Die Fotografin Vivian Maier hat Zeit ihres Lebens nie ausgestellt. In ihrem Nachleben hat sie sich daher einen legendären und geheimnisumwitterten Ruf erworben. Mit einer fulminanten Biografie hat die Fotokünstlerin und Wissenschaftlerin Pamela Bannos nun ein wenig Schärfe in das verschwommene und verzerrte Bild von Vivian Maier gebracht.
Verweigerung in der Kunst ist ein Akt, der nicht zuletzt auf die Aura des Geheimnisvollen, auf ästhetische Steigerung spekuliert. Das beginnt bereits bei der Band, die ihr Konzert mit dem Rücken zum Publikum spielt. Oder bei den Debatten, ob Syd Barrett nun „tragisch“ bei Pink Floyd ausgestiegen sei, weil er psychisch krank wurde, oder ob er als maßgeblicher Schöpfer der brillanten ersten beiden Alben danach einfach nur genug hatte von der Kulturindustrie. Noch extremer scheint es, wenn Kunstschaffende ihre Arbeiten mit der Öffentlichkeit gar nicht teilen. Aber, so die hart umstrittene Frage, ist ihr Werk dann überhaupt schon Kunst?
Eine Aura des Mysteriösen umgibt auch die Fotografin Vivian Maier. Obwohl sie zigtausende Aufnahmen schoss, hat sie für keine einzige ihrer heute legendären Arbeiten zeitlebens je ein Publikum gesucht. Mehr noch: Über zwei Drittel ihrer Aufnahmen hat sie selbst nur während eines kurzen verschwindenden Moments, beim Druck auf den Auslöser, gesehen. Weil sie den Großteil der Filme nicht einmal entwickelt hat.
Ihre letzten Lebensjahre hat Maier laut derer, denen sie Anfang dieses Jahrtausends in Chicago noch über den Weg gelaufen ist, in einem eher traurigen Zustand verbracht. Einsam, abgerissen, in sich gekehrt, habe sie Stunden und Tage auf einer Parkbank verbracht. Doch berechtigt der Umstand, dass sie allein war, tatsächlich zu dem Urteil, sie sei einsam gewesen? Woher wissen wir, dass ihr Zustand ein trauriger war? Niemand hat mit ihr geredet. „Traurig“ war also zunächst höchstens der Eindruck, den die Szenerie auf die Augenzeugen machte. Doch wie ihre Bilder lädt auch die Betrachtung der Person Vivian Maier zu vielfältigen Imaginationen ein. Dabei erteilte sie ihren Zeitgenoss*innen nie ein „droit de regarder“.
Es war ihre Zahlungsunfähigkeit, mit der ihr Recht auf Privatheit erlosch und die Publikation ihres Werkes begann. Im Laufe ihres Lebens hatte Maier eine zunehmend entgrenzte Sammelwut entwickelt. Sie mietete Lagerräume an, um Unmengen von Zeitungen, Büchern, Filmrollen zu horten. Irgendwann 2007 zahlte sie keine Miete mehr. Man gab ihr Archiv zur Versteigerung frei. Die Interessenten wussten nicht, wessen Habe sie da erwarben. Bald stellten sie allerdings fest, dass sich mit den Abzügen und Negativen, die da „en gros“ verkauft worden waren, auch Geld verdienen ließ. Nach und nach wurden weitere Fotos entwickelt, ihre Arbeit über Instagram, Flickr und auf eigens geschaffenen Seiten im Netz „geshared“, einzelne Motive über „ebay“ verkauft. Parallel dazu begann John Maloof, einer der Käufer und einer Maiers künftiger „Kuratoren“, über das Leben der Fotografin zu recherchieren.
Detektivische Akribie
Als der Vivian Maier-Kult so im Jahr 2008 allmählich anzuheben begann, ging das Leben der 1926 in New York geborenen Frau gerade seinem Ende zu. Sie starb am 21. April 2009. Von ihrer „Entdeckung“ und dem Hype um sie bekam sie gar nichts mehr mit. Derweil wurde bekannt, dass sie ihren Lebensunterhalt als „nanny“ bestritten hatte. Die Legende von der Kinderfrau, die in ihrer Freizeit Straßenfotografie machte, war geboren und erwies sich als erstklassige Werbestrategie.
Mit ihrer Biografie über Vivian Maier bringt Pamela Bannos nun eine längst fällige Gegenerzählung auf den Markt. Sie zerstört das von Maloof und anderen ventilierte Bild der „nanny“, der wie durch ein Wunder ein genialer Schnappschuss nach dem anderen gelingt. Stattdessen präsentiert sie ihren Leser*innen eine Fotografin, die sich als Autodidaktin die versiertesten Fähigkeiten angeeignet hat. Die also nicht „mal eben“ Kirk Douglas, Salvador Dalí, oder, wie sonst vorwiegend, Menschen auf der Straße fotografiert, sondern sich in den 1950er und -60er-Jahren technisch, künstlerisch und motivisch entlang des „state of the art“ bewegt.
Zugleich erzählt Bannos die Geschichte einer selbstbewussten Frau, die ihr Leben gestaltet, ohne sich von ihrer Familie oder wem auch sonst bevormunden zu lassen. Maier erfindet sich neu, gibt an, dass sie in Frankreich geboren sei. Von dort hatte in Wahrheit bereits ihre Großmutter Eugenie Jaussaud 1901 Reißaus genommen, hatte die uneheliche Tochter Marie an deren vierten Geburtstag im Champsaur zurückgelassen. Erst im Juni 1914 sollte auch Marie schließlich in die Vereinigten Staaten gelangen. 1919 heiratet sie den aus Österreich-Ungarn stammenden Charles Maier. In den Heiratsunterlagen gibt das Paar – Vivians Eltern – Lyon und Wien als Geburtsorte an. Die familiäre Tradition der Neuerfindung der eigenen Biografie in den USA nimmt hier ihren Anfang; einziges Band einer ansonsten zerbrochenen, zerstreuten Familie. Vivian etwa wird bereits zehn Jahre vor deren tatsächlichen Ableben angeben, dass ihre Eltern, mit denen sie nichts mehr zu tun hat, verstorben seien. Nicht nur die biografische Neuerfindung erfordert nicht selten den radikalen Bruch.
Mit detektivischem Spürsinn puzzelt Pamela Bannos aus kleinsten Details Vivian Maiers Lebensgeschichte zusammen. Passagierlisten, Stellengesuche in Tageszeitungen, nichts ist entlegen genug, um Bannos‘ Akkuratesse bei der Rekonstruktion von Maiers ersten Lebensjahren zu entgehen. Vivian Maiers Familie und Jugend wird nicht zuletzt aus Behördendokumenten rekonstruiert, ihr Leben als Frau und Fotografin entspinnt Bannos dagegen ganz maßgeblich anhand Maiers eigenen Fotografien. Maier reist nach Los Angeles, Ägypten, in den Jemen, nach Südostasien und wo sonst noch überall hin, immer ihre Rolleiflex-Kamera im Gepäck.
Pamela Bannos verknüpft mehrere Erzählstränge, in denen sie Leben und Nachleben von Vivian Maier sowie die Geschichte der posthumen Publikation ihres Oeuvres widergibt. Mit ihrer Schreibtechnik und Textkomposition nimmt die Autorin dabei selbst Referenz bei der „streetphotography“: Das Dargestellte muss als Konstellation erscheinen, damit es als Bild eine Bedeutung artikuliert, nicht bloß sprachloses Abbild bleibt.
Somit gelingt es Pamela Bannos, die an der Northwestern University in Chicago Fotografie lehrt und noch nie zuvor ein Buch geschrieben hat, auf faszinierende Weise, die Lebensgeschichte von Vivian Maier so zu erzählen, dass Maiers Bildkomposition schillernd mit Bannos‘ Textkomposition korrespondiert. En passant erfährt man noch einiges über die Geschichte der Fotografie.
„She just would not conform“
Mit einer Akribie, die manchmal an Maiers Sammelwut zu gemahnen scheint, trägt Bannos Hunderte von Informationen zusammen, mit dem Ziel, ein möglichst vollständiges und objektives Bild von Maier zu präsentieren und der Protagonistin ihres Buches die Deutungsmacht über ihr Leben zurückzugeben. Ein Vorhaben, das natürlich scheitern muss. Bereits persönliches Interesse, Auswahl und Komposition der präsentierten Recherche legen den subjektiven Charakter des Textes frei, der als Erzählung daher notwendig die Handschrift Bannos‘ und nicht jene Maiers tragen muss. Dennoch wird man bei der Lektüre, ähnlich wie beim Betrachten eines Fotos, immer wieder zu der Frage animiert, was am Wahrgenommenen noch Teil der gelieferten Informationen ist, und wo die sich machtvoll regende eigene Imagination beginnt.
In Bannos‘ Buch kommen auch Menschen zu Wort, die Vivan Maier noch kannten, von ihr einst betreute Kinder zumeist. Sie beschreiben Maier als humorvoll, warm und zugewandt, aber auch als selbstbewusst, streitlustig, eher links und als – ach! – feministisch , sowie als eine, die mit ihrer kompromisslosen Haltung andere vor den Kopf stoßen konnte. „She just would not conform“, heißt es da, oder: „Her way, or no way.“
Vielleicht ist es also tatsächlich so, dass Maiers Entscheidung, von sich und ihrer Kunst nichts preiszugeben, alles andere als ein Akt der Verweigerung war. Vielleicht hatte sie, auch wenn ihre Nachwelt das als kränkend empfinden mag, schlicht und einfach kein Interesse daran.