Interview
: Wie fest sitzen die antarktischen Korken?


Schelfeis hat für die Stabilität des antarktischen Inlandeises, die von permanenter Kälte abhängt, zentrale Bedeutung. Wie stark der Meeresspiegel global ansteigt, hängt auch von ihm ab. Interview mit dem Ozeanografen Tore Hartmann, der mehrere Monate auf dem Fichner-Schelfeis im Westen der Antarktis geforscht hat.

(Fotos: T. Hattermann/AWI)

woxx: Das Filchner-Schelfeis ist eine sehr abgelegene Region. Wie sind Sie dahin gekommen?


Hattermann: An- und später abgereist sind wir über die britische Antarktisstation „Rothera“ auf der Antarktischen Halbinsel. Von dort sind es dann noch einmal gut 1.000 Kilometer bis zu unserem Einsatzort. Wir Forscher und die Ausrüstung kamen mit kleineren Flugzeugen dorthin. Ein Großteil der schweren Bohrausrüstung wurde per Schiff direkt an die Schelfeiskante transportiert. Normalerweise bringt man sie dann auf Traversen mit schweren Kettenfahrzeugen bis in die Nähe der Bohrpositionen. So war es zumindest im letzten Jahr. Dieses Jahr ging das aber nicht. Die letzten 100 Kilometer mussten wir alles mit dem Flieger transportieren, weil Gletscherspalten den Zugang mit Kettenfahrzeugen verhinderten.

Hatten Sie ein feste Station? 


Die konnte es auf dem schwimmenden Schelfeis nicht gut geben. Wir haben in einem mobilen Feldlager in Zelten gelebt. Das Lager haben wir zweimal um circa 20 Kilometer verlegt, um an insgesamt drei verschiedenen Positionen Löcher durch das Eis zu bohren und den Ozean darunter zu beproben. Das ist ziemlich aufwändig. An den Bohrstellen ist das Eis rund 600 Meter mächtig. Gebohrt wird mit 90 Grad heißem Wasser. Zusammen mit der Bohrausrüstung waren es zwischen 10 und 13 Tonnen, die wir da mit Schneemobilen über das Eis gezogen haben.

Für den großen Aufwand gibt es einen Grund. Warum ist das Schelfeis für die Stabilität der Antarktis so wichtig?


Das schwimmende Schelfeis transportiert fast den gesamten Ausstrom von antarktischem Landeis ins Meer. Dieser Massefluss muss immer in einem Gleichgewichtszustand sein, um den kontinuierlichen Masseeintrag durch Schneefall über dem Inlandeis auszugleichen. Der jährliche Eintrag liegt zwischen anderthalb Metern über der Antarktischen Halbinsel und einigen wenigen Zentimetern über dem zentralen Inlandeis. Würde dieser Zuwachs nicht kontinuierlich durch das dynamische Abfließen der Eismassen ausgeglichen, würde die Antarktis in jedem Jahr um diese Menge in die Höhe wachsen.

Das Schelfeis hindert einen Teil des Landeises auch daran, ins Meer abzurutschen? 


Genau. Man kann sich Schelfeis vorstellen wie den Korken in einer Weinflasche. Wird er entfernt, gibt es kein Halten mehr für das dahinter liegende Eis. Dabei spielt keine Rolle, ob das Eis, das ins Meer abfließt, auftaut oder nicht. Hat sich die Masse einmal vom Land ins Meer verlagert, steigt der Wasserspiegel. Eins muss man aber hinzufügen. In weiten Teilen der Ostantarktis ist Schelfeis Gebirgszügen vorgelagert. Die würden das Inlandeis immer noch zumindest teilweise bremsen, wenn das schwimmende Schelfeis verschwände.

Für Sie beginnt jetzt die Datenauswertung. Wissen Sie schon, wie stabil das Filchner-Schelfeis ist? 


Das lässt sich wahrscheinlich erst in ein paar Jahren endgültig klären, und auch dann nur in Kombination mit Computermodellen. Einige solcher Simulationen sagen derzeit voraus, dass in Zukunft mehr und mehr warmes Wasser unter das Filchner-Schelfeis gelangt. Bei der Antarktis meint man mit „warm“ Wassertemperaturen um die 0 bis 1 Grad Celsius, also etwas oberhalb des Meerwasser-Gefrierpunktes von minus 1,9 Grad Celsius. Dadurch verstärkt sich das Schmelzen an der Unterseite des Schelfeises. Es verliert an Masse.

Wie wahrscheinlich ist ein solches Szenario?


Genau das wird derzeit intensiv erforscht. Unsere neuen Messungen spielen dabei eine zentrale Rolle. Bisher findet die Erwärmung der antarktischen Wassermassen ja nur im Modell statt. Es gibt noch viel Unklarheit und Disput in Fachkreisen, wie weit heutige Modelle die entscheidenden Prozesse abbilden können. Wir haben noch keine fertigen Ergebnisse. Ich glaube, dass so viel Ehrlichkeit letztlich zur Glaubwürdigkeit der Klimaforschung beiträgt und den Vorwurf entkräftet, das seien ja alles vorgefertigte Lobbyistenergebnisse.

Gehörte das Filchner-Schelfeis bisher zu den stabileren Küstenregionen? 


Unter dem Filchner-Schelfeis zirkuliert eine der kältesten natürlich vorkommenden Wassermassen der Erde. Die Temperaturen liegen bei minus 2,5 Grad Celsius. Allerdings ist die Datenlage in dieser Region so dünn, dass wir erst einmal den Status quo feststellen müssen. Sozusagen eine erste Eichmessung, um

Der antarktische Eisspeicher weist schon so manche Schwachstelle auf. Larsen C, an der westantarktischen Küste gelegen, zeigt derzeit einen tiefen Riss von mittlerweile 80 Kilometer Länge. Der vordere Schelfeisteil hängt jetzt nur noch auf einer Strecke von 20 Kilometern am Hauptteil fest. Die Geburt eines 5000 Quadratmeter großen Eisbergs steht also bevor.


Zyniker würden vielleicht sagen, Larsen C und das schmelzende Schelfeis im Amundsenmeer sind bereits verloren. Tatsächlich beobachten wir die größten Masseverluste des Kontinents an den westantarktischen Küste. Diese Verluste treibt in erster Linie warmes Wasser an, das unter den Schelfeisen der Küsten zirkuliert. Wir können beim Rückgang des Eises dort buchstäblich zusehen. Dieser Prozess dauert zum Teil schon länger an. Ein Kollege aus der Geologie hat gerade mit Sedimentproben nachweisen können, dass sich der Pine Island Gletscher bereits seit den 1940er-Jahren zurückzieht. Dem Filchner-Schelfeis könnte es ähnlich ergehen.

Die Probleme konzentrieren sich offensichtlich auf die Westseite der Antarktis. Die Ostantarktis ist die stabilere Hälfte des Kontinents. 


Stimmt. Die Ostantarktis erwärmt sich nicht so eindeutig, obwohl dort der Hauptteil des antarktischen Landeises lagert. Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum man der Westantarktis eine größere Bedeutung für den Meeresspiegel zuschreiben muss. Der Großteil der Erdoberfläche, die den westantarktischen Eisschild trägt, liegt unterhalb des Meeresspiegels. Wir sprechen von einem marinen Eisschild. Beim Schmelzen des Schelfeises kommt es da zu einem besonderen dynamischen Effekt. Der führt zu einer Kettenreaktion, die den Eisverlust beschleunigt. Um im Bild der entkorkten Weinflasche zu bleiben: In der Ostantarktis wird eher maßvoll ausgegossen, während die westantarktische Flasche bereits auf der Seite liegend entkorkt ist. Nur wissen wir noch nicht, wie schnell diese Prozesse ablaufen und wann sie wieder aufhören.

Welchen Beitrag könnte die Antarktis am Anstieg des Meeresspiegels haben? Sind die maximal 16 Zentimeter innerhalb des Jahrhunderts, die der Internationale Klimarat genannt hat, eine realistische Schätzung?


Prognosen basieren immer auf bestimmten Annahmen und komplizierten Modellberechnungen. Ich arbeite viel mit Computermodellen und kenne die Tücken der Berechnung. Deshalb bin ich eher vorsichtig, wenn es um quantitative Aussagen hinter der letzten Nachkommastelle geht. Ich würde mich weder über drei Zentimeter Beitrag der Antarktis zum Meeresspiegelanstieg in 100 Jahren wundern noch über 60 Zentimeter. Wobei ich niemandem wünsche, dass er zweiteres erlebt.

Würde das gesamte Wasser, das die Antarktis in Form von Landeis gespeichert hat, in den Ozean gelangen, stiege der weltweite Meeresspiegel um mehr als 60 Meter an. Ist das überhaupt ansatzweise vorstellbar?


Schwankungen des Meeresspiegels von mehreren zehn Metern hat es in der Erdgeschichte häufig gegeben. Änderungen in solchen Dimensionen sind nichts Unerwartetes. Es kommt aber auf die Zeiträume an. 100 Jahre sind nur ein kurzer Augenblick in der Dynamik des antarktischen Eisstroms, der sich behäbig vom Gebirge ins Meer hinabschiebt. Das sind sehr langsame Prozesse. Deshalb spielen für mich auch die genauen Zahlen für das nächste Jahrhundert keine so große Rolle. Es geht darum, welchen Einfluss die heutigen Änderungen auf die langzeitliche Dynamik in den nächsten vielen Jahrhunderten haben. Ich will wissen, was im Jahr 2500 in der Antarktis los ist.


Tore Hattermann

Der Physiker und Ozeanograf Tore Hattermann vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven war von Anfang November 2016 bis Januar 2017 auf dem Filchner-Schelfeis im Westteil der Antarktis. Dort untersuchte er mit Kollegen zum zweiten Mal die Meereszirkulation unter dem Eis. Schelfeis besteht aus schwimmenden Eisplatten, die ans Festlandeis andocken. Sie machen etwa ein Zehntel der Fläche der Antarktis aus. Das Filchner-Ronne-Schelfeis ist mit 422.000 Quadratkilometern das zweitgrößte, nach Eisvolumen sogar das größte.


GRACE

GRACE steht für Gravity Recovery and Climate Experiment. Seit 2002 vermessen die Zwillingssatelliten das Gravitationsfeld der Erde. Aus den Änderungen des Gravitationsfeldes lassen sich auch Masseverschiebungen der Erde ableiten, unter anderem Veränderungen der Eisschilde. Üblicherweise sind die Messungenauigkeiten bei dieser Methode relativ groß, sagt Hattermann. Jedoch bestätigen andere unabhängige Datenquellen, Laseraltimetrie etwa, die von GRACE beobachteten Entwicklungen. Mittlerweile misst man lange genug, und Forschergruppen arbeiten die Daten regelmäßig auf. Darum, meint Hattermann, sind die Ergebnisse der Gravitationsfeldmessungen relativ zuverlässig. 


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