Auf dem Lyrikmarkt gibt es immer Neues zu entdecken. Der erste Teil unserer Reihe „Lyrische Lektüretipps“ enthält drei konkrete Empfehlungen, die von „Nature Writing“ bis hin zur Holocaustliteratur reichen.
„Heimliches Gebet. Vom Trockenrasen (und nahebei)“ von Bernd Marcel Gonner
Es ist die prunkvolle Farbpalette dieses Biotops, die dem Auge schmeichelt: Auf dem Trockenrasen, auch Magerwiese genannt, blühen büschelweise seltene Blumen- und Pflanzenarten wie zum Beispiel der Acker-Gelbstern oder das Weiße Waldvöglein, Bienen und Schmetterlinge bummeln von Blüte zu Blüte, Käfer krabbeln durch die hohen Gräser. Dieser kostbare und im Verschwinden begriffene Lebensraum entsteht auf nährstoffarmen Böden, wenn über längere Zeiträume nicht gemäht oder gedüngt wird und auch kaum Beweidung stattfindet. Ihm widmet der Autor Bernd Marcel Gonner nun einen ganzen Gedichtband. „Heimliches Gebet. Vom Trockenrasen (und nahebei)“ heißt das 116-seitige Werk, das im auf Nischenpoesie spezialisiertem Luxemburger Michikusa-Verlag erschienen ist. Jedes Gedicht ist ein zärtlicher Lobgesang auf ein ganz bestimmtes Gewächs, Seite um Seite vergrößert sich die Vielfalt der bedichteten Flora. Es sind knappe Texte, die schnell wie das Blitzlicht einer Kamera bunte Impressionen einfangen, das kürzeste Gedichte hat nicht einmal die Länge eines Haikus und umfasst insgesamt sieben Wörter: „Der Stein dein Freund: / die Sonne keimt.“ Der Zweizeiler handelt vom Scharfen Mauerpfeffer, der von Juni bis August blüht. Als Leser*in ist man versucht, jeden einzelnen Pflanzennamen nachzuschlagen, um zu prüfen, ob das, was der Autor in seiner Feinfühligkeit in ihr sieht, auch den eigenen Eindrücken entspricht. Das mag nicht immer der Fall sein, aber gerade diese Diskrepanz hat auch ihren Reiz: Das Gesehene löst immer auch individuelle Assoziationen aus. Manchmal fragt man sich nur, ob sich der Autor mit seinen oft streng eingehaltenen Reimen die Aufgabe nicht unnötig erschwert hat, besonders wenn eben diese Reime ein wenig bemüht oder umständlich wirken – so werden unter anderem Fluppe und Bauernsuppe klanglich gepaart. Verschiedene zarte Bilder sind wiederum sehr gelungen, zum Beispiel jenes in dem Gedicht zur Büschel-Glockenblume: „Dein Blau: Samt in Asche gewendet“.
Bernd Marcel Gonner: „Heimliches Gebet. Vom Trockenrasen (und nahebei)“, Gedichte, Michikusa Publishing Luxembourg, Luxemburg 2024, 116 Seiten, 15 Euro
„ohne Orchester“ von Grzegorz Kwiatkowski
Wie in seinem ersten Gedichtband „brennend“ wendet sich der polnische Dichter Grzegorz Kwiatkowski in „ohne Orchester“ der Schreckens- periode des Zweiten Weltkriegs zu. In seinen Texten, aus dem Polnischen übersetzt von Peter Constantine, lässt er reale Opfer und Täter*innen in aller unerbittlichen Drastik von erlebten oder begangenen Gräueltaten berichten. Das Wort ergreift zum Beispiel der deutsche Chemiker Albert Widmann, der für das NS-„Euthanasie“-Programm die Methode der Vergasung entwickelte: „Menschen töten? / nein / das Töten von Tieren in Menschengestalt / das heißt psychisch Kranke“, heißt es in dem entsprechenden Gedicht, das nichts weniger ist als ein Faustschlag in die Magengrube, so entsetzlich erscheint der Inhalt, so herzerschütternd klar die sprachliche Rahmung des Horrors. Das Antlitz des Bösen, so viel wird bei der Lektüre deutlich, verfügt über unzählige Profile, spricht mit unüberschaubar vielen Stimmen. Es ist ein polyphones Drama, das sich in „ohne Orchester“ entfaltet – und mit ihm tut sich der tiefste Abgrund der Menschheit auf. In tiefempfundener Solidarität mit den Millionen Verfolgten und Getöteten lässt Kwiatkowski auch sie zu Wort kommen. Unter ihnen den Künstler Karol Stojka, der den Völkermord an den europäischen Roma überlebte: „nicht Hitler Göring Goebbels und Himmler haben mir vertrieben und geschlagen / nicht sie / sondern der Milchmann und der Briefträger von nebenan“. Die Deportierte Erna Birnbach erzählt ihrerseits: „raus raus raus / schnell schnell schnell / so wurden wir aus den Waggons gejagt / wie Kartoffeln aus einem Sack geschüttet“. Das Moment poetischer Vergegenwärtigung steht im Zentrum von Kwiatkowskis klarer und präziser Dichtung, mit ihr leuchtet er die dunkelsten Ecken unserer Geschichte aus, dort, wo die Schatten der Vergangenheit schon wieder an den Rändern der Gegenwart zu fressen beginnen. In seinen Werken entwickelt der Lyriker eine Poetik des Beharrens, die sich gegen das Vergessen und Beschweigen wehrt, und uns immer wieder sagt: Das Grauen darf sich nicht wiederholen.
Grzegorz Kwiatkowski: „ohne Orchester“, Gedichte, Parasitenpresse, Köln 2024, 72 Seiten, 12 Euro
„ich grabe nach den bleistiften homers“ von Werner Weimar-Mazur
Es ist eine prekäre Ausgangslage, die dem*der Leser*in in den ersten Texten von Werner Weimar-Mazurs Gedichtband „ich grabe nach den bleistiften homers“ präsentiert wird. „[Es gibt kein zurück] / in die gebärmutter“ heißt es gleich zu Beginn, und die Worte lassen keinen Zweifel daran, dass die Vertreibung aus dem Paradies stattgefunden hat; als eine unumkehrbare Tragödie verdammt der Sündenfall das Individuum nun zur steten Selbstsuche. Der entwurzelte Mensch sucht Obdach bei der Erde, einstige mütterliche Schutzheilige, doch sie hat im Prozess des Gebärens der Welt ihren eigenen Niedergang erlebt. Es bleibt „eine schmutzige erdkrume“ in den Händen des im doppelten Sinne schürfenden lyrischen Ichs: Sowohl angetrieben von seinem Bedürfnis nach Selbsterkenntnis als auch von dem Wunsch nach geschichtlich-geistiger Verankerung gräbt es den Boden um und sucht das Erdreich nach dem poetischen Vermächtnis des großen Dichters Homers ab. Die Rückwendung zur Antike führt jedoch nicht unbedingt zu einer neuen kreativen Glanzzeit, die (Un-)Möglichkeit der zwischenmenschlichen Verständigung wird in den Texten immer wieder verhandelt. Einerseits wird auf die Gefährdung und die Vergeblichkeit, andererseits aber auch auf die Magie des (lyrischen) Sprechens und Schreibens hingewiesen, besonders wenn es die Natur selbst ist, die zu singen anfängt: „skelette gestrandeter wale / sprechen eine eigene sprache / pure poesie“. Trotz der Rückbesinnung auf klassische Traditionen vermeidet das lyrische Ich jegliche Epigonalität und strebt das Neue, Verzaubernde am menschlichen Wort an: „ich werde eine schrift erfinden / für einen zustand zwischen schnee meer und kürbis“. Diese bietet gar eine neue Heimat für Flora und Fauna: „in dieser schrift werden sich tiere und pflanzen verstecken können.“ Mit der Geduld und Akribie eines Archäologen oder einer Archäologin legt das lyrische Ich in den Gedichten nicht nur die Rudimente alter Kulturen und Epochen in Form von Referenzen und Verweisen frei, sondern auch das Skelett seiner eigenen, von einem nicht versiegenden Schaffensdrang geprägten Dichterpsyche, die untrennbar mit der sie spiegelnden Landschaft verbunden ist: „das meer liegt immer / irgendwie draußen / in mir“.