Konstruktiver Journalismus: Zuckerwatten-Journalismus oder Modell der Zukunft?

Was ist der stärkere Publikumsmagnet: negative Schlagzeilen oder konstruktive Berichte? Und was hat den größeren Mehrwert für die Leserschaft? Luxemburgische Journalist*innen und internationale Kommunikationsexpert*innen klären im Gespräch mit der woxx auf über Potenzial und Gefahren einer Form des Journalismus, die im Kommen ist.

Kritiker*innen des konstruktiven Journalismus bezeichnen die lösungsorientierte Methode als Zuckerwatten-Journalismus, der mit rosaroter Brille über Ereignisse berichtet und die Welt schönfärbt. (Copyright: Taryn Elliott/Pexels)

Der Ausbruch der Corona-Pandemie führte es der Branche nochmal verstärkt vor Augen: Ihre Probleme vermehren sich. Die Nachrichtenmüdigkeit nimmt bei vielen Menschen zu. Die meisten Nachrichten in Presse und Rundfunk seien zu negativ, heißt es oft. Immer mehr Leser*innen wenden sich deswegen von traditionellen Medien ab. Zugleich wird die Glaubwürdigkeit von Journalist*innen in Frage gestellt; Verschwörungstheorien und Fakten, die keine sind, verankern sich in der öffentlichen Debatte, so auch in Luxemburg.

Während die ehemalige Präsidentin der Association luxembourgeoise des journalistes professionels (ALJP) sich vorstellen kann, dass das Vertrauen in die Medien im Laufe der Corona-Pandemie wieder ein bisschen gestiegen sein könnte – genaue Studien dazu gibt es in Luxemburg nicht –, erklärt Ines Kurschat auch, wir seien gerade Zeug*innen einer generellen „Erosion des Vertrauens in die herkömmlichen Medien”. Auch eine 2020 veröffentlichte Studie des europäischen Centre for Media Pluralism and Media Freedom (CMPF) stellt wenig überraschend fest: „Der Journalismus steht vor großen Herausforderungen […] die Verhältnisse verschlechtern sich.” In Luxemburg reduziere ein kontinuierlicher Stellenabbau sowie ein Mangel an finanziellen Mitteln den Job der Journalist*innen zunehmend auf den bloßer Seitenfüller*innen, heißt es in der CMPF-Studie weiter.

Seit einigen Jahren denken verschiedene Medienhäuser daher um: Eine konstruktivere Berichterstattung muss her. Eine neue Form des Journalismus, die in der Branche für kontroverse Debatten sorgt und umstritten ist.

Was genau ist konstruktiver Journalismus?

Konstruktiver Journalismus baut auf denselben Grundlagen auf wie traditioneller Journalismus, geht jedoch anhand der Fakten und Geschehnisse über die auf Probleme fokussierte, oft einseitige Berichterstattung hinaus: Ziel ist es, Lösungen in den Mittelpunkt zu stellen. Konstruktiv daran ist, kritisch und umfangreich über Zwischentöne zu berichten und dadurch zu nuancierten Gesprächen mit dem Publikum anzuregen.

Diese neue Form des Journalismus, die Mitte der 1990er-Jahre von Ulrik Haagerup als Reaktion auf Dänemarks fortwährende politische Krisen geschaffen wurde, findet auch international mehr und mehr Zuspruch. Im März 2017 schuf Haagerup, ehemaliger Chefredakteur der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten, in Aarhus das Constructive Institute, um das von ihm ersonnene Konzept weiter auszubauen. In Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten sind seitdem ebenfalls, oft unabhängig voneinander, mehrere Journalist*innenverbände entstanden, die sich an dieser Arbeitsweise orientieren.

Auch hiesige Journalist*innen versuchen bei bestimmten Themen über Lösungsstrategien zu berichten, sagt Henning Marmulla, Redaktionsleiter der Zeitschrift forum, die er als „konstruktives Medienprojekt” bezeichnet. Das Lëtzebuerger Journal etwa orientiert sich nach seiner Neugestaltung ebenfalls bewusst an konstruktivem Journalismus. Die am Anfang dieses Jahres auf ein rein digitales Format umgestellte Zeitung richtet den Fokus unter anderem auf Reportagen und Porträts, die Menschen in den Mittelpunkt stellen – und zeigt, dass es nicht nötig ist, die jeweiligen Berichte demonstrativ als „konstruktiv“ zu kennzeichnen. „Das ist unserer Leserschaft aufgefallen, ohne dass wir es plakativ hätten deklarieren müssen. Das war schon mal gut und das Feedback des Publikums war auch positiv”, so Melody Hansen, Journal-Chefredakteurin.

Letzteres überrascht nicht, denn „die Öffentlichkeit sehnt sich geradezu nach komplexeren Berichterstattungen”, so Nina Fasciaux, Europa-Koordinatorin des Solutions Journalism Network (SJN) im Zoom-Gespräch mit der woxx. Das 2013 in den USA entstandene Netzwerk bildet Journalist*innen und Medienhäuser zum Thema lösungsorientierter Journalismus weiter, auch in Europa. Ähnlich wie Fasciaux sieht es Henning Marmulla, der das Potenzial des konstruktiven Journalismus als „hoch” einstuft. Erste Studien belegen: Es ist tatsächlich ein vielversprechendes Konzept.

Gefährliche Schönfärberei?

2020 stellte ein Forschungsprojekt der deutschen Otto-Brenner-Stiftung fest, dass konstruktiver Journalismus größere Anerkennung erhält als traditioneller Journalismus, und sogar die Bindung an die Nachrichtenanbieter*innen erhöht. Auch die neuesten April und Juni 2021 veröffentlichten SJN Studien bestätigen dies: „Die Wahrscheinlichkeit wiederzukehren war bei Leser*innen von lösungsorientierten Geschichten um 2,7-mal höher als bei denen, die keinen Lösungsjournalismus gelesen hatten”, und: „83 Prozent der Befragten behaupteten, einem lösungsorientierten Bericht zu vertrauen, gegen bloß 55 Prozent bei einem problemorientierten Bericht.” Des Weiteren geht aus der Otto-Brenner-Studie hervor, dass konstruktive Berichterstattung zu konstruktiveren Debatten in den sozialen Netzwerken führt. Besonders bei jungen und marginalisierten Gruppen ist er beliebt, so eine Umfrage der britischen Rundfunkanstalt BBC aus dem Jahr 2015. Alec Saelens, Projektleiter für Umsätze (Revenue Project Manager) des SJN, denkt, dies sei vor allem, weil sie der negativen, nicht selten stigmatisierenden Berichte müde seien.

Trotz positiver Resonanz herrschen auch Missverständnisse und Misstrauen gegenüber dem kons-
truktiven Journalismus, nicht zuletzt aus den Reihen der Profession selbst. Von Kritiker*innen wird der kons-
truktive Journalismus oft als belanglose Schönfärberei abgestempelt, er überschreite die Grenzen zwischen Journalismus und Aktivismus. Gerade weil Journalismus eine Phase durchlebe, in der das Vertrauen in die Medien schwinde, müsse man besonders aufpassen: Sowohl Henning Marmulla als auch Ines Kurschat warnen vor der Gefahr des „feel good“ oder „positiven“ Journalismus, der eine falsche, romantisierte Welt darstelle, die es so nicht gebe.

So kritisiert Marmulla den Begriff „positiv“, mit dem das Journal die neue, konstruktive Berichterstattung im „Über uns“-Teil der Webseite vorstellt. „Hier sehe ich eine gewisse Gefahr, dass der Fokus dann doch zu sehr auf die ‚gute Nachricht‘ statt auf die Kombination aus Problemdefinition und Problemlösung gelegt wird”, sagt er.

Doch wie können Journalist*innen über positive Ereignisse berichten, dabei aber auch kritisch und realistisch bleiben? Laut Nina Fasciaux erkennt guter lösungsorientierter Journalismus immer auch die Grenzen der jeweiligen Möglichkeiten. Einen Ansatz als ultimative Lösung darzustellen beziehungsweise für eine Einzelperson oder eine Organisation zu werben, ohne diese kritisch zu hinterfragen, funktioniere nicht. Der gleichen Meinung sind luxemburgische Journalist*innen. „Konstruktiver Journalismus muss sich an die gleichen Regeln halten wie nicht-konstruktiver Journalismus. Sonst ist er kein Journalismus”, sagt auch Henning Marmulla.

Hilft konstruktiver Journalismus der Branche aus ihrer finanziellen Notlage heraus? Klar ist, dass viele Medienhäuser umdenken müssen, um zu überleben. (Copyright: CC BY Mike Cohen 2.0/CreditScoreGeek)

Konstruktiver berichten kostet

Ein weiterer Einwand gegen den konstruktiven Journalismus sind seine noch unklaren finanziellen Auswirkungen auf die Medienhäuser. Aus mehreren Blickwinkeln zu berichten, ist aufwendig. Das verhindert jedoch nicht, dass auch kleinere Medienhäuser und Zeitungen konstruktiv berichten: Das SJN arbeitete zwischen 2019 und 2020 erfolgreich mit einigen kleinen Zeitungen zusammen – von den teilnehmenden Redaktionen bestanden 66 Prozent aus weniger als zehn Journalist*innen. Das Wichtigste sei ein Wandel der Prioritäten sowie ein gezielter Fokus auf kleine und lokale Lösungsansätze, erläutern Alec Saelens und Nina Fasciaux. Dem stimmt Journal-Chefredakteurin Melody Hansen zu: „Natürlich ist es schwer, die Zeit und nötige Ressourcen zu finden – beim Journal haben wir uns bewusst dazu entschlossen, uns die zu nehmen.”

Genauere Zahlen zum Anstieg von Einnahmequellen durch eine konstruktivere Berichterstattung gibt es noch nicht. Vor allem das Vertrauen in eine junge Leser*innenschaft sieht Ines Kurschat mit Vorsicht: „Wir wissen auch, dass die jungen Leute, die die gerne ‚positive‘ Geschichten hören, nicht zu den zahlungskräftigen gehören.” Alec Saelens ist sich dagegen sicher, dass ungeachtet der Zahlungsbereitschaft des Publikums für konstruktivere Nachrichten, junge Leute „da sein werden, um solche Geschichten zu konsumieren“. Zudem geht aus einer Mai 2021 veröffentlichten SJN Studie hervor, dass das Interesse der Sponsor*innen an kons-
truktiv arbeitenden Medienhäusern deutlich ansteigt – und zwar mehr als das an herkömmlichem Journalismus. So wurde unter anderem ein US-amerikanisches Medienhaus namens Community Voice von „zwei privaten Unternehmen und einer lokalen philanthropischen Stiftung“ mit einer Gesamtspende von 5.000 Dollar unterstützt. Wirklich begründet wird die – scheinbar von wirtschaftlichem Interesse freie – Hilfe nicht. Unternehmen tendierten dazu, eine gründliche lösungsorientierte Berichterstattung über Probleme, die ihre Gemeinde betreffen, unterstützen zu wollen, so die SJN Studie weiter. Auf die Frage, woher dieses Interesse kommt, gibt die Studie keine Antwort.

Was nun?

Bedeutet dies das Ende des klassischen, der Logik zufolge „destruktiven“ Journalismus? Sowohl Ines Kurschat als auch Nina Fasciaux lehnen dies kategorisch ab: Es handle sich beim konstruktiven Journalismus um eine neue Methode, die ergänzend dazukomme. „Konstruktiver Journalismus soll die Art und Weise, wie wir über Nachrichten berichten, vervollständigen, nicht ersetzen“, so Fasciaux. Ohne eine grundlegende Aufdeckung von Problemen und deren Zusammenhänge, könnten auch keine möglichen Lösungsansätze aufgezeigt werden. Henning Marmulla mahnt darüber hinaus: „Ein konstruktiver Journalismus muss sich auch eingestehen können, dass es Probleme gibt, für die es – noch – keine Lösungen gibt.”

Die größte Herausforderung für den konstruktiven Journalismus liegt laut dem forum-Redaktionsleiter nicht unbedingt in der finanziellen Lage der Redaktionen, sondern in der „zunehmenden Spaltung und Polarisierung“. Es gelte, „mit präsentierten Lösungsvorschlägen nicht nur die zu erreichen, die sowieso empfänglich dafür sind, sondern die, die sich bestimmten Lösungen verschließen”.

In Zukunft könne die neue Methode sich auch hierzulande in etablierten Medien weiter durchsetzen. Darauf hofft auch Nina Fasciaux: „In zehn Jahren wird eine Unterscheidung nicht mehr nötig sein. Es ist wie beim investigativen Journalismus, der jetzt Standard in den Medien ist. Lösungsjournalismus passt nicht immer, aber wenn er es tut, dann ist es wichtig, ihn nutzen zu können.”

(is/rg) – Am Donnerstag stimmte die Abgeordnetenkammer über die umstrittene Neuauflage des luxemburgischen Pressehilfegesetzes ab. Das genaue Votum stand vor Redaktionsschluss noch aus, doch dürfte die Annahme des Gesetzes angesichts der Mehrheitsverhältnisse kaum in Frage stehen. Die Regierung verspricht sich von den neuen Modalitäten Qualität statt Quantität. Kritiker*innen stellen das in Zweifel. Schon im Vorfeld der neuen Gesetzgebung ist es zu Stilllegungen und Entlassungen im Printmedienbereich gekommen, ohne dass im Online-Bereich im gleichen Maße Stellen entstanden wären. Die woxx berichtete mehrfach über die Schwachstellen des Gesetzes, in dessen Ausarbeitung es im Vergleich zu einem mit Medienvertreter*innen diskutierten Vorprojekt zu einer erheblichen Reduzierung der Beihilfen pro Journalist*in gekommen ist. Auf Einwände der ALJP gingen Regierung und Parlament wenig bis gar nicht ein, beteuerten trotzdem sich mit allen Betroffenen ausgiebig beraten zu haben. Ob ein Konzept wie der konstruktive Journalismus die luxemburgische Presse retten kann? Für verschiedene Zeitungen ist ein Plan B auf jeden Fall dringend notwendig, sollten sich ihre Befürchtungen über die Auswirkungen des Gesetzes bewahrheiten.


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