Putins Russland und die Opposition: Überall Extremisten

Die russischen Behörden gehen immer repressiver gegen das Team um den Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj vor. Auch Anwälte, Journalisten und jene, die während seines Hungerstreiks protestierten, sind im Visier.

Der Gerichtssaal des Moskauer Bezirksgerichts während des Berufungsverfahrens von Aleksej Nawalnyj am 29. April. Nawalnyj wurde aus dem Straflager, in dem er einsitzt, per Video zugeschaltet, und ist auf dem Bildschirm rechts oben zu sehen. Das Foto wurde von der Pressestelle des Gerichts bereitgestellt. (Foto: EPA-EFE)

Alle Augen richteten sich auf Aleksej Nawalnyj. Genauer gesagt auf seinen abgemagerten Körper, der seit seiner Rückkehr aus Deutschland im Januar 22 Kilogramm Gewicht verloren hat. Es war der erste öffentliche Auftritt des Oppositionspolitikers seit Beendigung seines Hungerstreiks. Per Videoübertragung nahm er am Donnerstag voriger Woche an einem Berufungsverfahren teil. Darin geht er gegen das Urteil in erster Instanz vor, mit dem er wegen Verleumdung zu einer Geldstrafe von 9.500 Euro verurteilt worden war.

Seine Angriffslust hat Nawalnyj nicht eingebüßt. Mit „Liebes Gericht, euer König ist nackt“, setzte er zu seiner Verteidigungsrede an. Es ist davon auszugehen, dass sich ihm während seiner Haftzeit noch weitere Gelegenheiten für ähnliche Auftritte bieten werden. Noch am selben Tag gab Nawalnyjs Team bekannt, dass bereits im Februar ein neues Strafverfahren gegen ihn und seine beiden aus Russland geflüchteten Mitstreiter, Leonid Wolkow und Iwan Schdanow, eingeleitet worden sei – wegen Eingriffs in Persönlichkeitsrechte.

Der russische Machtapparat arbeitet nun mit voller Kraft an der Zerschlagung der von Nawalnyj und seinen Mitstreitern geschaffenen Infrastruktur. Auf Antrag der Moskauer Staatsanwaltschaft steht als nächster Schritt die Einstufung von Nawalnyjs „Fonds zur Korruptionsbekämpfung“ (FBK) und dessen Regionalstäben als „extremistisch“ an. Per gerichtlicher einstweiliger Verfügung erreichte die Anklage bereits die faktische Auflösung der Organisation, Konten wurden eingefroren, Büros versiegelt. Ab sofort besteht die Gefahr, wegen öffentlicher Unterstützung des Fonds oder Spenden an ihn strafrechtlich belangt zu werden. Dabei bleiben viele Details des Verfahrens unter Verschluss, da sich die Strafverfolger eines unhintergehbaren Arguments bedienen: In den Akten befänden sich Staatsgeheimnisse.

An der politischen Zielsetzung dieses Vorgehens besteht kein Zweifel. Gerade über den Zugang zu staatlichen Machtpositionen, und seien es nur Mandate in Regionalparlamenten, will die russische Führung Kontrolle ausüben. Eine Vorstrafe etwa führt gesetzlich zum Verbot einer Kandidatur. Zwar lassen sich taktische Ins
trumente, wie die von Nawalnyj und seinem Team entwickelte Wahlstrategie, das „smart voting“, kaum komplett unterbinden. Deren Ziel ist es, Stimmen jeweils so zu bündeln, dass die Kandidatinnen und Kandidaten der Partei „Einiges Russland“ nicht gewinnen, die den Kurs von Präsident Wladimir Putin stützt. Es fehlt jedoch an unabhängigen Oppositionellen, um jenseits dieser Blockadestrategie ein Bündnis aufzubauen.

Mittels digitaler Überwachung lassen sich problemlos Daten über die längst bekannten Kreise der Opposition hinaus gewinnen.

Einschüchterung findet auf allen Ebenen statt. So stehen vier Redakteurinnen und Redakteure der Studentenzeitschrift „Doxa“ seit zwei Wochen unter Hausarrest, weil sie Ende Januar in einem auf Druck der Behörden längst gelöschten Video Studierende auf ihre Rechte hingewiesen hatten, die sie vor Exmatrikulation schützen, wenn gegen sie Bußgeld oder Administrativhaft verhängt worden ist. Und am Freitag voriger Woche wurde der St. Petersburger Anwalt Iwan Pawlow festgenommen, der sich als Verteidiger in vielen politisch heiklen Gerichtsprozessen einen Namen gemacht hat, die der Inlandsgeheimdienst FSB angestrengt hatte. Pawlow, der Nawalnyjs Fonds FBK im derzeitigen Extremismus-Verfahren vertritt, hatte vom Staatsschutz bereits mehrere Verwarnungen erhalten.

Mittels digitaler Überwachung lassen sich zudem problemlos Daten über die längst bekannten Kreise der Opposition hinaus gewinnen. Mitte April wurden die Mailadressen von über 400.000 Usern geleakt, die sich auf der Seite „free.navalny.com“ angemeldet hatten, um so ihre Bereitschaft zur Teilnahme an künftigen Protestaktionen zu bekräftigen. Danach wurden zahlreiche Fälle von Personen bekannt, denen ihre Arbeitgeber mit eindeutigen Begründungen kündigten.

Inzwischen gibt es tagtäglich neue Festnahmen. Zunächst sah es bei der jüngsten von Wolkow und Schdanow initiierten landesweiten Protestaktion am 21. April so aus, als übe sich die Polizei in Zurückhaltung. Nur in St. Petersburg griffen Sondereinsatzkräfte sofort hart durch, andernorts setzte die Verfolgung erst Tage danach ein. Videoaufnahmen, gepostete Aufrufe zur Teilnahme und das ausgefeilte Gesichtserkennungsprogramm im Moskauer Stadtzentrum machten es den Strafverfolgungsbehörden leicht, Beteiligte ausfindig zu machen.

Die Behörden interessieren sich für alle, die sich durch ihre Anwesenheit bei Protesten verdächtig gemacht haben: Intellektuelle, die ihre politische Einstellung nicht verbergen, Studierende oder auch Journalisten. In Tambow wurde ein Mann zu 30 Tagen Haft verurteilt, der ganz legal im Auftrag eines finnischen Fernsehsenders über die Proteste berichtete. In Moskau erhielten mehrere Journalisten Polizeibesuch, obwohl auch sie nachweislich beruflich bei der Protestaktion an Ort und Stelle waren.

Darunter befand sich auch eine Mitarbeiterin des Internetportals „Medusa“ mit Sitz in Riga. Das Medium war am 23. April zum „ausländischen Agenten“ abgestempelt worden; nun muss jeder publizierte Inhalt mit einem entsprechenden Warnhinweis versehen werden, was Werbekunden abschreckt und die Existenz des Portals bedroht. Als Vorwand diente dem Justizministerium der Verweis auf eine Finanzierung aus dem Ausland, weshalb sich nun auch andere oppositionelle russische Medien wie beispielsweise die Zeitung „Nowaja Gaseta“ bedroht sehen. Regierungssprecher Dmitrij Peskow kommentierte den Vorgang lakonisch mit den Worten, der Medienmarkt sei so aufgestellt, dass das Verschwinden eines Informationsportals gar nicht wirklich auffalle.

Nawalnyjs Mitarbeiter Leonid Wolkow will seine weiteren Pläne nicht offenlegen. Klar ist nur, dass er zunächst nicht zu Straßenprotesten aufrufen will – der Preis dafür sei zu hoch. Ohnehin ging die Zahl der Teilnehmenden im Vergleich zum Januar zurück, was sich auch auf die verschärfte Repression zurückführen lässt. Zudem liegt in der Fixierung auf Nawalnyj auch eine Schwäche der Protestbewegung. Durch die Befragung von Protestierenden über die vergangenen zehn Jahre hinweg kommt eine als „Public Sociology Laboratory“ firmierende Forschergruppe zu dem Schluss, Nawalnyj sei in der Opposition im Moment als Führungsfigur zwar nicht unumstritten, bleibe aber als zentraler Mobilisierungsfaktor bestimmend. Dass Nawalnyj es bislang durch geschickte Rhetorik gelungen sei, das gesamte politische Lager der Unzufriedenen von rechts bis links abzudecken, führe jedoch zur Abkehr von inhaltlichen Debatten. Diese bislang erfolgreiche Strategie stoße an ihre Grenzen, zu unterschiedlich erscheinen die Interessen sowie politischen und sozialen Hintergründe der Gegner Putins.

Ute Weinmann arbeitet als freie Publizistin und lebt in Moskau.

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