Netzkultur: Tick Tack für Tiktok

Trump droht der beliebten Online-App Tiktok mit baldiger Sperrung. Sollte diese tatsächlich eintreten, verlören vor allem junge Menschen eine ihrer zentralen Plattformen für den Kontakt mit emanzipativer und nachhaltiger Politik.

Tiktok ist vor allem für die Tänze bekannt, die die Nutzer*innen einstudieren und vor der Kamera vorführen. Doch das Videonetzwerk wird zunehmend zum Ort der politischen Agitation. (Foto: Tiktok)

Inmitten von Corona und Black Lives Matter-Protesten kündigte Donald Trump Anfang August überraschend an, die beliebte App Tiktok per Verfügung sperren zu wollen, falls diese nicht innerhalb von 45 Tagen eine*n US-amerikanischen Käufer*in fände. Dem US-Präsidenten zufolge stellt die Plattform des chinesischen Konzerns ByteDance, auf der Nutzer*innen bis zu 15 Sekunden lange Videoschnipsel teilen können, eine Gefahr für die nationale Sicherheit der USA dar, da sie angeblich die von ihren Nutzer*innen gesammelten Daten an das Regime in Peking weitergibt.

Tiktok hat die Vorwürfe mittlerweile zurückgewiesen und die US-Regierung verklagt. Auch unabhängige Expert*innen bewerten Trumps Verfügung als unverhältnismäßigen Eingriff in die sowieso schon zunehmend gefährdete Freiheit des Internets. Doch das ist längst nicht der einzige Grund, weswegen die Sperrung von Tiktok durch die US-Regierung problematisch wäre. In letzter Zeit hat sich Tiktok nämlich auch als ein erstaunlich wirkmächtiges Vehikel für emanzipative und nachhaltige Politik erwiesen – vor allem für Mitglieder der Gen Z, die Schätzungen zufolge 60% der 800 Millionen aktiven Tiktok-Nutzer*innen ausmachen.

Moos und Marx

So finden sich auf Tiktok beispielsweise Unmengen von verschiedenen Accounts, die die Nutzer*innen der App über Umweltschutz und Biodiversität aufklären. Wie ein Artikel des Guardian vor Kurzem beleuchtete, posten diese Videos, in denen sie sich etwa mit der Rekultivierung von Böden oder den Vorzügen von Moos auseinandersetzen und vor dem drohenden sechsten Massenaussterben warnen. Dazu hat sich auf der App eine ganze Subkultur namens „Grass Tiktok“ herauskristallisiert, auf der Nutzer*innen sich über Pflanzenspezies austauschen und Bilder ihrer Gärten miteinander teilen.

Ein weiteres erwähnenswertes Phänomen in diesem Kontext ist „EcoTok“, ein Kollektiv aus jungen Klimaaktivist*innen, die in ihren Videoschnipseln neben praktischen Tipps – etwa zum Kompostieren auf kleinem Raum – auch zentrale Ideen der Klimabewegung in komprimierter Form erläutern oder auf Fragen von Nutzer*innen antworten. Vom Konzept her orientiert sich der Account hierbei an dem sogenannten „Hype House“, einer in Los Angeles ansässigen WG der größten Stars der Plattform, die sich einen Account teilen, der über 18 Millionen Follower verfügt, und dort gemeinsam Videos posten.

EcoTok ist nicht das einzige Kollektiv dieser Art auf Tiktok. Im April gründeten linke Jugendliche das sogenannte „Communist Hype House“, auf dem sie marxistische Theorie in kurzen Videos verarbeiten, ihre Lieblingsdenker*innen auflisten und auf Beiträge von konservativen Tiktok-Nutzer*innen reagieren (die, wenig überraschend, wiederum über ihre eigenen Hype Houses verfügen). Dazu veranstalten sie Debatten auf ihrem gleichnamigen Youtube-Kanal.

Genau wie im echten Leben verwickeln sich die linken Strömungen in den Videos und Kommentarspalten auf Tiktok immer wieder in ideologische Grabenkämpfe untereinander. Dazu trägt nicht zuletzt die Struktur der Communities auf der App selbst bei. Ähnlich wie auf vergleichbaren sozialen Medien – man denke nur an Youtube, wo man Videos zu allen möglichen, noch so ausgefallenen Themen findet – zeichnet sich Tiktok nämlich durch eine starke Tendenz zur Nischenbildung aus. Die wiederum bringt die sowieso schon vorhandenen Klüfte zwischen linken Gruppen umso stärker zur Geltung und sorgt auch für mehr Gatekeeping, das heißt schwierigeren Zugang zu bestimmten Kreisen.

Der Hang zum Herauskristallisieren von Nischen auf Tiktok impliziert allerdings nicht, dass es sich bei all den genannten Videos und Subkulturen um obskure Phänomene handelt, die nur über ein kleines Publikum verfügen. Ganz im Gegenteil sogar: Die Videos von „Grass Tiktok“ alleine wurden über 380 Millionen Mal aufgerufen und sogar der Hashtag „Marxismus“ verzeichnet immerhin über 18 Millionen Aufrufe. Das ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass Gen Z im Speziellen den verheerenden Folgen des Spätkapitalismus und dem drohenden ökologischen Kollaps ausgeliefert ist und somit eine größere Empfänglichkeit für politische Ideen aufweist, die diesen Entwicklungen entgegenwirken wollen. Auch die Tatsache, dass diese Inhalte oftmals auf unterhaltsame Art und Weise in den auf der App gängigen Meme-Formaten – wie etwa Lippensynchronisation zu populären Songs – präsentiert werden, erhöht ihre Reichweite und Zugänglichkeit für Menschen dieser Altersgruppe beträchtlich. Der Forscherin Dr. Kligler-Vilenchik von der Hebrew University of Jerusalem zufolge handelt es sich bei diesen Tiktok-spezifischen Ausdrucksformen nämlich um „geteilte symbolische Ressourcen“, die die Verständigung und das politische Gemeinschaftsgefühl unter jungen Menschen erleichtern, wie sie jüngst in einem Interview mit der New York Times erläuterte.

Foto: Pixabay

K-Pop-Fans gegen Trump

Die politische Zugkraft von Tiktok offenbart sich aber nicht nur in der theoretischen Wissensvermittlung, sondern auch in der Praxis. Ein rezentes Beispiel hierfür sind von diversen Aktivist*innen ins Leben gerufene Kampagnen, die sich für Erntehelfer*innen in Kalifornien einsetzen. Wie das Onlinemagazin Vice vor Kurzem berichtete, haben sich zahlreiche Minderjährige dazu bereit erklärt, auf den Feldern des US-Bundesstaats zu arbeiten, um ihren durch die Coronakrise in finanzielle Not geratenen Familien unter die Arme zu greifen – und das trotz der Gefahr durch die wie jeden Sommer grassierenden Waldbrände. Auf Tiktok im Speziellen kursieren hierbei zahlreiche Videos davon, wie Kinder und Jugendliche mit oftmals marginalem Schutz Erdbeeren pflücken oder den Boden beackern. Aus diesem Austausch über die unzumutbaren Zustände auf den Feldern Kaliforniens wiederum sind schließlich Spendenaktionen auf GoFundMe und anderen Seiten entstanden, um Masken für die Arbeiter*innen zu kaufen und sie so vor der durch die Brände verunreinigten Luft zu schützen.

Auch Trump selbst bekam Tiktoks Potenzial zur politischen Mobilisation von jungen Menschen am eigenen Leib zu spüren. Im Vorfeld eines öffentlichen Auftritts des US-Präsidenten am 20. Juni in Tulsa, Oklahoma riefen K-Pop-Fans auf Tiktok dazu auf, massenweise kostenlose Tickets für die Veranstaltung zu bestellen, ohne auf dieser aufzutauchen. Nicht zuletzt aufgrund der Expertise von K-Pop-Fans hinsichtlich der Algorithmen der App und Unterstützung durch die populäre „Alt Tiktok“-Sphäre – die sich durch Widerstand gegen das oftmals glatt gebügelte Mainstream-Tiktok und einen Fokus auf queere Identitäten auszeichnet – erhielten die Videos stellenweise Millionen von Aufrufen. Damit niemand im restlichen Internet Wind von der Aktion bekam und Trumps Kampagnenteam darauf aufmerksam machte, löschten die internetaffinen Jugendlichen ihre Clips schließlich wieder nach einem bis zwei Tagen.

Am Ende trat Trump schließlich vor größtenteils leeren Rängen auf. Nur 6.200 der 19.000 Sitze waren besetzt. Manche mutmaßen sogar, dass seine Drohung, Tiktok zu sperren, mit dieser Bloßstellung zusammenhängen könnte. Allerdings wird darüber gestritten, wie viel Einfluss die Jugendlichen tatsächlich auf die leeren Ränge hatten. Manche vermuten, dass die Veranstaltung letztlich eher durch die schiere Unfähigkeit von Trumps Kampagnenteam in den Sand gesetzt wurde.

Die App selbst ist jedoch keine wirklich ideale Plattform für emanzipatorische Politik. So mag sie zwar nicht erheblich mehr Daten sammeln als andere soziale Medien wie Facebook oder Instagram, und gebe laut eigener Aussage ihre Informationen auch nicht an den chinesischen Staat weiter. Allerdings können diese einem netzpolitik.org-Artikel zufolge nach wie vor über Partnerunternehmen an die Regierung in Peking weitergeleitet werden, wenn diese das verlangte. Außerdem geriet Tiktok Anfang des Jahres in Kritik, weil Moderator*innen in internen Schreiben dazu aufgefordert wurden, Inhalte von Nutzer*innen mit „abnormalen Körperformen“ oder „hässlichen Gesichtern“ zu unterbinden – angeblich um sie vor Cybermobbing zu bewahren. Manche Aktivist*innen riefen deswegen sogar die Nutzer*innen der App auf, diese zu löschen.

Keine ideale, aber trotzdem eine wichtige Plattform

Darüber hinaus ist die chinesische Version der App, Douyin, bekannt dafür, kritische Inhalte über die chinesische Regierung gezielt zu zensieren. Und als Produkt eines durch und durch profitorientierten Unternehmens hat Tiktok selbst letztlich auch schon von vornherein kein wirkliches Interesse daran, die Verbreitung von linken Forderungen in irgendeiner Form zu unterstützen.

Gerade letztere Tatsache verwandelt aber alleine schon das Posten von Inhalten dieser Art in einen subversiven Akt für sich. Auf einer App, deren Bild nach außen von konventionellen Schönheitsidealen, Heteronormativität und Werbefreundlichkeit geprägt ist, stechen Inhalte, die gerade an dieser Weltsicht rütteln, umso mehr hervor. Und nicht zuletzt wegen der unvergleichbaren Reichweite und neuartigen Formen zur Vermittlung von Theorie setzen Aktivist*innen trotzdem nach wie vor auf die Plattform. Sollte Tiktok keinen Käufer finden – im Moment sind unter anderem Microsoft sowie Walmart an einer Übernahme interessiert – und am 15. September tatsächlich in den USA gesperrt werden, ginge dementsprechend auch eine nicht zu unterschätzende Möglichkeit verloren, junge Menschen in aller Welt für politische Bewegungen zu begeistern, die sich gerade eben gegen Proto-Faschisten wie Trump und für eine bessere Welt einsetzen.


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