Internationale Großveranstaltungen wie der Pariser „Marché de la Poésie“ (19. bis 23. Juni) und das Poesiefestival in Berlin (4. bis 21. Juli) zeigen: Der Sommer ist die Jahreszeit, in der nicht nur die Natur gedeiht, sondern auch die älteste aller Literaturgattungen: die Lyrik. Im Gespräch erklärt der Luxemburger Autor und Lyriker Guy Helminger, warum die Lektüre von Gedichten seiner Ansicht nach so beglückend ist – und die Kunstform trotzdem einen schweren Stand hat.
woxx: 2002 erhielten Sie den Servais-Preis für Ihren Erzählband „Rost“. In der Dankesrede fragten Sie, ob es anmaßend sei, trotzdem auszurufen: „Mein Gott! Ich bin Lyriker!“ Hat sich an Ihrem Selbstverständnis als Autor seitdem etwas geändert oder begreifen Sie sich noch immer in erster Linie als Poet?
Guy Helminger: Lyrik ist für mich noch immer die Königsdisziplin, auch wenn viele Menschen sagen, das sei der Roman. Natürlich bewege ich mich in allen literarischen Gattungen, doch für mich ist das Gedicht das Anspruchsvollste, weil ich, wenn ich einen guten lyrischen Text lese, das Gefühl habe, auf etwas Vollendetes gestoßen zu sein. Wenn ich ein Gedicht eines Dichters oder einer Dichterin lese, das wirklich gelungen ist, dann ist das meiner Meinung nach eine viel größere Auszeichnung, als wenn es sich dabei um einen Prosatext handelte.
Der Lyriker Jan Wagner spricht vom „Augenblicksfrieden“, der einen als Autor*in – und sicherlich auch Leser*in – erfüllt, wenn man ein gelungenes Gedicht vor sich hat. Warum glauben Sie, ist das so?
In der Lyrik, die ich lese und produziere, geht es vor allem darum, nach einer neuen Bildlichkeit zu suchen. Diese Lyrik beschreibt nicht nur Dinge, sondern versucht, durch die Zusammensetzung von Begrifflichkeiten auf ein neues Terrain vorzudringen und durch eine bestimmte Ästhetik – aber das gilt für jede Form der Literatur – eine Art der Erkenntnis zu schaffen. Die Lyrik macht das auf eine so brillante Weise, wie das im Roman meiner Ansicht nach nicht möglich ist.
Das Herzstück Ihrer Poesie und das wirksamste Utensil in Ihrem Werkzeugkasten ist also die Metapher?
Die Metapher macht nur einen Teil dieser Bildlichkeit aus, es gibt natürlich auch den Vergleich. Aber Begrifflichkeiten kann man auf ganz verschiedene Weise zusammensetzen und die Welt, die Gefühle und Objekte können so auf wunderbare Art und Weise zum Leuchten gebracht werden. Ich habe das Gefühl, dass vielleicht all das, was man so offenlegt, schon in den Objekten selbst enthalten war. Dadurch, dass man sie in einen neuen Zusammenhang setzt, lässt man es nur hervortreten. Das ist dann ein Moment der Erleuchtung für mich. Ich kann gut verstehen, was Jan Wagner sagte.
Sprechen wir über die heutige Lage der Poesie: Den Spruch „Rock is dead“ kennt man ja – oft wird das Gleiche von der Poesie behauptet. Sporadisch schlägt in den Medien dann das Pendel zur anderen Seite hin aus, dann kann man Sätze lesen, wie „[d]ie kleinste literarische Form boomt“ (Barbara Beer, „Kurier“). Wie steht es Ihrer Meinung nach um die Lyrik?
Also ich glaube, sie ist überhaupt nicht tot – und doch ist sie auf gewisse Weise auch beides, tot und lebendig. Im Augenblick werden viele Verlage gegründet, die sich um die Lyrik kümmern. Dadurch, dass diese Verleger sich sehr viel mit Lyrik beschäftigen, bauen sie auch eine Lobby auf, durch die lyrische Werke kleiner Verlage wieder im Feuilleton besprochen werden – das gab es ja zeitweise überhaupt nicht mehr. Das heißt aber nicht, dass die Lyrik ihr Nischendasein aufgegeben hätte. Sie existiert weiterhin, weil sie, glaube ich, noch immer sehr wichtig ist, aber zugleich hat sie es in unserer Zeit auch schwer, eine größere Masse zu erreichen. Und zwar, weil sie – und das meine ich weder im positiven noch im negativen Sinne – nicht über lange Strecken unterhaltsam sein kann wie ein Roman, den man zum Beispiel liest, um die Zeit totzuschlagen. Lyrik funktioniert ganz anders und deswegen richtet sie sich auch an viel weniger Menschen.
Können Sie das vertiefen?
Ich glaube, dass die Rezeption immer von gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig ist, und wenn man sich die heutige komplexe Gesellschaft anschaut, so sieht man, dass die Menschen sich im Grunde unsicher fühlen. Sie brauchen und wollen sich dann wahrscheinlich nicht mit einem Text auseinandersetzen, der dieses Unsicherheitsgefühl noch verstärkt, weil er ihnen keine Antworten liefert. Das bedeutet nicht, dass die Lyrik überflüssig geworden wäre, im Gegenteil, ich glaube, sie ist eben deshalb wichtig, weil sie eine Art Gegengewicht darstellt. Wenn man sich auf sie einlässt, ermöglicht sie einem, neue Standpunkte zu entwickeln. Wenn man natürlich nur darauf wartet, eine Information oder eine Message zu bekommen …
Mit ihren Instagram-Gedichten ist die indisch-kanadische Poetin Rupi Kaur trotz der schwierigen Lage der Poesie weltberühmt geworden – liegt die Zukunft der Verskunst in den Händen social-media-affiner Menschen?
Diese Frage kann ich pauschal nicht beantworten, aber Tatsache ist, dass junge Generationen immer mehr auf diese Art und Weise Kunst konsumieren. Und es ist klar, dass, wenn man als junger Mensch seine Lyrik bekannt machen möchte – egal ob sie gut oder schlecht ist –, man dumm wäre, solche Plattformen nicht zu nutzen. Berühmt werden, ist aber ein Einzelphänomen. Allgemein habe ich nicht das Gefühl, dass der Trend weiter massiv vom Buch wegführt. Auch bei der jungen Generation gibt es sehr viele Menschen, die das Haptische mögen, die gerne eine eigene Bibliothek hätten – aber ganz klar darf man Social Media nicht vernachlässigen.
Würden Sie Ihre Gedichte denn nicht im Internet veröffentlichen wollen?
Ich habe das schon ein paar Mal gemacht, aber darin mehr Zeit investieren – auf keinen Fall. Und als Rezipient sehe ich selbst mir lieber die Websites und Profile an, die ihre Inhalte variieren. Ich stehe ja auf Lyrik, aber andauernd Gedichte zu sehen, in Form eines „Daily Poems“ oder so, das würde mir nicht zusagen. Ich lese ja auch nur Gedichtbände, wenn ich Lust dazu habe. Da bin ich also nicht die richtige Zielperson.
Können Sie uns denn zum Schluss noch eine Lyrikempfehlung mit auf den Weg geben?
In der letzten Zeit habe ich nicht viele Bücher gelesen, die mich wirklich begeistert haben. Eine Lektüre, die schon ein wenig zurückliegt, die ich aber sehr stark fand: „Einsamer Feigenbaum“ von Gökçenur Ç.