Serie Annes „Weltreise“ (1/6): Kalte Pizza und verbrannte Pobacken


Pobacken und mehr – in Australien feiert man etwas anders.

2017 steht ganz im Zeichen von Kauderwelsch, durchgelatschten Birkenstock-Sandalen und unverständlichen Flugzeugdurchsagen, die so klingen, als würden mehrere „Sinnlos im Weltall“-Folgen gleichzeitig abgespielt. Anfang Januar hat Anne Schaaf deshalb bewusst die europäischen Gefilde verlassen, 
und nun stehen sechs Länder innerhalb von sechs Monaten auf 
der „bucket-list“.

Die ersten 32 Tage, die ich hauptsächlich in Südaustralien verbrachte, sind um, und während ich mich von physischem Gepäck trennen konnte, habe ich jetzt neue emotionale Päckchen zu tragen. Von deren Inhalt und Gewicht möchte ich erzählen. Wer sein eigenes Land verlässt, verlässt auch häufig eine Position in einem sozialen Gefüge. Es bleibt ihm zudem nichts anderes übrig, als auch viele Gewohnheiten hinter sich zu lassen. Denn letztere sind häufig an bereits bekannte Menschen, Orte und (Gedanken-) Wege gebunden. Macht man diesen Schritt, so teilt sich die vermeintliche Einbahnstraße auf und sieht von oben betrachtet wahrscheinlich aus wie ein Baum. Die Abzweigungen, die sich mir auf meiner ersten Reisetappe geboten haben, waren vielfältig, teils verstörend, jedoch auch unterhaltsam und definitiv alle auf die eine oder andere Weise lehrreich.

Auf dem Weg nach Melbourne hörte ich Salman Rushdies „Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte“ in Hörbuchform. In dieser Geschichte von Tausendundeiner Nacht erzählt die männliche Haupt-
figur Mr. Geronimo, wie sein Großvater ihm gegenüber vom „Mi casa es tu casa“ sprach. Obwohl Geronimo – damals noch ein kleiner Knopf – der Sprache nicht mächtig war, spürte er doch, was ebendies zu bedeuten habe. Diese simple und doch schöne Passage über die Gastfreundschaft rief mir die dringende Notwendigkeit ins Gedächtnis, mich endlich um mein Couchsurf-Profil zu kümmern, damit ich die Sofas dieser Welt erproben und mit ihren Besitzern bekanntwerden könne. Die Recherche hatte definitiv Unterhaltungswert. Von selbsternannten Freidenkern, deren Lebensweisheiten an Poesiealbum-Einträge aus der Grundschule erinnern, bis hin zu Profilfotos mit unglaublich hässlichen Hunden (warum nur?!) und braungebrannten, menschgewordenen Proteinshakes war wirklich alles dabei. Da das Ganze ja ohne Währung funktioniert, gibt jeder an, was er bieten kann im gegenseitigen Austausch. Meine ersten praktischen Erfahrungen in der Offline-Situation haben mir nun gezeigt, dass, was man letzten Endes mitnimmt, oft das ist, was man am wenigsten erwartet hat. Mein erster Host war ein Extremsportler mit militärischem Background. Letzteres stand nicht im Profil, das Durchexerzierende sollte unsere Begegnung aber bald prägen. Ich werde sicherlich nicht behaupten, dass dies bei sämtlichen Mitgliedern dieser Institution der Fall ist, aber es gibt einen gewissen Tunnelblick, der mir ebenso viel Angst macht wie der mancher Touristengruppen, die frei nach dem Prinzip „Nach mir die Sintflut“ zu Sehenswürdigkeiten rennen, mit ihren Selfie-Sticks wie mit Degen fechten, um das beste beschissene Bild zu schießen, den Anblick bei all dem aber keine drei Sekunden lang genießen. Solche Menschen stoßen sich den Kopf nur deshalb nicht, weil der Käfig um sie herum sie davor bewahrt.

Als mein Host dann noch erfuhr, dass ich rauche, war es um ihn geschehen. Er bekannte sich zu seiner uneingeschränkten Antihaltung und bedachte mich mit einem herablassenden Blick, den sonst nur bestimmte Fernsehmoderatorinnen bei RTL Tele Lëtzebuerg drauf haben. Total absurd war, dass ich trotzdem bekocht sowie mit Infos versorgt wurde. Sodass ich mich am Schluss etwas ratlos fragte, ob das nun Gastfreundschaft gewesen war oder nicht.

Ein anderer potenzieller Host war um einiges zutraulicher. Erfüllt von dem begeisternden Wunsch nach nonverbaler Vereinigung unserer beider Kulturen, wollte er mir sein Glied zeigen. Es kam dann auch so, glücklicherweise aber nur im FB-Chat. Es war aber weniger das schlecht ins Bild gesetzte Genital, das mir Sorgen bereitete, als vielmehr die Tatsache, dass er mir seine Vorschläge mit ihrer durch Wollust stark beeinträchtigten Orthografie aus mehr als 15 Metern Höhe sendete. Als Kranführer im Stadtzentrum langweilte der Gute sich anscheinend so sehr, dass er für jede Ablenkung zu haben war. Ich für meinen Teil werde demnächst wohl vorsichtiger unter derartigen Führerhäuschen hindurchschreiten.

Zur Halbzeit gelang es mir dann aber, eine wirkliche liebe Truppe aufzutun. Mein zeitweiliges Zuhause wurde die Wohnung einer 4er-WG von Australiern Anfang 30. Bei meiner Ankunft wurde mir nicht nur aufopferungsvoll kalte Pizza angeboten, sondern auch jede Menge Bier. Wir sprachen über die australische Politik, den dortigen Drogenmarkt und sogenannte „Bogans“. Hierbei handelt es sich um einen herablassenden Begriff, den das Urban Dictionary wie folgt fasst: „Males and females rarely interact socially except during breeding season, which is otherwise known as Friday night. During this time, females are allowed to enter the male-dominated area known as ‘the pub’ and display their impressive coloured plumage to a prospective mate.” Jenseits der Wörterbücher definiert wohl jeder Australier den Begriff nach seinem Gusto, es ist jedoch klar, dass er so oder so für soziale Klüfte und Ausgrenzung steht – ein Thema, das Australien prägte und auch jetzt prägt. Dabei musste ich an ein Graffiti denken, das verkündete: „Refugees are people”. Das sind sie hier aber nur, wenn sie nicht mit einem Boot ankommen. Neben der ohnehin schon sehr selektiven Einwanderungspolitik schlägt die Operation „Sovereign Borders“ der Abbott Regierung seit 2013 durch. Nach deren Grundsatz werden die Anträge von Geflüchteten, die den Seeweg wählen, nicht nur abgelehnt, sondern die Boote dürfen erst gar nicht in einen australischen Hafen einlaufen. Die Insassen werden in „Außenlagern“ in Nauru, Papua Neu-Guinea und Kambodscha festgesetzt. So wirklich post- ist der koloniale Nachgeschmack hier leider gar nicht. Das merkte ich in mehr als nur einem Gespräch.

Festivals ohne Alkohol

Nächste Etappe war das sagenumwobene Rainbow Serpent Festival im staubigen Nirgendwo von Lexton. Dieser mehrtägige Ausnahmezustand figuriert unter dem Titel „Lifestyle Festival“ und entführt die Gäste manchmal in mehr als nur eine unbekannte Welt. Die einen Geschäfte werden auf dem Kompostklo verrichtet, und die anderen, die durchaus florieren, auf dem Gelände. Hier gibt es alles was das esoterische, alternative sowie drogenaffine Herz begehrt. Der Großteil der Gäste ist kostümiert, und zwar nicht nach dem 08/15-Karnevalsschema; es darf gerne schrill, gefühlt subversiv und knallbunt sein. Selten habe ich so viele Männer gesehen, an denen Tütüs kleidsam wirken, und in Bezug auf das weibliche Geschlecht bot sich mir definitiv noch nie zuvor eine derart große, manchmal mehr, manchmal weniger kreative Varianz bei der Zurschaustellung des eigenen Gesäßes. Ein älterer Festival-Gänger meinte mir gegenüber, das sei vor fünf Jahren noch nicht so gewesen und hänge wohl mit der Emanzipation zusammen. Ich für meinen Teil hatte Mitleid, denn Sonnenbrand auf dem Po ist, unabhängig von jeglicher politischen Ausrichtung, einfach nicht erstrebenswert.

Durchaus spannend und für Luxemburger wohl kaum vorstellbar (da ja sonst die Grundessenz allen Amusements fehlen würde) ist die Tatsache, dass es keinen Alkohol zu kaufen gab. Wie in Australien üblich funktionierte alles nach dem BYO Prinzip; wer also saufen will, muss seinen Treibstoff selbst mitbringen. Die von mir gesichteten betrunkenen Menschen waren an einer Hand abzuzählen. Eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass mehr als 17.000 Menschen auf dem Gelände rumhingen. Nicht gerade verwunderlich also, dass ein Großteil recht beflügelt in anderen Sphären unterwegs war. Das hatte den Vorzug, dass um mich rum mehr geliebt als gehauen wurde. (Vielleicht eine interessante Anregung für den luxemburgischen Nationalfeiertag?)

Die im Gegensatz zur offiziellen Linie der australischen Regierung stehende Drogenpolitik des Festivals setzte mehr auf Prävention (durch Information und Gratis-Wasser) und Empathie (unzählige Freiwillige, sahen permanent nach dem Rechten) als auf Verbote und Totschweigen und hatte damit Erfolg. Man versuchte gar nicht erst, das Unvermeidliche zu verhindern, sondern reichte eine helfende Hand. Ein 22-Jähriger kam leider trotzdem auf die Idee, Poppers zu trinken, und erlag in seinem Zelt einem Herzstillstand. Die Medien überschlugen sich natürlich, und die Schuldzuweisungen flogen wie Ping-Pong-Bälle durch die Gegend. Ich war in der Sache zwiegespalten. Als Organisator oder eben Gastgeber, kann man seinen Gästen raten, nach links und rechts zu schauen, bevor sie die Straße überqueren, man kann sie jedoch nicht im Haus festhalten, nur damit ihnen nichts passiert. Dieser Typ lief frontal auf einen Lastwagen zu. Es tut mir sehr leid für seine Familie – aber auch für die Veranstalter.

Eine meiner letzten Stationen in Australien war Mount Gambier, ein 23.000-Seelen-Dorf am Rande eines erloschenen Vulkans. Als ich mit dem Bus dort ankam, hatte kein Restaurant mehr geöffnet. Also blieb nur Hungry Jacks, eine australische Fast-Food-Kette. Dort las ich in der einzigen vorhandenen Zeitung, dem Herald Sun, über Trumps Muslim Ban und den Flüchtlingsdeal mit Australien. Das nennt man dann wohl in dreifacher Hinsicht ein Ekelpaket erster Güte.

Tags darauf suchte ich eigentlich nur einen Supermarkt und erkundigte mich beim erstbesten Menschen auf der Straße nach dem Weg. Der ältere Herr bot mir sofort an, mich bis dorthin zu begleiten. Nach ein wenig Plauderei und Tipps zögerte er kurz, erklärte mir dann, er sei Rentner, habe heute nichts vor und mache mir deshalb den Vorschlag, mich herumzufahren und mir seine Stadt zu zeigen. Für einige Sekunden war dann ich diejenige, die zögerte. Ich spielte alle Varianten gesunder Skepsis durch bevor ich sein Angebot annahm. Er brachte mich dann unter anderem zum Blue Lake, der in einem Kobaltblau schimmert, bei dem man zweimal hinschauen muss, um sicher zu sein, dass das Gesehene auch wirklich real ist.

Klüfte und Ausgrenzungen

Dann wollte er aus der Stadt raus, ganz beschwingt von dem, was kommen sollte. Im Auto stellte er mir nicht die Standardfragen, mit denen man in Hostels tausendmal konfrontiert wird und auf die man schon ab dem dritten Mal eigentlich nicht mehr antworten möchte. Er wollte vielmehr wissen, ob in Luxemburg tendenziell eher mit Strom oder Gas geheizt wird. Zudem interessierte er sich dafür, wie schnell man auf luxemburgischen Autobahnen fahren darf, und welche die Hauptsportart der Luxemburger ist. Nachdem ich erklärt hatte, dass das die Disziplin „betrunken Auto fahren“ sei, sprach ich auch noch über andere Sportarten.

Am Meer angekommen, zeigte mir mein Aussie auch die Piccaninnie Ponds, ein Feuchtgebiet am Rand des Ozeans, in dem man sich wundervoll verlieren kann. Er habe eine innige Beziehung zum Meer, da es sein Zuhause sei, erklärte er. Sein Vater sei Leuchtturmwärter gewesen. Ein Boot habe ihnen damals wöchentlich Nahrungsmittel gebracht und seine Hausaufgaben mitgenommen, denn er, mein Reiseführer, sei Homeschooler und Teil eines Remote-School-Netzwerks gewesen, wie viele andere Kinder im Outback auch. Vor dem Internetzeitalter habe es sogar eine School on Air gegeben, die den Unterricht via Radio abhielt.

Am selben Tag wurde ich noch von seiner Freundin bekocht, danach hieß es: „Let’s have tea“, und wir tranken australisches Pale Ale. Wir sprachen über Gott, die Welt und die Aborigines. Als ich auf die sogenannte „stolen generation“ zu sprechen kam, wurde es spannend. Hierbei handelt es sich um eine systematische Herausnahme von „Mischlingskindern“ aus ihren Familien. Sie sollten nicht in den Aborigine-Reservaten bleiben, sondern sich assimilieren und in rein-weiße Familien integriert werden, um fortan in der weißen Gesellschaft lebensfähig zu sein. Dies wurde bis in die 1960er-Jahre hinein betrieben. Als ich meinen Gastgeber darauf ansprach, meinte er, es sei ein Mythos, dass die Kinder gestohlen worden seien (die Kinder wurden jedoch teilweise ohne das Einverständnis ihrer Eltern zu Adoption freigegeben), und man habe ihnen letztendlich damit ja die Chance auf ein besseres Leben eröffnet. Leider handelt es sich zumindest bei Letzterem um eine nicht so ganz verquere Einstellung, da die Ausgrenzung und Benachteiligung der Aborigines sich bis heute nicht nur in der makabren Wahl des aus-tralischen Nationalfeiertags niederschlägt, der ebenso gut Invasion Day genannt werden könnte.

Ich habe in Australien häufiger festgestellt, dass über unbequeme Gegebenheiten im Land sehr ungern gesprochen wird und es, wie in fast allen Ländern, mehrere parallele Geschichtsauffassungen gibt. Ich würde mir beileibe kein „I love Australia“-Hoodie kaufen, aber darum geht‘s beim Reisen auch nicht. Ich habe dort vieles diskutieren, reflektieren und verinnerlichen dürfen und nehme jede Menge neue Gedanken mit auf den Weg, und genau dieser ist ja das Ziel.


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