Kolumbien: Schützen ohne Waffen

Brüchig ist das Friedensabkommen zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerilla FARC schon lang. In dem Konflikt zwischen abtrünnigen Splittergruppen, Paramilitärs und kriminellen Banden droht die Zivilbevölkerung zerrieben zu werden. Die pazifistischen „Guardia Indígena“ versuchen erfolgreich, indigene Gemeinden zu schützen, geraten dabei aber selbst ins Visier der rivalisierenden bewaffneten Gruppen.

Mitglieder der „Guardia Indígena“: Erkennbar sind die an ihren blauen Westen und dem mitgeführten „Bastón“, einem mit Silber beschlagenen und mit rot-grünen Bändern verzierten Stock aus Edelholz. (Foto: Knut Henkel)

Oveimar Tenorio steht am Rande der Tulpa, dem zu allen Seiten offenen Versammlungshaus von Tacueyó. Aufmerksam mustert er die Umgebung, während ein Pick-Up nach dem anderen auf den weiter oben liegenden Parkplatz rollt. Sein Funkgerät schnarrt, hin und wieder nimmt er eine Botschaft entgegen, gibt Anweisungen, grüßt Neuankömmlinge des für heute anberaumten Treffens traditioneller Autoritäten im Norden des Cauca.

Der Verwaltungsbezirk liegt südlich der kolumbianischen Millionenmetropole Cali, das kleine Dorf Tacueyó mitten in der „roten Zone“ nahe der Kleinstadt Toribio. Als rote Zonen werden die Hochrisikogebiete in Kolumbien bezeichnet, wo die staatlichen Sicherheitskräfte entweder überhaupt nicht präsent sind oder keine Kontrolle haben – und das ist in der Region Toribio nicht zu übersehen. Schon auf der kurvigen, oft steil ansteigenden Schotterpiste dahin sind die Transparente zu Ehren von Manuel Marulanda, dem längst verstorbenen Gründer der FARC, nicht zu übersehen. Die vier Buchstaben stehen für „Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia“, die älteste Guerilla der Region. Die hat zwar nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit der kolumbianischen Regierung im November 2016 die Waffen abgegeben. Doch nicht überall, wie die Parolen an der durch die bergige Landschaft führenden Buckelpiste zeigen.

„Hier sind zwei abtrünnige Einheiten aktiv: die mobilen Kolonnen Dagoberto Ramos und Jaime Martínez“, erklärt Henry Chocué leise. Der kräftige Mann von Anfang Fünfzig mit den optimistisch funkelnden Pupillen ist ein Vertreter der indigenen Gemeinde Las Delicias. Das Dorf mit den umliegenden Weilern liegt in der zerklüfteten Bergregion von Toribio, wo tiefe Schluchten und mächtige Felsnasen die Landschaft prägen und wo in Treibhäusern Marihuana en Gros angebaut wird. „Das ist der Fluch der Region”, meint Chocué, der sich etwas abseits von dem Versammlungshaus, das sich langsam füllt, auf seinen Bastón stützt. Diesen halblangen mit Silber beschlagenen und mit rot-grünen Bändern verzierten Stock aus Edelholz tragen nicht nur die Anführer*innen, sondern auch die Männer, Frauen und Kinder der „Guardia Indigena“.

Als rote Zonen werden die Hochrisikogebiete bezeichnet, wo die staatlichen Sicherheits-
kräfte entweder überhaupt nicht präsent sind oder keine Kontrolle haben.

Die indigene Schutztruppe ist heute mit mehreren Dutzend Freiwilligen im Einsatz, um das Treffen der traditionellen Autoritäten zu sichern. Das Kommando hat Oveimar Tenorio. Einer der Männer, die potenziell gefährdet sind, ist Henry Chocué. Mitte September letzten Jahres versuchten mehrere dissidente FARC-Guerilleros in das Haus des indigenen Anführers einzudringen. „Wir gehen davon aus, dass sie ihn umbringen wollten, aber er war nicht da“, sagt Oveimar Tenorio leise. Er will Henry Chocué nicht stören. Doch der winkt ab, wendet seinen Blick ab von den Bergrücken und den dazwischenliegenden Tälern der Cordillera Central der Anden, die Kolumbien zerteilt. „Mein Name und auch der von Oveimar steht regelmäßig auf Pamphleten der FARC-Kolonnen. Wir haben Attentate überlebt, erhalten Morddrohungen per Anruf und WhatsApp und machen dennoch weiter. Es gibt keine Alternative“, sagt der Mann und fährt fort: „Sie versuchen unser Fundament zu attackieren, nehmen unsere spirituellen Anführer*innen, traditionellen Autoritäten und die Guardia Indígena ins Visier.“

Mehr als ein Dutzend Morde hat es 2022 allein im Norden des Cauca gegeben, so Oveimar Tenorio. Der drahtige, relativ kleingewachsene Mann trägt die markante himmelblaue Weste, auf deren Rücken der aufgestickte Schriftzug „Kiwe Thegnas“ prangt. „Verteidiger des Territoriums“, heißt das in der Sprache der Nasa, der zweitgrößten indigenen Ethnie Kolumbiens. Die stellt in der Region Toribio rund 97 Prozent der Bevölkerung. Auch Oveimar Tenorio gehört ihr an. Der 30-jährige kennt die Region wie kaum ein anderer, ist in dem Dorf San Francisco aufgewachsen, wo er bis zum September 2021 lebte. Dann wurden er und seine Familie von verdächtigen Gestalten ausgespäht, wenige Tage danach schlugen Kugeln in die Wände seines Hauses ein.

Niemand wurde verletzt. Doch seitdem lebt Tenorio mit seiner Frau und der kleinen Tochter in Santander de Quilichao. In der zweitgrößten Stadt des Cauca hat Acin, die Dachorganisation der 22 Nasa-Gemeinden aus dem Norden des Cauca, ihre Zentrale. In einem modernen vierstöckigen Büro-Gebäude, das auf den ersten Blick an eine Schule erinnert, steht der Schreibtisch von Oveimar Tenorio. Von hier aus wird die Arbeit koordiniert, Schulungen, Seminare, genauso wie Einsätze zum Schutz von indigenen Anführer*innen, so wie heute. „An die Rückkehr nach San Francisco ist noch nicht zu denken“, sagt Tenorio. „Die Sicherheitslage lässt es nicht zu“, ergänzt er. Dann gibt er einer „Guardia Indígena“, die die Schotterpiste nach Tacueyó überwacht, ein Zeichen.

„Unsere zentrale Aufgabe ist es, indigenes Leben und indigenes Territorium zu schützen – ganz ohne Waffen“, sagt er. Zu seiner Ausrüstung gehört neben dem Bastón, das Funkgerät, welches vor allem in den Bergen, wenn es kein Netz gibt, zum Einsatz kommt, sowie ein Mobiltelefon und eine kurze Machete. Oveimar Tenorio steht ein Team von rund zehn Frauen und Männern zur Seite, die den Einsatz von etwa 2.600 Mitgliedern der Schutztruppen im Norden des Cauca koordinieren. Diese friedliche Streitmacht, die aus Frauen, Männern und Kindern besteht, wacht seit rund zwanzig Jahren über indigene Territorien, sorgt, wie bei dem heutigen Treffen traditioneller Autoritäten, für Sicherheit, fungiert aber auch bei Demonstrationen, Versammlungen und vor den indigenen Gerichten als Ordnungsdienst.

Doch das ist nur eine Facette der „Guardia Indígena“. „Sie ist vor allem eine Schule des Lebens“, meint Tenorio: „Wir bilden die Anführerinnen und Anführer von Morgen aus, bewahren und fördern unsere eigene Identität, von der Sprache bis zur Handarbeit.“ Im Mai 2001, nach dem von Paramilitärs verübten Massaker von Naya mit mindestens 27 toten Indigenas, wurde die „Guardia Indígena“ als fester Bestandteil der Nasa-Strukturen gegründet – zum Selbstschutz. Längst hat das Modell Schule gemacht. „Im Cauca gibt es rund 10.000 Guardias, landesweit 70.000 und das nicht nur in indigenen, sondern auch in afrokolumbianischen Gemeinden“, so Henry Chocué.

„Unsere zentrale Aufgabe ist es, indigenes Leben und indigenes Territorium zu schützen.“

Für Dora Muñoz, die ein Netz von Radiostationen in den Nasa-Gemeinden mitaufgebaut hat und zu den bekannten Frauen in den Acin-Strukturen zählt, hat der landesweite Erfolg der „Guardia Indígena“ immer mehr Schattenseiten. Unter anderem von den NGOs „Brot für die Welt“ und „Frontline Defenders“ sind die Schutztrupps bereits für ihre friedliche Arbeit gegen den Kreislauf der Gewalt ausgezeichnet worden. „Die Guardia ist sichtbar, zeigt ihre Brust, wie wir hier sagen. Sie riskieren ihr Leben, so wie Oveimar“, sagt die Journalistin. Anschläge auf die „Guardia Indigena“ und vor allem deren Führungsstruktur haben zugenommen. Oveimar ist nicht nur im oben geschilderten Fall des Jahres 2021 nur knapp einem Killerkommando entkommen, Narben zeugen davon, der letzte Angriff datiert auf vergangenen Juni. Da entkam er nur knapp zwei Sícarios, bezahlten Killern, die auf einem Motorrad kamen. Weniger Glück hatte der ehemalige Koordinator der „Guardia Indigena“, José Albeiro Camayao. Im Januar letzten Jahres starb er genauso wie der noch minderjährige Bréiner David Cucuñame, ebenfalls ein „Guardia Indígena“, durch Kugeln von FARC-Dissidenten.

Die gezielten Morde sorgen für Furcht in den Strukturen der indigenen Organisation. „Genau das ist es, was die bewaffneten Akteure bezwecken“, meint Muñoz. Ihr Mann, José Miller Correa, wurde Mitte März 2022 von einem Killerkommando nahe Popayán, der weiter südlich liegenden Hauptstadt des Verwaltungsbezirks Cauca, ermordet. Einer der mutmaßlichen Täter wurde mittlerweile festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Für die Witwe nicht nachvollziehbar. „Ein Kapitalverbrechen und dann Hausarrest?“, fragt sie ungläubig. Schwer zu begreifen ist auch die Tatsache, dass sie weder Schutz noch irgendeine Unterstützung von staatlichen Stellen nach dem Mord an ihrem Mann erhielt. Für Tenorio, der gerade von einem Rundgang zurückkehrt, ist dies Teil einer schockierenden Normalität. „In allen von uns angezeigten 16 Mordfällen im letzten Jahr kommen die Ermittlungen nur schleppend voran“, kritisiert er: „Mehrere Morde drohen ungeklärt zu bleiben und die Täter straffrei zu bleiben.“

Am anderen Ende der Tulpa ist mittlerweile das Gros der Plätze besetzt. In ein paar Minuten wird die Diskussion über neue Sicherheitskonzepte beginnen, zudem will man über die Initiativen der neuen Regierung sprechen. Die hat den Dialog mit allen bewaffneten Akteuren auf regionaler Ebene aufgenommen. Genau wie Henry Chocué und Dora Muñoz bestätigt auch Oveimar Tenerio, dass die Zahl der Morde an indigenen Anführer*innen seit Mitte des Jahres rückläufig sei. Vielleicht ein positiver Effekt der neuen Regierung. Doch ganz anders sieht es bei der Rekrutierung Minderjähriger durch kriminelle Banden, die FARC, die ELN – die zweitgrößte Guerilla – oder die Paramilitärs aus. Das komme immer noch häufig vor, so Dora Muñoz, „und das ist ein Risiko für die Familien, aber auch für die Guardia Indígena“.

„Wer die Guardia Indígena durchlaufen hat, lässt sich nicht mehr so einfach für diesen Krieg rekrutieren.“

Die friedlichen Konfliktlöser in ihren blauen Westen machen den verschiedenen Anwerbern immer wieder den Nachwuchs streitig. Durch ihre Präsenz und ihre friedliche Beharrlichkeit, wenn minderjährige Jugendliche durch Versprechungen oder ein neues Mobiltelefon davon überzeugt werden sollen, sich einzureihen. In solchen Fällen sind die „Guardias“ schon häufig aufgetaucht, haben Jugendliche aus den Fängen der Guerilla oder den Händen von Drogenbanden befreit. „Und wer die Guardia Indígena durchlaufen hat, lässt sich nicht mehr so einfach für diesen Krieg rekrutieren“, fügt Muñoz hinzu.

Riskant, aber erfolgreich ist die Arbeit der Freiwilligen in den blauen Westen, die rund um den Versammlungsort präsent sind. Erneut summt das Mobiltelefon Tenorios. Er wird ins Innere der Tulpa gerufen, denn das Treffen beginnt und dabei darf der Koordinator der Guardia Indígena nicht fehlen.

Knut Henkel berichtet für die woxx aus Lateinamerika.

Im Oktober 2012 begannen Friedensgespräche zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-EP (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee). Vier Jahre dauerte es, ehe das Friedensabkommen verhandelt war und im November 2016 unterzeichnet wurde. 12.925 Kämpfer*innen der Guerilla wurden laut Angaben der kolumbianischen Regierung seitdem demobilisiert. Doch schon damals gab es rund 400 FARC-Bewaffnete, die sich abspalteten und die Waffen nicht niederlegen wollten. Viele davon sammelten sich in einer der Hochburgen der FARC, dem Verwaltungsbezirk Cauca. Dort ist die sogenannte FARC-Dissidenz in den Anbau und Schmuggel von Marihuana im Norden involviert. Nachdem das Friedensabkommen von der Regierung Iván Duques nur halbherzig und in vielen entscheidenden Punkten gar nicht implementiert wurde, stieg die Zahl der ehemaligen FARC-Guerilleros, die wieder zu den Waffen griffen. Derzeit wird die Zahl der ehemaligen FARC-Kämpfer*innen, die wieder bewaffnet aktiv sind, auf ein- bis zweitausend geschätzt.


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