Wem gehört die Moderne? Die Brüsseler Ausstellung „Berlin 1912-1932“ ermöglicht – und erzwingt – einen ungeschützten Blick auf das, was heute als Scharnierepoche erscheint.
Die Beschäftigung mit der Zeit vor 1933 und damit auch vor der Herrschaft der Nationalsozialisten kommt selten ohne die Aufforderung aus, mögliche Bezüge zur Gegenwart nicht zu übersehen. Wann und wie begann die Vorgeschichte all dessen, und welche Schlüsse lassen sich daraus eventuell für gegenwärtige Entwicklungen ziehen? Häufig wird das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart dann allerdings über bloße Analogien bestimmt. Das mag auf einzelne Merkmale bezogen zwar auf plakative Weise triftig erscheinen. Es funktioniert jedoch meist nur unter Ausblendung der Komplexität der jeweils verschiedenen gesellschaftlichen Situation.
Als Michel Draguet, Generaldirektor der Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique der Presse am Donnerstag vergangener Woche die aufwendige neue Ausstellung „Berlin 1912-1932“ vorstellte, fügte auch er hinzu, man wolle damit „eine Reflexion auf unsere Epoche“ anregen. Die Weise, wie Berlin in der Ausstellung selbst als Katalysator der Moderne präsentiert wird, lädt jedoch ebenso dazu ein, gängige Erzählschemen über den Geschichtsverlauf zu hinterfragen.
Das zeigt sich schon an der im Titel angegebenen Zeitspanne: Anders als üblich, wurde nicht das Intervall vom Anfang respektive Ende des Ersten Weltkrieges bis zum Machtantritt der Nazis gewählt, um einen sinngebenden temporalen Zusammenhang zu bestimmen. Stattdessen beginnt die Ausstellung mit 1912, dem Jahr, in dem Herwarth Walden in Berlin seine einflussreiche Galerie „Der Sturm“ eröffnete. Das Schlussdatum orientiert sich an einer Werkschau von George Grosz in Brüssel und Gent, letzter Anlass der in „Berlin 1912-1932“ thematisierten belgisch-deutschen künstlerischen Zusammenarbeit, bevor wenige Monate später die Naziherrschaft beginnt.
Im ersten, stark von expressionistischen Werken bestimmten Raum, kann man bereits entdecken, wie unterschiedlich deutbar sich die gesellschaftliche Dynamik ästhetisch in verschiedenen Formen und Themen kristallisiert. So wird das Gemälde „Die Stadt“ (1913) von Jakob Steinhardt mit Hans Richters frühem Werk „Aufstand“ (1915) kontrastiert. In beiden Motiven werden Massen von Menschen durch eine Häuserschlucht gespült. In Steinhardts Gemälde vermitteln gekrümmte Häuserwände und die Proportionen der schemenhaft reduzierten Figuren eine sogartig sich beschleunigende Bewegung des von einer dahingleitenden Tram flankierten Getümmels. Diese Großstadtszene wirkt nicht weniger beklemmend als die voranstürmenden Massen in Richters Momentaufnahme einer mit einer (roten?) Fahne bewehrten Demonstration. Was immer hier gerade in Bewegung gekommen ist, so scheint das drängende „Nur weiter!“ beider Bilder zu vermitteln: es wird schwer, sich dem zu widersetzen.
Wie Steinhardt hatte auch Hans Richter damals Kontakte zur expressionistisch orientierten „Sturm“-Galerie. Er wird jedoch als Filmkünstler und Vertreter der dadaistischen Bewegung Karriere machen, in klarer Abgrenzung zum Expressionismus also, den die Dadaisten als Ausdruck eines bürgerlichen Eskapismus kritisierten.
Auch Dada ist in der Ausstellung ein eigener Abschnitt gewidmet, wobei hier die radikale Revolte gegen die Kunst mit deren radikaler Politisierung, etwa in den Arbeiten von John Heartfield kontrastiert wird. Eine solche „Politisierung der Kunst“ hatte der Philosoph Walter Benjamin nicht zuletzt als Strategie gegen die von den Nationalsozialisten betriebene „Ästhetisierung der Politik“ gefordert.
Kunst und Politik
Zwar war der Expressionismus gerade auch seiner Uneindeutigkeit wegen umstritten. Kritiker wie der ungarische Philosoph Georg Lukács gingen gar soweit, als bloß bürgerliche Opposition habe der Expressionismus ästhetisch dem Faschismus in die Hände gespielt. Rückblickend lassen sich jedoch ebenso sehr die Grenzen vermeintlicher Eindeutigkeit erkennen. Etwa in einer in Brüssel ausgestellten Heartfield-Collage (die man heute wohl im Sinne eines „linken Populismus“ einordnen würde): Sie zeigt Hitler mit zum Gruß erhobener rechter Hand, in welche ein Vertreter des deutschen Kapitals ihm zahlreiche Geldscheine drückt. Damit hatte Heartfield den „nationalen Sozialismus“ entlarven wollen. Zugleich jedoch hat er auf diese Weise die nationalsozialistische Bewegung auf von den „Kapitalisten“ instrumentalisierte Marionetten reduziert – eine gängige Analyse des Nationalsozialismus zur damaligen Zeit.
Ausgehend von Expressionismus und Dada über Konstruktivismus, Bauhaus und Neuer Sachlichkeit, ist die von Inga Rossi-Schrimpf kuratierte Ausstellung „Berlin 1912-1932“ nicht nur an der Abfolge der verschiedenen Stilrichtungen, sondern auch an den damals vorherrschenden Themen und maßgeblichen Zirkeln der Künstler*innen orientiert. Auf diese Weise werden die Werke dezidiert gesellschaftlich eingeordnet: „Städtische Avantgarde und Krieg“, „Revolution und Utopie“, „Mythos Berlin“ und „Krise“ sind die Oberbegriffe, unter denen Gemälde und Plastiken, aber auch Fotografie, am Bauhaus orientierte Architektur sowie zeitgenössische Kunsttheorie und deren maßgebliche Organe präsentiert werden. Neben Waldens „Sturm“ taucht die „Novembergruppe“ um Künstler*innen wie Max Pechstein und Käthe Kollwitz auf, dazu Journale wie der vom Düsseldorfer Galeristen Alfred Flechtheim ins Leben gerufene „Querschnitt“ und dessen von Paul-Gustave van Hecke initiiertes belgisches Pendant, die „Sélection“.
Otto Dix, Kasimir Malewitsch, Wassily Kandinsky – berühmte Werke aus über fünfzig öffentlichen und privaten Sammlungen wurden für die sehenswerte Ausstellung ausgeliehen, mit der die intensive Beschäftigung der Musées royaux mit dem Ersten Weltkrieg zum Abschluss kommt.
Auch die Luxemburger Kunsthistorikerin Laura Kollwelter, die mittlerweile am hiesigen Musée national d’histoire et d’art arbeitet, war an der Konzeption von „Berlin 1912-1932“ beteiligt. Kollwelter hat sich bereits vor zwei Jahren als Kuratorin der erfolgreichen Ausstellung „14-18. Rupture or Continuity?“ in Brüssel einen Namen gemacht. Damals stand die Frage im Mittelpunkt, inwiefern die häufig kolportierte Behauptung tatsächlich zutrifft, wonach der Erste Weltkrieg einen Bruch im Kunstschaffen bedeutet und die künstlerische Avantgarde überhaupt erst provoziert habe.
Die aktuelle Ausstellung greift diesen Ansatz auf. Sie wirbt ebenfalls dafür, die These eines radikalen Bruchs zu hinterfragen. So hatten Kubismus, Futurismus und Expressionismus bereits vor Kriegsbeginn existiert. Andererseits konnte sich gerade in Deutschland der Expressionismus im Verlauf des Krieges als nationale Kunst etablieren und wurde ab 1916 auch staatsoffiziell gegen andere, internationale Kunstströmungen in Anschlag gebracht.
Eine „andere Moderne“?
Es ist eine Stärke der Brüsseler Ausstellung, anhand der ästhetischen Wirkung der präsentierten Werke die Vieldeutigkeit und Offenheit, aber auch das viele Zeitgenoss*innen schockierende Tempo der Umwälzungen gesellschaftlicher Wirklichkeit zu demonstrieren. Vieles wäre in dieser Wirklichkeit möglich gewesen, und „Berlin 1912-1932“ gestattet einen Einblick in diesen Horizont der Möglichkeiten.
Zugleich jedoch wird die ästhetische Wirkung dadurch auf eine Weise verabsolutiert, in der jene politischen Entwicklungen einer historisch wie ästhetisch zunächst offenen Situation, die dann tatsächlich eingetreten sind, kaum zur Sprache kommen.
Nicht thematisiert wird etwa (zumindest ohne Audio-Guide), welche prominente Rolle der Bildhauer Arno Breker bei den Nationalsozialisten spielte, von dem unter dem Motto „Die andere Moderne“ in Brüssel ebenfalls ein Werk zu sehen ist. Oder dass der auf Alfred Flechtheim folgende „Querschnitt“-Herausgeber Hermann von Wedderkop mit Benito Mussolini sympathisierte, während die Novembergruppe um Käthe Kollwitz eine deutlich antispartakistische, keineswegs revolutionäre Haltung vertrat.
Durch diesen mangelnden Bezug auf die Gesellschaftsgeschichte teilt die Ausstellung die Problematik der in ihr reflektierten künstlerischen Epoche, in der nicht nur ein Kunststil, sondern erstmals das Heranreichen der Kunst insgesamt an die Wirklichkeit radikal infrage stand: Auch die Brüsseler Ausstellung reproduziert so bis zu einem gewissen Grad den Bruch zwischen ästhetischem Wirken und dem Zugriff auf die Realität. Dieser lässt sich auch durch eine der eigentlichen Ausstellung vorangestellte, aufwendig gestaltete historische Zeitachse nicht kitten.
Dass es sich dabei um ein Dilemma von ungebrochener Aktualität handelt, hat zeitgleich mit der Eröffnung der Ausstellung der Theaterautor und Regisseur Milo Rau in Erinnerung gebracht. Als neuer Intendant des Nationaltheaters Gent hat Rau „Zehn Thesen für ein Theater des 21. Jahrhunderts“ proklamiert; sein zeitgenössischer Versuch, mit der Kunst zur Realität vorzudringen.
In all ihrer Widersprüchlichkeit ermöglicht die Themen-Ausstellung „Berlin 1912-1932“ einen keineswegs bloß kunstgeschichtlichen Blick auf eine Epoche, ohne diesen von den scheinbar zwingenden Konsequenzen geschichtlicher Entwicklung her auf das vermeintlich zwangsläufige Ende zurecht zu trimmen.
Die Ausstellung „Berlin 1912-1932“ ist noch bis zum 27.01.2019 in den „Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique“ in Brüssel zu sehen. Sie wird von einer Veranstaltungsreihe mit dem Titel
„Cabaret-Philo“ begleitet.
Das von Laura Kollwelter und Inga Rossi-Schrimpf herausgegebene Buch
„14/18 – Rupture or Continuity: Belgian Art Around World War I“ zur Vorgängerausstellung ist soeben bei
Leuven University Press erschienen.
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