Russland: Attacken und Audienzen

In Tschetschenien wurde die Journalistin Jelena Milaschina brutal überfallen. Der dortige Präsident Ramsan Kadyrow hatte wiederholt Drohungen gegen sie ausgesprochen. Unterdessen fand sich Söldnerführer Jewgenij Prigoschin nach dem von ihm inszenierten Aufstand sogar zu einem Treffen mit Präsident Putin im Kreml ein.

Schon 2013 in den USA für ihre Courage ausgezeichnet: Jelena Milaschina (Bildmitte) von der oppositionellen russischen Zeitung „Nowaja Gaseta“. Unser Bild zeigt sie mit der damaligen „First Lady“ Michelle Obama (links) und dem damaligen Außenminister John Kerry (rechts). 
Anfang vergangener Woche wurde die Journalistin in Tschetschenien überfallen. (Foto: EPA/Jim Lo Scalzo)

In Tschetschenien setzen sich die Machthaber über alle Mindeststandards einer unabhängigen Justiz hinweg, sofern diese überhaupt noch bestehen. Falls es ihnen erforderlich erscheint, kommt auch rohe Gewalt ins Spiel, wie am 4. Juli, dem Tag der Urteilsverkündung gegen Sarema Musajewa. Die Ehefrau des ehemaligen Richters am Obersten Gericht Tschetscheniens, Sajdi Jangulbajew, und Mutter zweier Söhne, die sich oppositionell engagieren, Ibrahim und Abubakar Jangulbajew, wurde an jenem Tag wegen Betrugs und Widerstands gegen die Staatsgewalt zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Die gesundheitlich schwer angeschlagene Musajewa muss wohl als eine Art Geisel betrachtet werden, denn ihr Mann und ihre Söhne befinden sich im Ausland und den Behörden gelang es nur, an deren Stelle Sarema Musajewa im Januar 2022 in Nischnij Nowgorod festzunehmen. Allerdings waren bereits zuvor über ein Dutzend weitere Verwandte in Tschetschenien verschwunden.

In diesem Zusammenhang ist auch die Attacke auf Jelena Milaschina, Journalistin der oppositionellen russischen Zeitung „Nowaja Gaseta“, zu sehen. Milaschina wurde gemeinsam mit Sarema Musajewas Anwalt, Aleksandr Nemow, direkt nach ihrer Ankunft in Grosny auf dem Weg zum Gericht abgefangen, wo sie der Urteilsverkündung hatten beiwohnen wollen. Kaum hatte ihr Taxi das Flughafengelände verlassen, drängten es drei andere Wagen an den Straßenrand. Einige Insassen, Männer mit schwarzen Tüchern vor dem Gesicht, sprangen ins Taxi und begannen auf die beiden einzuschlagen, Nemow rammten sie ein Messer ins Bein. Nach einer kurzen Weiterfahrt setzten sie nahe der Straße die Prügelei mit Plastikrohren fort. Milaschinas malträtierter, mit grünem Antiseptikum übergossener Körper ist voller Hämatome, etliche Knochen an der Hand sind gebrochen, ihr Kopfhaar abrasiert. Die Forderung der Angreifer: das Passwort ihres Handys preiszugeben und in Zukunft die Republik nicht mehr aufzusuchen.

Es war nicht der erste gewalttätige Übergriff auf die ausgewiesene Tschetschenien-Expertin Milaschina – zuletzt gab es einen solchen Anfang 2020 in einem Hotel –, doch lief es zuvor glimpflicher ab. Ramsan Kadyrow, der Tschetschenien seit 2007 diktatorisch regiert, sprach immer wieder Drohungen gegen sie aus. Ohne seine Kenntnis oder gar seine direkte Anweisung dürfte ein solcher Angriff in seinem Herrschaftsbereich wohl nicht stattfinden.

Rechtsextremen Hetzern und Kriegsteilnehmern im Donbass wie Igor Girkin oder Jewgenij Rasskasow, einer der Anführer des russischen Neonazi-Kampfverbands „Rusitsch“, ging die Aktion nicht weit genug. Sie sähen Milaschina lieber im Gefängnis oder tot. Einige offizielle Staatsvertreter wie der Vorsitzende des Ausschusses für Verfassungsrecht und Staatsbildung im russischen Oberhaus, Andrej Klischas, forderten indes, anders als bei früheren Vorfällen, ein hartes Vorgehen gegen die Angreifer Milaschinas und Nemows.

Dass wohl auch dieses Mal nach einem Einschüchterungsversuch gegen Menschenrechtler in Tschetschenien nichts aus einer angemessenen gerichtlichen Aufarbeitung wird, lässt sich an den Strafrechtsparagraphen ablesen, wegen denen ermittelt werden soll: leichte und mittelschwere Körperverletzung, worauf bis zu zwei Jahre Haft stehen. Öffentlich geäußerte Kritik wie jene Klischas’ an den Zuständen in Tschetschenien bewerten Beobachter wie der Politologe und Publizist Iwan Preobraschenskij trotzdem als Indiz dafür, dass Kadyrow zumindest halbherzig in seine Schranken gewiesen werden soll. Der „Marsch der Gerechtigkeit“ genannte Aufstand des allzu eigenmächtig agierenden Anführers der Söldnergruppe Wagner, Jewgenij Prigoschin, dürfte den russischen Machtapparat in Unruhe versetzt haben, ohne dass die Intention, ernsthaft durchzugreifen, zu erkennen wäre (siehe den Artikel „Prigoschins letztes Gefecht“ in woxx 1742).

Seine Verpflichtungen für den Kreml erfüllt Kadyrow gefügig. Die getreuesten kampfgeschulten Leute bewahrt er allerdings vor allzu gefährlichen Missionen und hält sie lieber zur eigenen Verfügung bereit. Zu Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine prahlte er, nicht weniger als 70.000 tschetschenische Kämpfer seien bereit für einen Fronteinsatz. Im Mai berichtete er der russischen Führung, dass im gesamten Kriegszeitraum rund 26.000 an Kampfhandlungen beteiligt gewesen seien, davon zu jener Zeit 7.000.

Doch dabei handelt es sich längst nicht nur um Tschetschenen. Mit tschetschenischen Flaggen kenntlich gemachte Angehörige der den russischen Streitkräften unterstehenden Freiwilligensondereinheit „Achmat“ stammen aus ganz Russland und wurden lediglich in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny für ihren Einsatz ausgebildet. Dass im Übrigen auch auf der ukrainischen Seite eine tschetschenische Kampfeinheit involviert ist, dürfte Kadyrow im Bericht nicht erwähnt haben. Die US-amerikanische Tageszeitung „Politico“ hatte im April berichtet, diese Einheit sei zwischen 150 und 200 Mann stark, hochmotiviert und verfüge teilweise über enge Kontakte zu islamistischen Gruppen.

Unklar ist derzeit, ob Prigoschin weiter im Kriegsgeschäft bleibt – wenn nicht in der Ukraine, dann vielleicht auf dem afrikanischen Kontinent.

Kadyrow ist dem Kreml durchaus von großem Nutzen. Die Einheit „Achmat“ sei Richtung Bachmut verlegt worden, was von großem Vertrauen des russischen Generalstabs zeuge, teilte Kadyrow am Wochenende über seinen Telegram-Kanal mit. Komplett ersetzen könnten sie das bisherige Großaufgebot von Prigoschins Wagner-Söldnern, die Anfang Juni von dort abzogen, jedoch nicht. Wobei sich seit Wochen die Frage stellt, ob und wieweit das Militärunternehmen Wagner überhaupt noch von Prigoschin verwaltet wird. Wagner-Rekrutierungsstellen scheinen jedenfalls weiterhin zu funktionieren, zumindest per Telefon können Anfragen gestellt werden. Gleichzeitig berichtete der Telegram-Kanal der Website „Gulagu.net“ des russischen Menschenrechtsaktivisten Wladimir Osetschkin von mindestens 20 Strafverfahren gegen Wagner-Angehörige seit dem Aufstand vom Juni. Es habe etliche Festnahmen und Hausdurchsuchungen gegeben, viele seien entwaffnet worden.

Nicht weniger widersprüchlich wirken die Angaben über die direkt im Anschluss an den Aufstand angeblich durch den belarussischen Präsidenten Aleksandr Lukaschenko ausgehandelte Lösung, den Söldnern eine Unterbringung in Belarus zu ermöglichen. Belarussische Behörden zeigten zwar Aufnahmen von einem angeblich für die Truppen errichteten Lager, jedoch ohne Söldner.

Bekannt ist hingegen, dass Prigoschin sich zumindest zwischenzeitlich in Sankt Petersburg aufgehalten hat. Dort hat er am 30. Juni seinen Medienkonzern „Patriot Media Group“ aufgelöst, nicht aber zahlreiche weitere Firmen, mit denen er hohe Einnahmen erzielt, unter anderem im Bausektor. Tags zuvor war er auf Einladung von Wladimir Putin bei einer Audienz des Präsidenten in Moskau unter 35 geladenen Gästen. Kremlsprecher Dmitrij Peskow bestätigte am Montag die von der französischen Zeitung „Libération“ veröffentlichten Hinweise darauf. Das Treffen habe fast drei Stunden gedauert, in denen Putin seine Sichtweise auf den Kriegsverlauf und die Ereignisse vom 24. Juni dargelegt habe – den Tag des Aufstands. Details gab Peskow nicht preis.

Ganz unten durch scheint Prigoschin demnach nicht zu sein. Mit Putin persönlich zu sprechen, war ihm jedenfalls die Wochen und Monate zuvor nicht vergönnt. Am Dienstag teilte das belarussische Verteidigungsministerium mit, dass im Rahmen des üblichen Erfahrungsaustauschs belarussischer und russischer Militäreinheiten Wagner-Angehörige hinzugezogen würden. Unklar ist derzeit, ob Prigoschin weiter im Kriegsgeschäft bleibt – wenn nicht in der Ukraine, dann vielleicht auf dem afrikanischen Kontinent.

Über den Verbleib von General Sergej Surowikin gibt es indes seit dessen Verschwinden am 24. Juni nichts als Spekulationen. Er soll sich in Haft befinden, hieß es, aber gesichert ist diese Information nicht. General-
stabschef Walerij Gerassimow tauchte erstmals am Wochenende wieder in einem Video des russischen Verteidigungsministeriums öffentlich auf. Am Sonntag berichtete die britische Zeitung „Daily Mail“, Gerassimow sei von seinen Aufgaben entbunden worden. Der Chef der Luftlandetruppen, Michail Teplinskij, habe in der letzten Zeit faktisch die Leitung über die in der Ukraine eingesetzten Streitkräfte übernommen. Ähnliches berichteten russische Kriegskorrespondenten.


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