Pflegeversicherung
: Ein System, das abhängig macht?

Im Zuge der geplanten Gesetzes-
reform der Pflegeversicherung warnt die Patientenvertretung vor Einschnitten. Ein Stufensystem könnte den Charakter der Versicherung verändern.

Foto: Ulrich Joho / Flickr

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Sie ist einer der letzten Bausteine des sozialen Sicherungssystems: die Pflegeversicherung. Mit dem Gesetz vom 19. Juni 1998 wurde eine Sozialleistung für alle geschaffen. Für einen Beitrag von 1,4 Prozent des Brutto-Einkommens steht jedem, der einen bestimmten Grad an Pflegebedürftigkeit aufweist, eine Unterstützung zu, die sich nach dem Luxemburger Modell flexibel gestalten lässt und dadurch die Autonomie des Einzelnen stärkt – entweder durch ambulante Pflege zu Hause oder in entsprechenden Einrichtungen. Darüber hinaus wurde mit dem Gesetz ein Rahmen geschaffen, der auch eine individuelle Betreuung durch Angehörige ermöglicht. Pflegebedürftige Personen können damit auch von Familienmitgliedern oder Drittpersonen versorgt werden. Diese „aidants informels“ beziehen von der Pflegeversicherung eine Entschädigung. Pflegebedürftigkeit ist laut Gesetz dann gegeben, wenn eine Person zur Erledigung der wesentlichen Verrichtungen des Alltags in den Bereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität mindestens 3,5 Stunden pro Woche auf eine Unterstützung durch Dritte angewiesen ist.

Wer Anspruch auf Pflegeleistungen hat, bestimmt ein Expertenteam der Pflegeversicherung. Es definiert, wie viele Pflegeminuten in welchen Bereichen notwendig sind, damit die Person einen „normalen Alltag“ haben kann. Doch die von der Regierung geplante Reform, die laut einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Abgeordneten Josée Lorsché Ende Januar diesen Jahres, bereits im Herbst vorliegen und nach den Angaben Romain Schneiders zum 1. Januar 2017 in Kraft treten könnte, lässt eine Abkehr von dem bisherigen System erahnen. Bereits in ihrer Regierungserklärung hatte die Regierung angekündigt „die Pflegeversicherung muss sich wieder auf ihre Grundprinzipien zentrieren“ – eine schwammige Formulierung, die bewusst Spielraum lässt und nach Sparvorhaben riecht.

Kein akuter Handlungsbedarf

Wie überall in Westeuropa legt die demographische Entwicklung auch in Luxemburg nahe, dass das Pflegesystem immer teurer wird. Die statistische Lebenserwartung wächst und damit die Anzahl der Pflegebedürftigen. Bei der niedrigen Geburtenrate ist eine künftige Finanzierung des Sozialsystems schon jetzt ohne die Beiträge der Kinder von Nicht-LuxemburgerInnen nicht mehr denkbar. Für 2015 rechnet die „Assurance dépendance“ mit Ausgaben in Höhe von rund 610,8 Millionen Euro, im Vergleich zum Vorjahr wachsen diese um 24,5 Millionen und überschreiten seit 2010 die Einnahmen. Akuten Handlungsbedarf, das derzeitige System, bei dem in einem Pflegeplan minutiös die einzelnen Pflegemaßnahmen festgelegt werden, zu verändern, sieht man bei der Patientenvertretung, die Anfang der Woche zu einer Pressekonferenz geladen hatte, um etwas Beruhigung in die brodelnde Gerüchteküche rund um die geplante Reform zu bringen, nicht. „Es ist ganz individuell ausgelegt und bietet dem Personal Sicherheit und auch Schutz. Wenn wir diese Transparenz abschaffen, verlieren wir Qualität, denn bei den Pflegestufen ist nicht klar, was dem Patienten an Leistungen genau zusteht“, betont ihr Präsident René Pizzaferri. Überdies verfüge die Pflegeversicherung derzeitig noch über Reserven von rund 60 Millionen Euro, wenngleich diese Jahr für Jahr abnehmen. Sollten zusätzliche Mittel benötigt werden, müsse der Staat einspringen, meint Pizzaferri mit Verweis auf den festgelegten staatlichen Anteil, der bei Gründung der Pflegeversicherung auf 45 Prozent angelegt worden war, derzeit jedoch bei 40 Prozent liege. Wenn der Staat seine Beteiligung auf das vorgesehene Maß erhöhe, würden die Reserven wieder wachsen, so Pizzaferri.

Rund 13.362 Menschen nahmen 2013 laut Angaben des Dachverbandes Copas die Pflegeversicherung in Anspruch, 9.308 pflegebedürftige Personen werden dieses Jahr einen ambulanten Pflegedienst zu Hause in Anspruch nehmen. Laut Angaben der Krankenkasse ist 2015 die Anzahl der Leistungsempfänger der Pflegedienst-Leistungen aus dem Bereich „Prestations aides et soins à domicile“ um rund 3,5% gestiegen. Die Kosten liegen im ambulanten Bereich höher, weil doppelt so viele Menschen ihn beanspruchen, als in einer Einrichtung betreut werden. Einsparungen in dem Sektor wären prinzipiell auch ohne eine Reform denkbar, indem man etwa die vergebenen Pflegeleistungen restriktiver vergibt, beispielsweise begleitete Behördengänge oder Einkäufe aus dem Leistungskatalog streicht. Eine Tendenz, die in letzter Zeit bereits zugenommen hat, meint Joël Delvaux von der Abteilung für behinderte Arbeitnehmer des OGBL. Man merke schon jetzt, dass die Evaluationen viel strenger vorgenommen würden, als früher. Personen, die früher ohne weiteres die Pflegeversicherung zugebilligt bekommen hätten, würden schneller abgelehnt. Durch die schon jetzt gegebene Spartendenz und strengere Evaluierung mache die „Assurance dépendance“ die Leute jedoch immer abhängiger. Maßnahmen, pflegebedürftige Menschen zu fördern, sind schon jetzt oft nicht mehr drin, weil das Personal dafür keine Zeit hat. Wenn sich eine Person vielleicht gerade noch selbst waschen kann und es aber etwas länger dauere, wird sie mitunter vom Personal, das unter Zeitdruck steht, dazu gezwungen, sich in zehn Minuten waschen zu lassen. Denn die Minuten, die gespart würden, kann es schon beim nächsten Kunden einsetzen, meint Delvaux.

Eingefroren bleiben könnte jedoch auch die „valeur monétaire“, die der Copas mit der CNS alljährlich neu aushandeln sollte. Denn die angedachte Regulierung geht nicht auf. Wollen Pflegeeinrichtungen ihr Personal aufstocken, wurde die „valeur monétaire“ bisher erhöht. Das einzigartige sozial-staatliche Luxemburger Modell hat nämlich eine Besonderheit: es sieht eine Pflege-Marktfreiheit vor. Wer Minimalstandards erfüllt, kann im Pflegesektor tätig werden und so konkurrieren verschiedene Pflegeträger auf dem Markt. Zeigt also das Debakel um den größten Pflegeträger, Hëllef Doheem, der im Juni einen Sozialplan für 90 von 2000 Mitarbeitern angekündigt hatte, dass das Modell der frei auf dem Markt miteinander konkurrierenden Anbieter sukzessive den Bach runtergeht? „Man vermischt in der Diskussion zwei Sachen, die nicht direkt etwas miteinander zu tun haben: die Finanzierung und die Leistungen“, meint der Präsident der Patientenvertretung. Die finanziellen Probleme bei „Hëllef Doheem“ sieht er als hausgemachtes Missmanagement, denn die Wachstumszahlen zeugten eigentlich von keinerlei Schwierigkeiten.

Debakel um Hëllef Doheem

Der Katalog der Kritikpunkte an der geplanten Reform ist lang. Insbesondere, dass pflegebedürftige Personen künftig in Pflegeklassen eingestuft werden, bereitet der Patientenvertretung Sorge. Insgesamt fünfzehn Stufen sieht das Projekt vor, das zurzeit diskutiert wird. Patientenvertretung wie Gewerkschaften lehnen aber eine festgesetzte Geldpauschale für die Pflegedienste pro Pflegestufe – ähnlich wie in Deutschland – ab. Die Patientenvertretung möchte das aktuelle Minutensystem erhalten, räumt aber ein, dass Verbesserungen notwendig sind. So bemängelt sie etwa, dass Heime noch immer keiner Qualitätskontrolle unterzogen werden. Seit 2011 ist außerdem die Qualitätskommission der „Cellule d’evaluation“ nicht mehr zusammengekommen, denn ihr fehlten die Mittel. „Sie muss mehr Personal fordern und Sanktionsrechte bei Verstößen gegen Qualitätsvorschriften bekommen, die bis zum Entzug der Anerkennung als Pflegeanbieter gehen“, fordert Pizzaferri.

Auch der Arzneimittelkonsum in diesen Einrichtungen sei oft zu hoch, beklagt Michèle Wennmacher. Häufig wird den Patienten ein Cocktail an Medikamenten verabreicht, um sie ruhigzustellen. Zudem hätten die Patienten kein Recht auf die Wahl ihres Arztes und müssten sich mit dem Arzt begnügen, der die betreffende Einrichtung betreut. Insgesamt fehle es an Pflegeeinrichtungen im Land. Speziell für Demenzpatienten müssten mehr Strukturen mit geschultem Personal geschaffen werden. Verbesserungen wünscht man sich auch bei der Arbeit der Pflegedienste. Problematisch sei, dass die Dienste in der Nacht nicht erreichbar seien. Gefordert werden nicht zuletzt Standards bei der Pflege durch Drittpersonen. Diesen „aidants informels“ müsste eine Grundausbildung angeboten werden.

Die vorgesehene Reform mit der Einführung der Pflegestufen bringe dem Patienten keinerlei Mehrwert, der Verwaltungsaufwand werde nicht sinken und es würden den Pflegeanbietern falsche Anreize geschaffen, fasst Steve Ehmann von der Patientenvertretung seine Kritik an den Reformplänen Schneiders zusammen. Denn innerhalb jeder der 15 vorgesehenen Stufen bestimmt ein Medianwert den Verrechnungssatz für jeden Patienten, der sich dann in Minuten ausdrückt. „Die Pflegeanbieter verdienen an den Patienten Geld, die unterhalb dieses Medianwerts liegen. Sie haben also Interesse, entweder den Patienten in eine höhere Pflegestufe einzustufen oder an ihm weniger Leistungen zu erbringen, damit sie unterhalb des Medianwerts bleiben“, so Ehmann. Man laufe also Gefahr, dass die Pfleger nur noch die Leistungen erbringen, die sich für den Arbeitgeber lohnen. Bleibt die Regierung bei den von der Patientenvertretung kolportierten Plänen eines Stufensystems, käme dies einer Herabstufung der Patientenrechte wie des Systems selbst gleich. Ihrer Sparlogik bliebe sie freilich treu.


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