Maren Ade
: Völlig losgelöst


„Toni Erdmann“ ist sicher die Überraschung des Kinojahrs: 
Ein skurriler Film mit eigenständigem Humor, der nichts verspricht und doch alles hält.

Wenn der Papa sich zum Toni wandelt...

Wenn der Papa sich zum Toni wandelt…

Der Plot von „Toni Erdmann“ ist schnell erzählt: Ein Vater besucht seine Tochter in Bukarest, danach stirbt die Oma. Das ist alles. Und doch gelingt es Regisseurin Maren Ade, mit dieser simplen Geschichte einen Film von 140 Minuten zu füllen, ohne dass einem langweilig wird. Und das ist vor allem den Personen zu verdanken. Nämlich einerseits dem Vater-Tochter-Gespann – bestehend aus Winfried Conradi, Alt-68er mit manchmal grenzwertigem Humor, und Ines, die sich ganz dem Businessleben verschrieben hat und von Bukarest aus Unternehmen berät. Vor allem zu dem Problem, wie man diskret Tausende Arbeitsplätze vernichtet. Und andererseits den Kollegen der Tochter, abgebrühten Businessmen und -women, die im neoliberalen Dschungel fressen, um nicht gefressen zu werden.

Nach einem Besuch der Tochter in der alten Heimat, der allzu kurz verlaufen ist, entschließt sich Winfried spontan, sie seinerseits in Rumänien zu besuchen. Doch irgendwie funkt es nicht zwischen dem alten Mann mit seinen nervenden Scherzen und seiner unterkühlten Tochter. Aber nachdem er sich offiziell schon verabschiedet hat, entscheidet er sich plötzlich, noch ein wenig zu bleiben. Um das Leben seiner Tochter ein bisschen aufzumischen, gibt er sich nun als „Toni Erdmann“ aus, wahlweise deutscher Botschafter in Rumänien oder Berater von Geschäftsmann Ion Tiriac, einem der reichsten Männer des Landes. Dies führt mitunter zu absurden Situationen, in denen vor allem die Welt der Unternehmensberater mit all ihrer Arroganz und Zynismus vorgeführt wird.

Ein engagierter, kapitalismuskritischer Film ist „Toni Erdmann“ deshalb aber nicht. Und er ist auch kein Generationen-Melodram. Nein, „Toni Erdmann“ ist nichts von beidem. Und irgendwie doch genau das. Der Film hat kein Gravitationszentrum, dem Zuschauer wird – erfreulicherweise – keine Interpretation aufgedrückt. Vielleicht reagierten auch deshalb manche Zuschauer irritiert. Eben weil von ihnen gefordert wird, dass sie sich mit dem Werk auseinandersetzen. „Schwierig“ ist „Toni Erdmann“ deshalb aber nicht. Es ist eben gerade seine Leichtigkeit, die ihn zu einem außerordentlichen Film macht.

1386kino_telexxEin Film eigentlich wie eine Zugfahrt durch das Leben der anderen. Sicher sind verschiedene Gags nicht alltäglich, und der Film spitzt auch manche Situationen zu – trotzdem kommt niemals das Gefühl auf, dass die Regisseurin den Zuschauer energisch bei der Hand nimmt, damit er ihre Botschaft verstehen möge. Sogar in der einen Nacktszene – die, soviel sei angemerkt, sicher Kinogeschichte machen wird – dirigiert sie die Charaktere so unauffällig, dass man es fast gar nicht merkt.

„Toni Erdmann“ lebt vor allem von seinen Schauspielern, obwohl die dem breiten Publikum nicht sehr bekannt sein dürften. Beide, Sandra Hüller als Ines und Peter Simonischeck als Vater sind vorwiegend durch Theaterrollen hervorgetreten – allerdings hat Hüller als vom Satan besessene Studentin in Hans-Christian Schmids Film „Requiem“ bereits Leinwanderfahrung gesammelt.

Diese relative Unbekanntheit und Unverbrauchtheit ist letztlich ein Vorteil, denn berühmtere Gesichter hätten die Erwartungen der Zuschauer viel stärker vorgeprägt, und die Ungewissheit, wie es mit den beiden wohl ausgeht, wäre sicher nicht so knisternd spannungsvoll gewesen.

Dass der Film in Cannes leer ausging, kann auch daran liegen, dass die Franzosen einfach neidisch waren. Durchaus zu Recht, denn einen so gelungenen Autorenfilm hat das französische Kino schon seit Jahrzehnten nicht mehr hervorgebracht.

In der Cinémathèque.

Bewertung der woxx : XXX


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