Russland: Prigoschins letztes Gefecht

Nachdem Söldnerführer ­Jewgenij Prigoschin in Rostow am Don erfolgreich den Aufstand gegen die russische Militärführung geprobt hatte, blies er seinen Vormarsch auf Moskau überraschend wieder ab. Alle Welt rätselt, was ihn dazu bewogen haben mag und wie es nun weitergeht.

Wird wohl ein Symbolbild das abgeblasenen Wagner-Aufstands werden: Ein von Jewgenij Prigoschins Söldnern gefahrener Panzer steckt in der Torausfahrt des lokalen Staatszirkus in Rostow am Don fest. (Foto: EPA-EFE/Stringer)

„Wir retten Russland“ – mit dieser hochtrabenden Kampfansage begründete Jewgenij Prigoschin, warum er nicht mehr gewillt sei, sich den Anordnungen der russischen Militärführung unterzuordnen. Auf einem am Samstagmorgen in Rostow am Don im Süden Russlands aufgenommenen Video ist zu sehen, wie der Gründer der Söldnergruppe Wagner zwischen dem stellvertretenden Verteidigungsminister Junus-Bek Jewkurow und dem stellvertretenden Leiter des Generalstabs Wladimir Aleksejew sitzt und in knappen Worten sein weiteres Vorgehen erklärt: Er verlange nach Sergej Schojgu und Walerij Gerassimow, dem Verteidigungsminister und dem Generalstabschef, bis dahin würden seine Leute Rostow blockieren und sich auf den Weg nach Moskau machen. Bei etwaigen Angriffen der Luftwaffe würden seine Einheiten das Feuer eröffnen.

So kam dann auch: Von 25.000 angekündigten Wagner-Söldnern fuhren 8.000, so die Tageszeitung „The Daily Telegraph“ mit Verweis auf britische Geheimdienste, in Panzerfahrzeugen in höchstmöglicher Geschwindigkeit die Strecke Richtung Norden, ohne auf Gegenwehr zu treffen. Nur aus der Luft wagte die russische Armee einen Vorstoß und verlor dadurch sechs Kampfhubschrauber und ein Flugzeug samt mindestens einem Dutzend Besatzungsmitgliedern. Am Abend war der Spuk wieder vorbei. 200 Kilometer vor Moskau veranlasste Prigoschin die Rückkehr seiner Einheiten in ihre Ausgangsstellungen. Der „Marsch der Gerechtigkeit“ sei beendet, um die Gefahr einer blutigen Auseinandersetzung abzuwenden.

Was passiert wäre, hätten die Wagner-Truppen tatsächlich Einzug in die Hauptstadt gehalten, dürfte im Wesentlichen davon abgehangen haben, was Prigoschin dazu bewogen hatte, sich einen derart gewagten Vorstoß zu erlauben – und mit welcher Art der Unterstützung und von welcher Seite er gerechnet hatte. Dass sich in Moskau Bilder wiederholt hätten, wie sie in Rostow zu sehen waren, ist prinzipiell vorstellbar. Dort hatten Einwohner einen Panzer mit Blumen geschmückt, der in einer Torausfahrt des lokalen Staatszirkus steckengeblieben war, und Wagner-Leuten applaudiert. Direkt um die Ecke befindet sich die Kommandozentrale der südlichen Streitkräfte der russischen Armee. Eine Szene mit Symbolkraft, bedenkt man, mit welcher Leichtigkeit es vollbracht werden konnte auf das Terrain einer Stadt vorzudringen, die nach anderthalb Jahren Krieg gegen die Ukraine einem Hochsicherheitstrakt ähneln müsste; Rostow ist von der ukrainischen Grenze gerade mal gut 100 Kilometer entfernt.

Prigoschin ist ein hausgemachtes Problem, das Putin nicht mehr mit seinen herkömmlichen Mitteln steuern konnte, die Privatarmee war seinem Machtapparat entwachsen.

Prigoschins Vabanquespiel mag zwar als Nebeneffekt Sympathien in der Bevölkerung für die Wagner-Truppen offenbart haben, doch liegt die Vermutung nahe, dass es darauf angelegt war, Teile der Armee auf seine Seite zu ziehen, um mit der Armeeführung abzurechnen. Er schien, wie an der Passivität der russischen Streitkräfte während seines Vormarschs zu sehen, nicht ganz unberechtigt auf einen gewissen Rückhalt zumindest im Offizierskorps spekuliert haben. Denn dort finden sich relevante Kräfte, die ihre Karriere weder Schojgu noch Gerassimow zu verdanken haben und – dem Washingtoner Think Tank „Carnegie Endowment for International Peace“ zufolge – hinter vorgehaltener Hand die Unprofessionalität der Armeeführung kritisieren.

Unzufriedene Angehörige der Streitkräfte sprach Prigoschin offenbar auch an, als er am Tag vor seiner Offensive eine halbstündige Videobotschaft veröffentlichte. Darin widersprach er dem offiziell vorgebrachten Kriegsgrund einer vermeintlichen Denazifizierung der Ukraine und stellte den Krieg de facto als Feldzug zur Absicherung materieller Interessen einer gierigen Herrscherclique dar, die gegen nationale Interessen agiere. Bei seiner Schimpftirade verschonte er allerdings Präsident Wladimir Putin und wetterte vielmehr gegen die Armeeführung.

Obwohl er keine Gelegenheit auslässt, die Verdienste seiner Wagner-Söldner zu loben, stellt sich Prigoschin keineswegs gegen die gesamten Streitkräfte, sondern sucht dort nach Bündnispartnern. Prigoschin nimmt es mit der Wahrheit nicht genau, wenn er über die Kampfkraft der Armee spricht: Russlands Truppen hätten Prigoschin zufolge derzeit hohe Gebietsverluste zu verzeichnen, dabei kommt die ukrainische Armee bei ihrer Offensive langsamer voran als gedacht.

Seit längerer Zeit schwelt ein Konflikt zwischen Prigoschin und der Armeeführung, den der Wagner-Chef seit der langwierigen Einnahme der dabei völlig zerstörten Stadt Bachmut in die Öffentlichkeit trägt. Zunächst ließ er verlauten, der Generalstab liefere seinen Truppen zu wenig Munition. Aber die Konflikte liegen tiefer. Prigoschins Eigenmächtigkeit und Unkalkulierbarkeit machten ihn trotz seiner bisherigen Nützlichkeit als Mann fürs Grobe zu einem wachsenden Risiko. Aus ­Russlands Staatsmedien wird er längst so weit wie möglich herausgehalten. Der jüngste Versuch, ihn an die Kandare zu nehmen, könnte der Auslöser für seinen Aufstand gewesen sein, denn für Prigoschin steht die Existenz auf dem Spiel.

Anfang Juni erteilte das Verteidigungsministerium die Anweisung, dass innerhalb eines Monats alle nicht in die regulären Streitkräfte integrierten Kampfverbände einen Vertrag mit dem Ministerium zu unterzeichnen hätten, was rund 40 Gruppierungen betrifft. Während andere sich der Vorgabe fügten, erteilte Prigoschin diesem Vorgehen eine demonstrative Absage. Trotzdem sei eine Einigung mit dem Verteidigungsministerium möglich gewesen, aber nur bis zu dem Zeitpunkt, als dieses veranlasst habe, Wagner-Stellungen anzugreifen, sagte Prigoschin Freitagabend. Dabei seien 30 seiner Kämpfer ums Leben gekommen – Beweise dafür bleibt er schuldig.

Die Idee, eine Privatarmee für delikate Einsätze im Ausland zu gründen, wie in Syrien und auf dem afrikanischen Kontinent, stammte aus dem Generalstab noch aus Zeiten vor der Ernennung Gerassimows zum Generalstabschef. Sie im rechtsfreien Raum agieren zu lassen – bis heute gibt es in Russland keine gesetzliche Grundlage für Einsätze privater Söldnerarmeen –, war bislang Bestandteil des Konzepts, das sich nun wohl als Fehler entpuppte.

Prigoschin ist ein hausgemachtes Problem, das Putin nicht mehr mit seinen herkömmlichen Mitteln steuern konnte, Prigoschins Privatarmee war seinem Machtapparat entwachsen. Nikolaj Patruschews Aufgabe als Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation wäre es gewesen, für reibungslose Abläufe zwischen der Wagner-Gruppe und der Armee zu sorgen. Sein Versagen liegt auf der Hand. Schojgu verschwand über mehrere Tage von der Bildfläche, bis er am Montag wieder im Fernsehen zu sehen war. Fernsehpropagandisten waren verstummt, eine Reihe Angehöriger des Führungspersonals, einschließlich Patruschew und des Leiters des Inlandsgeheimdiensts FSB, Aleksandr Bortnikow, schwiegen ebenfalls abwartend.

Russlands Gouverneure beeilten sich zwar, ihre Loyalität zum Präsidenten zu bekunden, aber da sie weder über große politische Kompetenzen noch über Einfluss in den Streitkräften verfügen, bedeutet ihr Verhalten nicht mehr als eine Formalität. Das auf den russischen Sicherheitsapparat spezialisierte Rechercheportal „Agentura.ru“ berichtete, dass sich die FSB-Angehörigen in Rostow in ihren Räumen verbarrikadiert hätten. Ratlosigkeit auf ganzer Linie.

Putin offenbarte Schwächen, indem er von seinem Prinzip abwich, mit „Verrätern“ kurzen Prozess zu machen.

Putin selbst offenbarte Schwächen, indem er von seinem Prinzip abwich, mit „Verrätern“ – so bezeichnete er die rebellierenden Wagner-Söldner am Samstagnachmittag – kurzen Prozess zu machen. Gut möglich, dass Prigoschin Glück hat, noch am Leben zu sein. Am Ende steht ein Kompromiss, der Fragen aufwirft. Offiziell hat ihn der belarussische Präsident Aleksandr Lukaschenko ausgehandelt: Prigoschin und alle Wagner-Angehörigen, die nicht bereit sind, sich in die reguläre Armee eingliedern zu lassen, haben angeblich freies Geleit nach Belarus. Was sie dort erwarten könnte, ist ebenso offen wie die Frage, ob es zu einem strafrechtlichen Nachspiel wegen der Tötung der Besatzungen der abgeschossenen Hubschrauber- und Transportflugzeuge kommen wird – wohl eher nicht, wie es aus dem Kreml am Dienstag verlautete.

Kreml-Pressesprecher Dmitrij Peskow hatte bereits am Samstagabend von Straffreiheit für Prigoschin gesprochen. Am Dienstag meldete die russische staatliche Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf den Inlandsgeheimdienst FSB, dass das am Freitag gegen Prigoschin eingeleitete Strafverfahren wegen Aufrufs zu einem bewaffneten Aufstand angesichts des Endes der „kriminellen Handlungen“ am 24. Juni doch eingestellt worden sei. Zuletzt meldete Prigoschin sich am Montag mit einer Audionachricht auf seinem Telegram-Kanal, in der er beteuerte, seine Aktion sei nichts als Protest gewesen, keinesfalls eine versuchte Machtübernahme. Am Dienstag hatte Lukaschenko der britischen Tageszeitung „Guardian“ zufolge der staatlichen Nachrichtenagentur „Belta“ bestätigt, dass Prigoschin in Belarus angekommen sei.

Putin und Lukaschenko hatten seit Ende vergangener Woche mehrmals miteinander telefoniert. Dass der belarussische Präsident sich gerne als Krisenvermittler inszeniert, ist bekannt, ob er aber tatsächlich aus eigener Initiative Prigoschin und seine aufständischen Söldner bei sich aufnimmt, ist fraglich. In die Gespräche soll Aleksej Djumin, Gouverneur der Oblast Tula und ehemaliger stellvertretender Sicherheitschef von Putins Leibgarde, involviert gewesen sein, berichteten russische Telegram-Kanäle. Djumins Pressestelle dementierte das später. Seit geraumer Zeit fällt sein Name in unabhängigen Medien und Blogs als möglicher Nachfolger Putins und nun als Kandidat zur Ablösung von Schojgu.

In einer kurzen Ansprache resümierte Putin am Montag, dass dank des geschlossenen Auftretens praktisch der gesamten russischen Gesellschaft alles glimpflich ausgegangen sei. Er mühte sich ab, zu zeigen, dass der Staat am Ende doch die Oberhand behalten hat.


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