Spanien
: An Tagen wie diesen


In Spanien wurden Mitglieder der sezessionistischen katalanischen Regionalregierung zu langen Haftstrafen verurteilt. Die Zivilgesellschaft sucht nach Wegen, damit umzugehen.

Hinsetzen für den Dialog: die Bürger Barcelonas zwischen Polizei und radikalen Separatisten. (Foto: Tessy Troes)

Das bevorstehende Urteil des Prozesses gegen die zwölf Separatisten hing wochenlang wie eine dunkle Wolke über der Region – als es dann niederschlug, war man vorbereitet. Die Katalanen brauchten keine Leitfigur, sondern nur ihr Handy, um sich zusammenzutun. Minuten nach dem Urteilsspruch, welcher neun der zwölf Angeklagten für 9 bis 13 Jahre hinter Gitter bringt, aktivierte sich die anonyme Onlineplattform „Tsunami Democràtic“ und rief zur Besetzung des internationalen Flughafens in Barcelona auf. Zehntausende Menschen überfluteten das Terminal 1 bis in die Nacht hinein. Mehr als 100 Flüge wurden abgesagt und eine neue Ära der Mobilisierung in Katalonien war eingeläutet.

Verhaftet den Tsunami!

Die anhaltenden Proteste in Hongkong sind dabei eine direkte Inspirationsquelle. Gemäß dem Motto „Be Water“ sind die Aktionen dynamisch, flexibel und a priori gewaltfrei. Fluidität wird durch schnelle Kommunikation zwischen den Teilnehmern garantiert. Tsunami Democràtic designte dazu eigens eine aus Anonymitätsgründen nur außerhalb des Google Store erhältliche Android-App. Eine Registrierung ist nicht notwendig und je nach Aufenthaltsort bekommt man Vorschläge zu aktuellen Protesten in der Nähe.

Tsunami Democràtic ist aber auch ein Ausdruck, den der Aktivist Jordi Cuixart während des Gerichtsprozesses benutzte, in Anspielung auf die Massenproteste in Katalonien, die er als Präsident der Zivilorganisation Òmnium Cultural mitorganisierte und die ihm schlussendlich zum Verhängnis wurden. Er habe zur Aufruhr beigetragen, die im September 2017 einen Polizeieinsatz daran hinderte, die Vorbereitungen für das als illegal deklarierte Unabhängigkeitsreferendum zu stoppen, so der Oberste Gerichthof. Diesen Vorwurf kritisierte Amnesty International Europa schon vor über einem Jahr als übertrieben. Nach zwei Jahren Untersuchungshaft soll er nun neun weitere Jahre hinter Gitter.

Der damalige Vizepräsident und Parteiführer der linken ERC-Partei, Oriol Junqueras, muss wegen Aufruhr und Veruntreuung von öffentlichen Geldern für 13 Jahre ins Gefängnis. Die höchstmögliche Strafe bei Rebellion wurde nicht appliziert, da nicht genügend Beweise vorlagen für die Absicht, über die Tumulte hinaus die spanische Union mit Gewalt zerschlagen zu wollen. Das Urteil ermöglicht auch die Erneuerung des europäischen Haftbefehls gegen Carles Puigdemont, der sich seit zwei Jahren in Belgien aufhält. Über eine mögliche Auslieferung muss die belgische Justiz nun diesen Monat entscheiden.

Zwischen Klopapier und Brandsätzen

Diese langen Strafen waren keineswegs unerwartet. Doch die Aussprache – und damit eine erste Endgültigkeit – des Urteils traf viele Menschen in Katalonien wie ein Schlag in die Magengrube. Wichtige sportliche und kulturelle Institutionen mit internationalem Renommee und Geldmitteln, wie der FC Barcelona und das Primavera Sound Music Festival, kritisierten das Urteil noch am Tag der Verkündung. Mit harten Gerichtsstrafen würde man kaum Probleme lösen und den notwendigen Dialog im Katalonienkonflikt nur verschieben, hieß es in den Pressemitteilungen.

In ganz Katalonien folgten die Menschen dem Aufruf von Politikern und Bürgerbewegungen zum zivilen Ungehorsam, der die Region seitdem in Schach hält. Der Ungehorsam kam in unterschiedlichen Ausrichtungen: Mal warfen die Demonstranten mit Toilettenpapier um sich (gemäß dem Motto, Spanien hat viel Scheiße wegzuputzen), spielten Volleyball in den Straßen oder warfen mit Farbe gefüllte Luftballons auf Polizeiautos. Neben diesen spontanen Aufrufen gab es auch die monatelang im Voraus geplante „Marxes per la llibertat“ – Freiheitsmärsche, ganz im Stile von Gandhi – die während drei Tagen aus fünf verschiedenen Richtungen auf Barcelona hinwanderten und in einem Massenprotest von bis zu 800 000 Leuten am vergangenen Freitag kulminierten.

Doch die katalanische Unabhängigkeitsbewegung, deren Trademark seit 2012 diese friedlichen Massenbewegungen waren, verlor an diesen Tagen auch ihre Unschuld: An fünf aufeinanderfolgenden Nächten setzten meist schwarz gekleidete Demonstranten die Zentren der katalanischen Städte in Brand. Mit Mülltonnen wurden Barrikaden gegen die anmarschierende Polizei errichtet und angezündet. Die Polizei ging Nacht für Nacht härter gegen die Demonstranten vor. Der Lärm der um die Stadt kreisenden Helikopter und der Gestank von verbranntem Plastik wurden zur Normalität in den Straßen von Barcelona.

Von der Enttäuschung zur Vermummung

Manch einem fiel es schwer zu glauben, dass dieser Trieb zur Zerstörung aus der katalanischen Separatistenbewegung kommen könnte. Es würde Infiltrierte aus der Polizei geben, hieß es. Was Journalisten wie auch das Innenministerium bestätigten, war, dass verschiedene Antifa-Gruppierungen aus Frankreich und Deutschland angereist waren. Hinter den Vermummungen blickten aber vor allem sehr junge katalanische Augen hervor.

Die, die man die vermummten Gesichter nennt, haben in Barcelona Schäden von über 2 Millionen Euro angerichtet und sind die Kinder des „1-O“. Ihre Politisierung fand vor dem Hintergrund des unilateralen Unabhängigkeitsreferendums am 1. Oktober 2017 statt. Sie erlebten, wie friedliches und selbstorganisiertes Wählen vonseiten der Polizei und des spanischen Staates unterdrückt wurde und zu keiner fundamentalen Änderung führte.

Polizeigewalt und Krawallinszenierung

(Foto: Tessy Troes)

Chaos stiften in einem großstädtischen Ort wie Barcelona heißt für sie mehr Zeit, mehr Bekanntheit, mehr Bilder, mehr Rauch, sodass die ganze Welt sie sehen kann. Die Kinder des 1-O haben ein Ventil gefunden für ihren Frust und ihre Enttäuschung über die Politik auf lokaler wie nationaler Ebene. Und die Polizeiaktionen, bei denen die spanische Policía Nacional und die katalanischen Mossos d‘Esquadra zusammenarbeiten, liefern genügend Gründe, um Gewalt mit Gewalt zu quittieren. Dabei werden etwa Gummigeschosse eingesetzt, die in Katalonien eigentlich verboten sind und die während dieser Proteste schon vier Personen ein Auge gekostet haben.

Mehr als vierzig Journalisten wurden während der Proteste von der Polizei festgenommen. Viele von ihnen benutzten Twitter, um live vor Ort über alle Aktionen zu berichten. Die meisten jugendlichen Demonstranten informieren sich zeitnah fast ausschließlich über Twitter, Telegram und Tsunami Democràtic. Fake Videos von anderen Protesten werden dabei nicht ausgefiltert, sondern benutzt, um Gewalt weiter zu legitimieren.

Auf beiden Seiten spielt dabei auch das Phänomen „Riot Porn“ mit. Selfies vor brennenden Straßen sind keine Seltenheit mehr, die jungen Anarchisten wissen sich mit der Estelada (der katalanischen Unabhängigkeitsflagge) und Bengalofeuer vor der internationalen Presse zu inszenieren – sogar die Polizei machte am Freitagabend ein Selfie vor der in Schutt und Asche liegenden zentralen Plaza Urquinaona. Dabei gab es erstaunlich wenig Reflexion seitens der Presse, inwiefern man zum Komplizen einer Menge wird, die von Adrenalin getrieben auf der Suche ist nach weiteren emotionalen Stimuli und sich mit simplistischen Rufen durch die Straßen antreibt.

Wahlen im Zeichen des Katalonienkonflikts

Ruhe kehrte erst ein, als die Separatisten sich ihrer selbst annahmen. Seit dem vergangenen Samstag bilden nun Hunderte von Freiwilligen einen pazifistischen Ring um gewaltbereite Demonstranten und verhindern so die direkte Auseinandersetzung zwischen ihnen und der Polizei.

Auf Antworten aus politischen Sphären wartete man, wie in den letzten Monaten üblich, vergebens. Ministerpräsident Pedro Sánchez und Quim Torra traten unabhängig voneinander fast täglich vor die Presse und forderten ein Ende der Gewalt. Sánchez verweigerte jedoch jegliche Gespräche mit dem katalanischen Präsidenten und besuchte bei einem Kurztrip nach Barcelona nur verletzte Polizisten. Torra selbst sitzt zwischen zwei Stühlen, da er einerseits den zivilen Ungehorsam unterstützt, seine Regierung andererseits verantwortlich ist für die Polizei, die bei den Demonstrationen gewaltsam gegen Zivilisten vorgeht. Der Innenminister Fernando Grande-Marlaska seinerseits schüttete mehr Benzin ins Feuer, als er die Taten der Polizei verteidigte und nicht einsah, warum die in Katalonien verbotenen Gummigeschosse gestoppt werden sollten. Die spanische Regierung leitete Ermittlungen ein, um herauszufinden, wer hinter Tsunami Democràtic steckt (eine beliebte Theorie ist, dass es ein Mittel der Politiker um Puigdemont ist, um dem Zerbröckeln der Einheit der Unabhängigkeitsbewegung entgegenzuwirken). Die Webseite der Plattform wurde bis auf Weiteres gesperrt.

Die Bilder der zerstörten Straßen haben aber auch über die katalanische Grenze hinaus ihren Effekt: Für die Rechtsparteien sind diese Bilder gefundenes Kampagnenfutter im Hinblick auf die Neuwahlen am 10. November. Der Konservative Pablo Casado stufte die aktuelle Situation in Katalonien als Rebellion ein und forderte, dass Katalonien seiner Autonomie entmachtet wird. Albert Rivera der Ciudadanos-Partei will den Ordnungskräften mehr Macht geben. In rezenten Umfragen würde die rechtsextreme Vox, für die ein Ausnahmezustand in Katalonien herrscht, zu einem der Wahlsieger.

Alle Seiten nähren sich momentan vom Katalonienkonflikt. Die Stimmen der Inhaftierten, um die es eigentlich zumindest in den vergangenen zwei Wochen ging, und die sich für Dialog und Pazifismus einsetzen, sind nur sehr leise im Meer von Meinungen zu hören. Der Katalonienkonflikt, dessen Aktivismus ein neues Stadium erreicht hat, hat zum wiederholten Male tiefliegende Probleme Spaniens aufgezeigt. Wie lange der von den Separatisten angekündigte „warme Herbst“ andauern wird, ist schwer einzuschätzen. Auf die Frage, ob Katalonien ein weiteres Referendum haben soll, antwortete der ehemalige Regionalpräsident Artur Mas: „Nur, wenn wir auch wirklich einen Plan für den Tag danach haben.“


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