Kunstbuch: Traces

Das neue Kunstbuch „Traces“ 
zelebriert das Projekt „Kufa’s Urban Art“ und erzählt gleichzeitig die spannende Geschichte der Kulturfabrik, der Stadt Esch sowie der Straßenkunst.

„Traces: Kufa’s Urban Art“: ein Katalog, publiziert von Point Nemo Publishing, der mit seinem Inhalt und Layout punkten kann. (Copyright: Isabel Spigarelli)

„Bleib stehen, ich will das fotografieren“, forderte die Autorin dieses Artikels vor Monaten ihre Freundin am Steuer auf. Der Wagen fuhr unweit des Naturgebiets Ellergronn rechts ran, kurz darauf war das Bild im Kasten und das Profilbild auf dem Messengerdienst ausgetauscht. Das Motiv: ein Ausschnitt von „With Ease“ von der Wiener Künstlerin Frau Isa. Der Schnappschuss zeigt eines von über 70 Kunstwerken, die im Rahmen der Reihe „Kufa’s Urban Art“ der Escher Kulturfabrik (Kufa) zwischen 2014 und 2021 entstanden sind, 55 davon in der Hauptstadt des Minetts. „Traces“, im April 2023 bei Point Nemo Publishing erschienen, würdigt das inzwischen abgeschlossene Projekt, aber auch die Kufa und ihren Standort Esch – Ausdruck der engen Verbindung, die zwischen Kunst im öffentlichen Raum und dem Ort, an dem sie kreiert wird, herrscht.

Der Katalog beginnt mit der Entstehungsgeschichte der Kulturfabrik: Die Räumlichkeiten dienten bis 1979 als städtisches Schlachthaus, wurden im Zuge der Industriekrise jedoch geschlossen. Was danach folgte, erinnert ein wenig an die aktuelle Kulturpolitik der Stadt Esch, wie man auf der Website der Kufa nachlesen kann: „À Esch-sur-Alzette, le budget culturel, déjà restreint, est investi exclusivement dans les institutions culturelles « traditionnelles ».“ Künstler*innen der „Theater GmbH“ besetzten damals das verlassene Schlachthaus und verwandelten es in ein alternatives Kulturzentrum. 1996 wurde die Kufa als offizielle Kultureinrichtung anerkannt.

In „Traces“ geht es nach der Einleitung raus aus der Kufa und rein in Eschs Stadtgeschichte: Der luxemburgische Architekt Philippe Nathan führt in „Esch – Catatonique: chroniques erratiques d’une mythologie urbaine“ durch die Vergangenheit. In einer Zeitleiste fasst er die wichtigsten Ereignisse zusammen und beginnt seine Ausführung im Jahr 773. Damals soll ein gewisser Nebulungus seine Ländereien namens „Villa Hesc“ im „livre d’or“ der Echternacher Abtei gespendet haben und somit den ersten Stein für die spätere Stadt Esch gelegt haben. Nathan hangelt sich davon ausgehend durch die Stadtgeschichte und erwähnt die hohe Anzahl an Immigrant*innen, die Esch seit jeher bewohnen. Anfangs kamen diese vornehmlich aus Luxemburg, denn 1871 waren nur 13 Prozent der damals 3.265 Escher*innen Ausländer*innen. 1905, zu Hochzeiten der Industrie im Süden Luxemburgs, waren es 34 Prozent, die Mehrheit davon Italiener*innen; heute machen Ausländer*innen nach dem „Observatoire social 2022“ rund 57 Prozent der Escher Bevölkerung aus. „L’immigration étrangère massive et les nouvelles conditions de production, de travail et de vie font naître de nouveaux idéaux et aspirations sociaux et politiques plutôt progressistes“, wertet Nathan den Einfluss der ausländischen Gemeinschaft auf Esch positiv. Wer Interesse an dem Thema hat, sollte hierzu auch Jérôme Quiquerets Sachbuch „Tout devait disparaître“ lesen: Der Autor gibt ebenfalls Einblicke in die Minettstadt im 20. Jahrhundert und in das Leben ihrer Bewohner*innen. Die woxx rezensierte das Buch – dieses Jahr mit dem Prix Servais ausgezeichnet – ausführlich in der Ausgabe 1711.

In „Traces“ geht es nach der Einleitung raus aus der Kufa und rein in Eschs Stadtgeschichte.

„Traces“ führt schließlich weg von Esch in eine Höhle im Südwesten Frankreichs, nach Ägypten und in das antike Griechenland, wo die Kunstrestaurator*innen Fabian Sever und Anna-Maria Tupy die Anfänge der Wandmalerei und somit der Kunst im öffentlichen Raum verorten. In „L’art d’en haut – l’art d’en bas: la décoration murale à travers les millénaires“ fassen die österreichischen Autor*innen die Entstehung der Straßenkunst zusammen. Sever und Tupy erwähnen unter anderem, warum sich Graffiti in den 1960er-Jahren in den amerikanischen Städten Philadelphia und New York verbreitete. Die Kluft zwischen den sozialen Klassen klaffte zunehmend auseinander; genauso verschärfte sich die Benachteiligung nicht-weißer Personen. Es entstanden Straßengangs, die ihren Bezirk mit Tags – der einfachsten Form des Graffiti – versahen. Gleichzeitig war dies ein Weg, um marginalisierten Menschengruppen zu mehr Sichtbarkeit im öffentlichen Raum zu verhelfen.

Sever und Tupy holen noch weiter aus und jede Zeile ihres Beitrags ist lesenswert, doch „Traces“ hält weitere nennenswerte Aspekte bereit: Da gibt es zum Beispiel die hochwertigen Fotos der Kunstwerke, die im Rahmen des „Kufa’s Urban Art Esch“-Projekts entstanden sind. In den Kapiteln „Zoom“ werden die Arbeiten einzelner Künstler*innen hervorgehoben, zum Beispiel die der Luxemburger*innen Chiara Dahlem und Emile Hengen. Dahlems Werk „Mother Nature“ entstand 2021 auf der Place Argentin, in der vielbefahrenen Escher Kanal-
straße. Die Arbeit – sie zeigt ein Porträt, Ketten und grafische Formen in bunten Farben – erstreckt sich über Mauern, Bänke und Baumstämme. In den Baumkronen sind Spots installiert, die den Platz nachts beleuchten. Die Künstlerin traf sich vor der Anfertigung ihres Werks mit Bewohner*innen aus dem Viertel und vermittelt mit ihrer Arbeit eine klare Message, die sie auf einem Mäuerchen auf der Place Argentin ausbuchstabiert: „Respect this place respect mother nature respect each other“.

Der Fotograf Emile Hengen blieb seinem Medium treu: In der Eingangshalle des Escher Bahnhofs hängen, ebenfalls seit 2021, seine Schwarz-Weiß-Porträts. „The Journey Within“ soll die Diversität und die Vitalität der Escher Bevölkerung spiegeln. Hengen ging auf der Straße, an Bushaltestellen oder am Bahnhof selbst auf die Porträtierten zu und fing so Momentaufnahmen ein. Darunter befindet sich auch das eine oder andere bekannte Gesicht aus Esch – mehr verraten wir an dieser Stelle aber nicht.

In „Traces“ sind neben Chiara Dahlems und Emile Hengens Werken weitere Arbeiten samt Erläuterungen abgebildet, viele stammen von internationalen Künstler*innen. Eine Zeitleiste in der Mitte des Buches ermöglicht den Überblick: Welches Werk wurde wann angefertigt? Wo ist es zu finden? Wer steckt dahinter? Am Ende muss dem Verlag und dem beteiligten Grafikstudio „Studio Polenta“ ein großes Lob ausgesprochen werden: „Traces“ besticht nämlich nicht nur durch sein Cover, sondern auch durch die Innengestaltung.

Der Wechsel zwischen Hochglanzbildern und matten Fotos, zwischen Archivmaterial aus vergangenen Jahrhunderten und rezenten Eindrücken, zwischen Essays und Infoboxen sorgt für Abwechslung. Buchliebhaber*innen kommen auf ihre Kosten, genauso wie Menschen, die sich für Kunst- und Stadtgeschichten begeistern. Und selbst Kritiker*innen der Institutionalisierung von Straßenkunst, zu der sich auch die Autorin dieser Zeilen zählt, können das Buch ohne Gram aufschlagen. Auch wenn Urban Art [legal produzierte Auftragsarbeiten im öffentlichen Raum] immer noch weit von der Grundidee des Graffiti entfernt ist und jede Diskussion über die Instrumentalisierung von Kunst zum Städtemarketing geführt werden sollte, wird bei der Lektüre von „Traces“ deutlich, dass das Projekt weit mehr erreichen wollte, als Esch aufzuhübschen. Davon zeugt schon allein die Erarbeitung dieses umfangreichen und informativen Katalogs, der seit Ende April in den Buchhandlungen zu finden ist.

Traces: Kufa’s Urban Art Esch. 
Point Nemo Publishing.

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