Wann der Notstand in Frankreich beendet wird, ist derzeit nicht abzusehen. Auch Luxemburg möchte sich rechtlich zu ähnlichen Maßnahmen befähigen. Ein Gespräch mit dem Rechtsphilosophen Johan van der Walt über die Risiken einer solchen Politik.
woxx: Sie waren in Frankreich, als die Anschläge in Paris stattgefunden haben und daraufhin der Notstand ausgerufen wurde. Was ging Ihnen durch den Kopf?
Johan van der Walt: Ich musste am Samstagmorgen relativ früh aufstehen, um meinen Zug nach Luxemburg zu erreichen, und bewegte mich durch ziemlich leere Straßen. Das Wissen, dass jeder und jede im nächsten Moment als verdächtig beurteilt werden könnte, dass die Polizei einen einfach anhalten kann und Persönlichkeitsrechte dann weniger wert sind als unter anderen Umständen, macht schon Eindruck. Insbesondere wenn man, wie ich in den Achtzigerjahren in Südafrika, lange Perioden im Ausnahmezustand gelebt hat.
Wir reden vom Ausnahmezustand oder Notstand meist in einem allgemeinen Sinn. Doch die konkrete Form ist von Land zu Land verschieden. Gibt es einen gemeinsamen Nenner?
Das grundsätzliche Charakteristikum des Ausnahmezustands ist die Ausweitung der Befugnisse der Polizeikräfte. Darüber hinaus wird der Notstand meist etwas genauer definiert. Das ist auch in Frankreich der Fall. Gleichwohl sind die Befugnisse, die der Polizei dort erteilt worden sind, nicht spezifisch genug, um jene rechtlichen Mindestanforderungen zu garantieren, die man auch dann noch wahren möchte, wenn fundamentale Rechte suspendiert worden sind.
„In einem Verfassungs- staat dürfen polizeiliche Maßnahmen nicht allein nach Effizienzkriterien beurteilt werden.“
Von welchen Mindestanforderungen sprechen Sie?
Das kann ich an einem Beispiel erklären: Salah Abdeslam gehört mutmaßlich zu der Gruppe der Pariser Attentäter und konnte bislang nicht gefasst werden. Nach den Anschlägen soll er in einem Haus in Brüssel Unterschlupf gefunden haben, wo ihn die Polizei dann eines Nachts vermutet hat. Doch das belgische Recht lässt eine Hausdurchsuchung vor fünf Uhr morgens nicht zu, weshalb er wohl entwischen konnte. Nun werden viele bestimmt sagen, daran könne man sehen, wie das Recht effiziente Polizeiarbeit behindern kann. Doch in einem Verfassungsstaat gehört das zu den Risiken, die man eingehen muss, wenn polizeiliche Maßnahmen nicht allein nach Effizienzkriterien beurteilt werden. Solche Vorfälle gehören zu den Dingen, die man in einer konstitutionellen Demokratie akzeptieren muss. In dieser Zurückhaltung, die der verfassungsmäßigen Rechtsprechung eingeschrieben ist, besteht der normative Kern unseres politischen Systems.
Auch in Luxemburg hätte die Polizei nach geltender Rechtslage das Haus nachts nicht betreten dürfen. Den Sicherheitskräften sollen daher auch hierzulande mehr Befugnisse zugestanden werden. Premierminister Bettel meinte hierzu, wer der Regierung das Recht abspreche, zum Schutz des Allgemeinwohls auch ‚nachdrücklichere‘ Maßnahmen zu ergreifen, habe eine andere Definition von Demokratie als er.
Bettel geht wohl davon aus, dass eine solche Person ein Demokratieverständnis hat, das dem Staat zu hohe Standards abverlangt, wenn es um das Abwägen von öffentlicher Sicherheit und Persönlichkeitsrechten geht. Demokratie kann als politische Institution natürlich sehr verschiedene Formen annehmen. Jemand mit hohen Ansprüchen an die Unveräußerlichkeit der Rechte des Individuums kann durchaus eine andere Vorstellung von Demokratie haben als in diesem Fall der luxemburgische Premierminister. Wenn Herr Bettel es zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit für erforderlich hält, die Demokratie neu auszurichten, dann ist dies das Vorrecht seiner Regierung – sofern er die erforderliche demokratische Unterstützung bekommt. Ob es moralisch akzeptabel oder mit den normativen Werten einer liberal gesinnten Person im Einklang steht, ist eine andere Frage.
In diesem Kontext wird auch immer wieder gerne auf die Formel zurückgegriffen, man müsse „das Recht den Anforderungen der gegenwärtigen Realität anpassen“.
An sich ist das schon richtig. Wenn eine Regierung sich tatsächlich mit einer ernstzunehmenden Bedrohung konfrontiert sieht, muss sie handeln. Ihr Handeln wird jedoch zu spät in Frage gestellt, wenn das nur in der aktuellen Situation und anhand der Notstandsmaßnahmen geschieht, die zu diesem Zeitpunkt getroffen werden müssen. Eine Regierung, die unsere Aufmerksamkeit vollständig auf den Notstand lenkt, dem wir uns gegenübersehen, macht uns zugleich blind für das, was zuvor geschehen ist und was zur Entstehung dieser kritischen Situation beigetragen hat. Wir sollten uns permanent die Frage stellen, wie wir überhaupt in eine Situation hineingeraten konnten, in der die Polizei das letzte Mittel darstellt, das uns geblieben ist.
Die Verfassungsänderung, die derzeit im Sinne eines Notstands in Luxemburg diskutiert wird, spricht von „mesures réglementaires appropriées, même dérogatoires à des lois existantes“. Diese können laut dem Entwurf getroffen werden „même en cas de péril imminent résultant d’atteintes graves à l’ordre public“. Ist diese Formulierung präzise genug, um Missbrauch auszuschließen?
In einer Situation, in der man eine solche Sprache überhaupt benutzen kann, wird die Definition dessen, über das man eigentlich redet, sehr vage. Die Regierung hat dann relativ viel Spielraum, je nachdem, was sie unter bestimmten Umständen für zweckmäßig erachten mag. Für Notstandgesetze gibt es keinerlei juristische Stringenz, an der man sich orientieren könnte. Die Befugnisse von Regierung und Polizei werden allein von solch interpretierbaren Bestimmungen begrenzt.
„Wir sollten uns fragen, wie wir überhaupt in eine Situation kommen konnten, in der die Polizei unser letztes Mittel geblieben ist.“
Sie schrieben vor kurzem in einem Artikel, dass der Ausnahmezustand in Europa bereits lange vor seiner offiziellen Ausrufung in Kraft getreten sei. Das klingt etwas paranoid.
Das ist nicht paranoid, sondern realistisch. Seit den Enthüllungen durch Edward Snowden wissen wir, dass wir in den meisten Ländern Europas und in den Vereinigten Staaten seit Jahren unter Bedingungen leben, in denen die Praxis von Regierung, Polizei und Geheimdiensten nur schwer von der des Ausnahmezustands unterscheidbar sind. Individuelle und private Freiheiten sowie der Schutz der Privatsphäre wurden auf eine ungeheuerliche Weise missachtet. Seit wir das wissen, hat sich wenig an dieser Praxis geändert. Es wurden lediglich neue Gesetze erlassen, um diese Praktiken zu legalisieren. Das Argument ist dann, dass diese Maßnahmen erforderlich seien, um mit der terroristischen Bedrohung fertig zu werden. Und in den Vereinigten Staaten beispielsweise wurde der „Patriot Act“ zwar durch den „New Freedom Act“ ersetzt. Doch wenn ein Jurist die beiden Gesetze vergleicht, wird er feststellen, dass der „New Freedom Act“ dem Schutz der Privatsphäre sicherlich nicht mehr Gewicht gibt als das vorausgegangene Gesetz. Die Menschen werden überwacht und ihre Rechte werden beschnitten, als ob sie im Ausnahmezustand leben würden und die Regierungen sind auf eine latente und unausgesprochene Weise zu Notstandsregierungen geworden. Interessanterweise sind sich viele dessen bewusst, sie akzeptieren es aber dennoch. Ein Bewusstsein davon, dass wir unsere Freiheiten und Rechte schützen müssen, scheint derzeit in der Bevölkerung weniger ausgeprägt zu sein, als man das in einer freiheitsrechtlichen Demokratie vermuten würde.
Muss man nicht genauer differenzieren? Der Ausnahmezustand in Südafrika unter der Apartheid beispielsweise hat doch wohl wenig mit der Situation in Europa heutzutage zu tun.
Betrachtet man lediglich die jeweilige Erweiterung der polizeilichen Befugnisse, ist die Differenz zwischen dem Ausnahmezustand in Südafrika in den Achtzigerjahren und in einigen europäischen Ländern heutzutage nicht allzu groß. Das gilt natürlich nur, wenn man außer Acht lässt, dass die südafrikanische Polizei diese Befugnisse damals häufig aufs Drastischste überschritten hat. Der entscheidende normative Unterschied liegt aber vielmehr in der Art von Staat, die mit solchen Maßnahmen jeweils verteidigt werden soll. In Südafrika hat eine Minderheit ihre Macht verzweifelt zu verteidigen versucht, obwohl alle wussten, dass die bestehende Gesellschaftsordnung am Ende war. Was immer die südafrikanische Apartheid-Regierung damals auch behauptete: Niemand, der mit den Prinzipien der freiheitlichen Demokratie vertraut war, hätte einen Gedanken daran verschwendet, dass die Regierung vielleicht im Recht sein könnte. Es war völlig klar, dass es sich um ein System handelte, in dem demokratische Normen keine Geltung hatten.
Die Norm heiligt also die Mittel?
Bis zu einem gewissen Grad muss man den Ausnahmezustand tatsächlich als Abweichung von der Norm verstehen, um diese Normen selbst zu schützen. Es müssen dann aber wenigstens die Mindestanforderungen einer verfassungsmäßigen Demokratie noch gegeben sein, damit man behaupten kann, dass es noch immer um die Verteidigung dieser Normen geht. Das würde ich in der aktuellen Situation in Frankreich, Luxemburg und Zentraleuropa wie auch in den USA noch so sehen. Wenn aber der Notstand selbst zur Norm wird, weil er zweckmäßiger erscheint, da die Regierung vieles schneller und effizienter umsetzen kann, hat man die Normen, die man verteidigen wollte, hinter sich gelassen und sich in ein völlig neues politisches System manövriert. Das ist im Grunde das Ende der konstitutionellen Demokratie.
„Der Notstand ist eine kostengünstige Form des Regierungshandelns. Teurer ist es, eine soziale und liberale demokratische Ordnung aufzubauen und aufrechtzuerhalten.“
Eigentlich passt der Ausnahmezustand doch gar nicht ins gegenwärtige politische Programm. Schließlich ist er personalintensiv und äußerst kostspielig.
Ich bin eher der Meinung, dass der Notstand eine kostengünstige Form des Regierungshandelns ist. Auf diese Weise kann man das Maximum aus einem kleinen und unterfinanzierten Polizei- und Sicherheitsapparat herauspressen. Es ist viel teurer, eine soziale und liberale demokratische Ordnung aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Nur so könnte man verhindern, in ein Notstandsdenken zu gelangen. Dazu jedoch muss man in die Gesellschaft investieren und die tiefen sozialen Spaltungen vermeiden. Dass dies gelingen kann, hat die Erfahrung der vergangenen 150 Jahre in verschiedenen Ländern gezeigt. Wir sollten also zurückblicken, um zu verstehen, wie wir in diese Situation geraten konnten.
In Ihrem bereits erwähnten Artikel schreiben Sie allerdings, das Vermögen europäischer Regierungen zur historischen Selbstreflexion nehme ab.
Der Philosoph Jürgen Habermas hat in seinen Schriften zu Europa gezeigt, wie sich europäisches Regierungshandeln über die Jahre verändert hat und zu dem geworden ist, was er technokratische Flickschusterei nennt. „Regierung“ ist auf einen bloßen Reaktionsmodus herabgesunken, mit dem auf unmittelbare Probleme geantwortet wird. Es gibt keine Vorstellung davon, dass Regieren auch das Vermögen beinhalten kann, das Geschehene auf eine fundamentalere Weise zu analysieren, historische Entwicklungen in Betracht zu ziehen, um dann Entscheidungen zu fällen, wie am besten mit negativen Entwicklungen umgegangen werden kann. Technokratisches Denken ist bloßes Reagieren auf unmittelbare Probleme, und am Ende werden die Probleme eben so groß, dass als Lösung nur noch der Ausnahmezustand bleibt. Der Ausnahmezustand ist eine technokratische Antwort auf ein Problem.
Können die europäischen Regierungen daran viel ändern oder werden sie ihrerseits von der kapitalistischen Tendenz vor sich hergetrieben, von einem „ordo-liberalen Extremismus“, wie Sie es sagen?
Das ist in der gebotenen Kürze schwer zu beantworten. Man könnte jedoch sagen, dass der Ordo-Liberalismus zu den prägenden Ideologien aller europäischen Regierungen zählt. Er ist selbst wesentlich technokratisch, denn er propagiert die Einrichtung eines wohlfunktionierenden Marktes, und jenseits dessen soll man keine Fragen stellen. Man kann also sagen, dass es sehr wahrscheinlich eine Verbindung zwischen dieser technokratischen Geisteshaltung und dem geistigen Erbe des Ordo-Liberalismus gibt. Diesen Zusammenhang zu entfalten, ist in meinen Augen die dringlichste Aufgabe der historischen Sozialforschung in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren. Es gilt herauszufinden, in welchem Maß das politische Bewusstsein Europas gegenwärtig tatsächlich von ordo-liberalen Denkformen geprägt ist. Daran schließt sich die Frage an, wie diese ordo-liberale Geisteshaltung nahezu unvermeidlich zu technokratischen Formen des Regierungshandelns führt. Der Ausnahmezustand ist daraus lediglich die Konsequenz, denn Macht und Technik sind die Mittel, mit denen man im Ausnahmezustand Probleme zu lösen sucht. Ein anderes Resultat darf man sich von einem Regierungshandeln, das sich nahezu ausschließlich auf die Gestaltung einer funktionierenden Marktdynamik konzentriert, gar nicht erwarten.
Zur Person:
Johan van der Walt ist Jurist und Philosoph. Er lehrt seit 2011 Rechtsphilosophie sowie Rechts- und Verfassungstheorie an der Universität Luxemburg und ist Direktor des „Research Unit Law“. Er ist in Südafrika geboren und aufgewachsen, wo er bis 2006 einen Lehrstuhl für Recht an der Universität von Johannesburg hatte. Vor seinem Gang nach Luxemburg lehrte er an der Glasgow University.
In dem 2005 publizierten Buch „Law and Sacrifice“ nimmt van der Walt den Schutz von Grundrechten, wie ihn die Post-Apartheid-Verfassung Südafrikas garantiert, zum Ausgangspunkt für eine an demokratischem Pluralismus orientierte Rechtstheorie. Sein jüngstes Buch “The Horizontal Effect Revolution and the Question of Sovereignty” (2014) widmet sich der Frage nach dem Verbleib der Souveränität im europäischen Einigungsprozess.
Die im Interview erörterte Frage nach der Bedeutung von Notstandsregelungen, wie sie in Frankreich praktiziert und in Luxemburg ermöglicht werden sollen, hat er ausführlich auch in der auf Englisch erscheinenden Online-Publikation „CEE News Perspectives“ behandelt. Der Text findet sich hier: http://ceenewperspectives.iir.cz/2016/01/04/johan-van-der-walt-when-one-religious-extremism-unmasks-another-2
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