr Interesse entstanden, ihren Film vor allem den ersten Wochen zu widmen, die Dalva in der Struktur verbringt. „Je voulais transmettre cette violence, qui n’est pas nécessairement là où on l’attend.“

Und so stellt „Dalva“ den schwierigen Prozess dar, den die Protagonistin nach der Verhaftung ihres Vaters durchläuft. Sie hat nie gelernt, mit Männern auf nicht-sexuelle Weise zu interagieren. Das Verhältnis zu ihren Erzieher*innen, Psycholog*innen und den anderen Jugendlichen ist zunächst von Misstrauen geprägt, sie weigert sich, sich an die neue Situation anzupassen.

Obwohl die ernste Thematik immer wieder mit unbeschwerteren Sequenzen aufgelockert wird, ist „Dalva“ keine leichte Kost. Denn selbst wenn die Protagonistin nun zum ersten Mal seit langem altersgerechte Erfahrungen macht – etwa tanzen und mit Gleichaltrigen Wahrheit-oder-Pflicht spielen – so lässt der Film uns in keinem Moment die traumatische Vergangenheit des Mädchens vergessen. Mal will Dalva ein Kind sein, mal möchte sie als Erwachsene wahrgenommen und behandelt werden. Einerseits fühlt sie sich in ihrer neuen Umgebung zunehmend wohl, andererseits kann sie ihre Vergangenheit aber nicht gänzlich hinter sich lassen. Ihr Verhalten zu verändern, würde immerhin auch bedeuten, ihr bisheriges Selbstverständnis aufzugeben – von der Sicht auf ihren Vater ganz zu schweigen.

Obwohl Nicots Charakterstudie beeindruckend nuanciert ist, raubt ihr Hang zur Spektakularisierung dem Film leider immer wieder die Bodenständigkeit. Die Darstellung der Protagonistin mag zwar auf Nicots Gesprächen mit betroffenen Jugendlichen und deren Psycholog*innen beruhen, doch neigt sie zur Übertreibung. Wie sie etwa Dalvas sexuelles Auftreten Männern gegenüber in Szene setzt, scheint eher auf eine Schockwirkung ausgerichtet zu sein, als darauf, etwas über die Erfahrungen eines Missbrauchsopfers wie ihr zu vermitteln.

Auch die Darstellung der Erzieher*innen und Psycholog*innen lässt zu wünschen übrig. Dafür, dass sie Expert*innen in diesem Bereich sein sollen, werden sie erstaunlich inkompetent dargestellt: Den meisten der Gespräche, die sie mit Dalva führen, fehlt es an der nötigen Feinfühligkeit. Vermutlich wollte Nicot damit zum Ausdruck bringen, wie die Protagonistin ihre Erfahrungen einordnet. Leider gelingt es der Filmemacherin nicht, den Unterschied zwischen Dalvas subjektivem Empfinden und den objektiven Tatsachen deutlich zu machen.

Obwohl handwerklich und schauspielerisch beachtlich, hinterlässt „Dalva“ insgesamt einen faden Beigeschmack. Eine weniger dramatisierende Herangehensweise wäre der brisanten Thematik wahrscheinlich würdiger gewesen.

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