Ein weiterer Skandal erschüttert die österreichische Innenpolitik. Nun hat das Land zwar einen neuen Kanzler, der aber wenig Veränderung verspricht.
„Sie fragen sich in diesen Stunden vielleicht: ‚Was ist denn jetzt schon wieder passiert?‘“ Mit diesen Worten begann der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen am 8. Oktober seine Rede zur Regierungskrise. Er fasste damit das Gefühl vieler zusammen, die versuchten, die Hintergründe der aktuellen Affäre zu verstehen. Die offenbarte, wie der nunmehr ehemalige Kanzler Sebastian Kurz sich an die Macht gehievt hatte und dafür vor Parteiintrigen und gefälschten Umfragen nicht zurückschreckte. Nun hat Österreich einen neuen Kanzler und eine sehr ungewisse Zukunft.
Kurz ist wie sein ehemaliger Koalitionspartner und Vizekanzler H.C. Strache von der rechtsextremen FPÖ über das Ibiza-Video gestolpert. 2019 führte die Veröffentlichung von Filmsequenzen, in denen Strache mit einer vermeintlichen russischen Millionärin über die Übernahme des Boulevardblattes Kronen-Zeitung fantasierte, zu Neuwahlen. Danach kam es zu einer Regierung zwischen Kurz und den Grünen, aber auch zu weiteren Untersuchungen des Materials von Ibiza.
„Novomatic zahlt alle“, sagte Strache in dem Video. Damit geriet der Glücksspielkonzern, an dem die Republik Österreich Anteile hält, ins Visier von Korruptionsermittler*innen und parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Im Raum stand der Verdacht, dass unter der ÖVP-FPÖ-Regierung unqualifizierten Personen Posten im Verwaltungsrat verschafft worden waren. Die Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) förderten jedoch noch ganz anderes zutage: Das, wovon Strache auf Ibiza geträumt hatte, war mutmaßlich Teil von Sebastian Kurz’ politischem Spiel. Der Vorwurf: Mit Steuergeld soll er sich positive Berichterstattung in Boulevardmedien erkauft haben.
Gesetze torpedieren
Bereits im Februar 2021 war bekannt worden, dass die WKStA gegen ÖVP-Finanzminister Gernot Blümel ermittelte. Immer wieder gab es auch Gerüchte, es stünden Hausdurchsuchungen bei Sebastian Kurz oder in der ÖVP-Zentrale bevor. Genervt davon, dass Journalist*innen diesbezüglich nachhakten, lud die ÖVP-Vize-Generalsekretärin Gaby Schwarz am 28. September zu einer Pressekonferenz. Der eher verblüfften österreichischen Presse verkündete sie, es gebe bei einer Hausdurchsuchung ohnehin nichts mehr zu holen: „Es ist nichts mehr da“, wird sie zitiert.
Die WKStA sah das offenbar anders, denn am 6. Oktober kam es zu Hausdurchsuchungen in Kurz‘ Bundeskanzleramt, im Finanzministerium und in der ÖVP-Parteizentrale. Zehn Menschen sind der Untreue, Bestechung beziehungsweise Bestechlichkeit beschuldigt – unter ihnen Sebastian Kurz, zu diesem Zeitpunkt noch beliebter Bundeskanzler. Untermauert wurden die Beschuldigungen mit Chats, die auf dem Handy von Thomas Schmid gefunden wurden.
Der enge Vertraute von Kurz, der in österreichischen Ministerien Karriere gemacht hatte, hatte den ÖVP-Chef bereits im Mai in Bedrängnis gebracht: Kurz habe vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss eine Falschaussage getätigt. Thema war damals die Berufung von Schmid in den Aufsichtsrat der Bundesbeteiligungsgesellschaft Öbag. Diese Ermittlungen warfen Kurz nicht aus dem politischen Sattel, obwohl die damals öffentlich gewordenen Chatnachrichten zwischen Schmid und Kurz für Aufregung sorgten, da sie ein zweifelhaftes Menschenbild offenbarten und auf „Freunderlwirtschaft“ hindeuteten.
Was schlussendlich zur Hausdurchsuchung im Bundeskanzleramt und in weiterer Folge auch zu seinem Rücktritt führen sollte, waren Chats aus der Zeit, als Sebastian Kurz Außenminister war. Um die Koalition zwischen der sozialdemokratischen SPÖ und der ÖVP zum Wackeln zu bringen, torpedierten Kurz und Schmid Gesetzesvorhaben, auf die sich die Koalitionspartner eigentlich geeinigt hatten. „Kann ich ein Bundesland aufhetzen?“, fragte Kurz Schmid zum Beispiel, als ein milliardenschweres Gesetz für ein Recht auf Kinderversorgung im Raum stand. In Folge torpedierte der damalige niederösterreichische Landeshauptmann Erwin Pröll das geplante Gesetz – und Kurz konnte den Stillstand in der großen Koalition kritisieren.
Umfragen fälschen
Besonders schwerwiegend ist aber die Zusammenarbeit mit der Meinungsforscherin Sabine Beinschab und der Boulevardzeitung „Österreich“. Es sollen Umfragen in Auftrag gegeben worden sein, deren Resultate entweder bereits vorher feststanden oder nachträglich so manipuliert wurden, dass die Ergebnisse zu Kurz’ politischen Ambitionen passten. Erst ließ man es so aussehen, als ob die ÖVP unter dem Kurz-Vorgänger Reinhold Mitterlehner sehr schlecht abschneiden würde. Als es dann zum Koalitionsbruch und Neuwahlen kam, waren die Werte für die „neue Volkspartei“ mit Kurz als Spitzenkandidaten sehr gut. Diese gefälschten oder „frisierten“ Umfragen wurden in der „Österreich“ veröffentlicht – natürlich so, als handele es sich dabei um redaktionellen Inhalt.
Die Beeinflussung beschränkte sich jedoch nicht nur auf Meinungsumfragen: Mit Regierungsinseraten sollen Schmid und Kurz positive Berichterstattung gekauft haben. „So weit wie wir bin ich echt noch nicht gegangen. Geniales Investment. Und Fellner ist ein Kapitalist. Wer zahlt, schafft an. Ich liebe das“, schreibt Schmid in einer Chatnachricht. Mit Fellner sind Wolfgang oder Helmuth Fellner gemeint – den Brüdern gehört die Mediengruppe, zu der die „Österreich“ zählt.
Bereits seit geraumer Zeit wird in Österreich die Vergabe von Regierungsinseraten an Medien kritisiert. Die Budgets der Ministerien hierfür sind oft millionenschwer, ungefähr 210 Millionen waren für vier Jahre der ÖVP-Grünen-Regierung vorgesehen. Minister*innen können frei darüber verfügen – und es steht der Verdacht im Raum, dass viele dieses Budget nutzten, um sich positive Artikel zu erkaufen oder durch Stornierung von Inseraten Medien für das Gegenteil zu bestrafen. Auch der SPÖ, insbesondere in der Stadt Wien, wird immer wieder vorgeworfen, die Boulevardpresse bei der Vergabe solcher Inserate zu bevorzugen.
Die Chatnachrichten, die mit der Hausdurchsuchungsanordnung an die Öffentlichkeit gelangt sind, zeigen jedoch, dass Kurz und seine Entourage dieses Spiel mit den Medien wohl perfektioniert haben. Bisher schweigen beinahe alle Beschuldigten zu den Vorwürfen. Sebastian Kurz dementierte jedoch alles, sah sich einer Hetzjagd eines „linken Netzwerkes“ in der WKStA ausgesetzt – und wollte weiterregieren. Mehrmals trat er vor die Presse, um darauf zu pochen, dass die Unschuldsvermutung auch für ihn gelte.
Zurücktreten
Seinem Koalitionspartner, den österreichischen Grünen, ging es diesmal jedoch zu weit. Kurz sei nicht mehr amtsfähig und könne unter diesen Umständen nicht mehr regieren, sagten Vizekanzler Werner Kogler und Klubobfrau (Fraktionsführerin) Sigrid Maurer vor der Presse. Man könne sich zwar vorstellen, mit der ÖVP weiterzuregieren, jedoch nur ohne Kurz. Währenddessen lud der Bundespräsident sämtliche Parlamentsparteien zu Einzelgesprächen, um die Lage zu sondieren. Auch die Opposition war nicht untätig: Für den 12. Oktober setzten die Oppositionsparteien ein Misstrauensvotum an. Im Raum stand die Idee, dass die aktuelle Regierung gestürzt und dann eine Zweckkoalition aus Grünen, SPÖ, den liberalen Neos und der rechtsextremen FPÖ die Geschäfte übernehmen könnte.
Dazu kam es jedoch nicht, denn Kurz trat am Samstag, dem 9. September, dann doch zurück. Oder: „zur Seite“, wie er es selbst formulierte. Zwar hat er das Bundeskanzleramt abgegeben, bleibt jedoch Chef der ÖVP und wechselt ins Parlament. Seine Fraktion hat ihn bereits am vergangenen Sonntag einstimmig zum Klubobmann gewählt, obwohl er noch nicht vereidigt war. Als Kanzler folgte ihm Alexander Schallenberg, der davor Außenminister war.
Schallenberg gilt ebenfalls als Kurz-Vertrauter: Der Diplomat war ein enger Mitarbeiter des Ex-Kanzlers, als dieser noch das Außenministerium innehatte. Der neue Kanzler zerschlug bei einer ersten Rede im Parlament jede Hoffnung, es könne nun so etwas wie einen Neuanfang geben. Er streckte zwar die Hand in Richtung Grüne aus, verurteilte jedoch das Parlament für das geplante Misstrauensvotum. Außerdem betonte er erneut, die Vorwürfe gegenüber Sebastian Kurz seien allesamt falsch. Er werde „selbstverständlich“ mit seinem Vorgänger zusammenarbeiten. Er betont auch stets, von der „neuen Volkspartei“ zu sein, ein klarer Hinweis darauf, dass er mit dem Umbau der ÖVP, den Sebastian Kurz betrieben hat, sehr zufrieden ist.
Weitermachen
Es kam während der Debatte dann auch zu einem Eklat: Als die liberale Abgeordnete Beate Meinl-Reisinger ihm die Anordnung zur Hausdurchsuchung symbolisch übergab, warf er diese mit einer verächtlichen Geste auf den Boden des Parlaments. Ein bewusster Regelbruch, wie er charakteristisch für die radikalisierten Konservativen ist, urteilte Natascha Strobl auf Twitter. Die Politologin hat jüngst ein Buch zu dem Thema veröffentlicht und sieht ihre Thesen einmal mehr bestätigt.
Die österreichischen Grünen sind – nach außen hin zumindest – fest gewillt, die Koalition mit der ÖVP fortzuführen. Neuwahlen kämen ihr nach nicht einmal einer halben Legislaturperiode nicht zugute, zu wenige ihrer Projekte sind bisher umgesetzt. Nun sieht es jedoch so aus, als würden sie das sogenannte „System Kurz“ in der Regierung halten. Schallenberg wird von vielen als Schattenkanzler gesehen, während Sebastian Kurz vom Parlament aus im Hintergrund die Fäden zieht. Der hofft vermutlich auf eine baldige Rehabilitierung. Da ihm vermutlich ein langer Prozess bevorsteht, ist jedoch zu bezweifeln, dass ihm die so bald gelingen wird.
Es bleibt die Frage, ob die ÖVP noch lange in dieser Regierung bleiben will oder ob sie sie zu einem opportunen Moment sprengen wird. Am vergangenen Sonntag gab es im Bundesland Oberösterreich in manchen Gemeinden Bürgermeister*innen-Stichwahlen, bei denen die ÖVP ungewohnt schlecht abschnitt. Auch erste – seriöse – Umfragen gehen von Verlusten für die ÖVP und die Grünen auf nationaler Ebene aus.