Die Geschichte der Fotografin Vivian Maier wurde bislang vor allem so erzählt, dass ihr Werk sich damit gut vermarkten lässt. Im Gespräch mit der woxx erklärt die Maier-Biografin Pamela Bannos, weshalb sie denkt, dass ihre Version die richtige ist.
woxx: Ist Vivian Maiers Biografie eine traurige Geschichte?
Pamela Bannos: Nein. Sie hatte ein sehr erfülltes Leben. Es gibt eine Dissonanz zwischen der „oral history“ und der Geschichte, die ihre Fotografien erzählen. Was wir aus ihnen lernen, liegt länger zurück als das, was heutzutage Leute von ihr erzählen, die sie noch gekannt haben. Ich habe versucht, unter Rückgriff auf ihre Fotografien ihre Lebensgeschichte zu erzählen, die, wie ich finde, eine Feier des Lebens ist.
Wie meinen Sie das?
Ihre Fotografien sind nicht nur wegen der Umstände so bemerkenswert, unter denen die Nachwelt ihr Werk empfangen hat. Ihr Werk dokumentiert und „feiert“ zugleich, auf welche Weise sie ihr Leben in der größtmöglichen Erfüllung gelebt hat. Sie hat sich entschlossen, als Frau ihrer Zeit ihr Leben so zu leben, wie sie es möchte, was sich durch ihre gesamte Geschichte bis zu deren Ende durchzieht.
Was hat Sie zu der Biografie über Vivian Maier inspiriert?
Ich hatte den Eindruck, dass ihre Geschichte nicht fair erzählt wird. Sie ist der Welt ja als mysteriöse „nanny photographer“ vorgestellt worden. Das hat die Leute angesprochen: „Wie kann es denn sein, dass eine Nanny solche Werke schafft?“ Es erschien mir jedoch nicht richtig, sie als Nanny zu charakterisieren, die eben auch fotografierte. Als öffentliche Person war sie Fotografin, und als Privatperson hat sie als Nanny ihren Lebensunterhalt verdient.
Wann haben Sie mit der Arbeit an Ihrem Buch begonnen?
Ich lehre Fotografie, und 2012 hat sich ein Fernsehjournalist an meine Universität gewendet, der nach einer Expertin gesucht hat, die auf von anderen formulierte Kritik antworten sollte, wonach Vivan Maiers Arbeit lediglich andere Fotokünstler imitiert habe. Ich hatte mich schon mit Vivian Maier beschäftigt, habe dann aber die Arbeiten aus ihrer New Yorker Zeit studiert, um ihre Arbeitsweise zu verstehen und ihr Werk aus der Perspektive einer Fotografie-Lehrerin zu betrachten. Seit dieser Zeit hat meine Beschäftigung mit ihr eigentlich nicht mehr aufgehört.
Ihre Auseinandersetzung mit Maier ging jedoch weit über das Fotografische hinaus.
Ich habe herausgefunden, dass sowohl ihre Mutter als auch ihre Großmutter als Haushälterinnen gearbeitet haben. Beide haben wie später Vivian Maier selbst in den Haushalten gewohnt, in denen sie beschäftigt waren. Ich habe daher sehr früh damit begonnen, ihre Geschichte als eine Frauengeschichte zu erzählen, und dass sie mit ihrem Brotberuf in gewisser Weise die Erbschaft ihrer Familie angetreten hat.
Ich hatte beim Lesen des Buches das Gefühl, dass Sie sehr stark von einem historischen Gerechtigkeitsempfinden angetrieben werden, gegenüber Personen, denen die Möglichkeit zum Einspruch nicht mehr gegeben ist.
Das stimmt. Ihre Geschichte war, so wie sie erzählt worden ist, vollständig in den Händen von Männern: Die Sammler, die ihre Bilder bearbeitet haben, entschieden haben, welche davon veröffentlicht würden, waren allesamt Männer. Das könnte der Grund dafür sein, warum ihre Bilder denen so ähnlich gelten, wie wir sie von bereits bekannten Fotografen aus dieser Zeit kennen. Viviane Maier wurde am Maß der Männer der entsprechenden Ära und deren Arbeiten gemessen. Ich wollte ihre Geschichte so korrekt wie möglich erzählen. In meinem Buch psychologisiere ich nicht, ich versuche nicht, in ihren Kopf zu gelangen.
Die Versuchung dazu war für mich während der Lektüre Ihres Buches ziemlich groß.
Es spricht ja auch gar nichts dagegen (lacht). Aus meiner Sicht ist es das Privileg der Leser*innen, das zu tun. Was ich aber ganz klar sage: Ich bin selbst Fotografin, und daher scheint es mir nicht allzu weit hergeholt, dass jemand einfach für sich fotografiert und gar kein Interesse daran hat, seine oder ihre Fotos mit anderen zu teilen. Ich habe den Eindruck, dass es ihr hauptsächlich um den Akt des Fotografierens ging. Es ging ihr darum, sich mit ihrer Kamera in der Welt zu bewegen. Sie hat nicht einmal ein Drittel der Filme, die sie verschossen hat, überhaupt entwickelt, weil ihr dieser Teil des Fotografierens einfach nicht wichtig war.
Was macht die Fotos von Vivian Maier so besonders?
Viviane Maier war der Prototypus dessen, wie wir heute unsere Smartphone benutzen. Wir fotografieren alles Mögliche, weil wir immer eine Kamera dabei haben. Vivian Maier hatte ebenfalls immer eine Kamera dabei, was damals ungewöhnlich war. Sie hat eine unglaubliche Menge an Fotos gemacht, sie hat einfach alles fotografiert, egal wo sie gerade war. Zudem hat sie ihre Kamera wie ein Kopiergerät benutzt, all ihre Dokumente fotografiert, ihr Notizbuch, ihre Kontoauszüge, ihre Korrespondenz. Was sie von uns unterscheidet ist, dass sie ihre Fotos nicht, wie wir heute über die sozialen Medien, geteilt hat.
„Vivian Maiers Familiengeschichte ist geprägt durch ein Vermächtnis der Scham.“
Vivian Maier hat penibel darauf geachtet, ihre Privatheit zu schützen. Zugleich ist sie mit ihrer Kamera vehement in die Privatsphäre anderer eingedrungen.
Sie hat nie eine Zoom-Linse benutzt. Wenn man sich das klar macht, versteht man erst, wie nahe sie den Leuten tatsächlich gekommen ist. Aber so arbeiten Straßenfotografen. Es gibt auch ihre Bilder von Schlafenden, die man als voyeuristisch bezeichnen könnte. Aber Sie dürfen die Tatsache nicht vergessen, dass Maier im Gegensatz zu vielen anderen Fotografen nie vorhatte, diese Bilder zu veröffentlichen. Aber es stimmt, es ist eine aufdringliche Herangehensweise – das ist der Teil an der Arbeit des Fotografen oder der Fotografin, der schwer zu erklären ist.
Wie sollten wir uns Maiers Arbeit aus ästhetischer Perspektive nähern?
Vor allem in ihrer frühen kreativen Phase in den 1950er-Jahren, bevor sie New York verlassen hat, hat sie sehr akribisch an der Komposition der quadratischen Rolleiflex-Motive gearbeitet. Das war der Zeitpunkt, als sie ihre lebenslange Passion fürs Selbstporträt entwickelt hat. Ich glaube, dass sie je nachdem, was für eine Kamera sie benutzt hat, ihre Rolle als Fotografin gewechselt hat. In den Neunzehnundertsechzigern und -siebzigern hat sie zwei, drei Kameras gleichzeitig benutzt. Und sie hat jede Kamera anders verwendet. Meiner Meinung nach war sie eine außerordentliche Fotografin. Es gibt viele Arbeiten von ihr, die sich mit den Großen der Fotografie-Geschichte messen können, wegen ihrer Kompositionstechnik, ihrer Themenwahl, der Details, die sie zur Kenntnis genommen hat.
In Ihrem Buch erzählen Sie uns Maiers frühe Lebensgeschichte ausgehend davon, was Sie in ihren Fotos zu sehen vermeinen. Sie komponieren aus diesen Bildern selbst eine Erzählung. Weshalb sollte das die richtige sein?
Ich wollte die Geschichte mit ihren Augen erzählen, ausgehend von ihren Fotos. Die Objektivität besteht vielleicht aber eher in Bezug auf die Nachgeschichte, auf das, was passiert ist, nachdem Vivian Maier gestorben ist. Außerdem zwinge ich niemandem ein Urteil auf. Die Geschichte ihrer Familie erzähle ich ja in erster Linie unter Verwendung von offiziellen Dokumenten. Dadurch kann ich zeigen, dass und wie die Mitglieder von Vivian Maiers Familie sich erfunden und neu erfunden haben. So hat zum Beispiel ihre Mutter ihre Herkunft als unehelich geborenes Kind von Maiers damals 16-jähriger Großmutter verschleiert – das erste Geheimnis in einem Vermächtnis der Scham, das sich bis zum Ende von Vivian Maiers Leben durchzieht. Im Grunde wollte sich Maier von diesem innerfamiliären Wirrwarr lösen. Sie erfand ihr eigenes Selbst von Grund auf neu – wie sie sein wollte. Man kann zudem sagen, dass es eine Parallele zwischen dem Zerfall ihrer Familie gibt und dem, was passiert ist, nachdem sie gestorben war und ihre Arbeiten in alle Richtungen verstreut wurden.
Sind Sie enttäuscht, dass Sie nicht alle Puzzlestücke ihres Lebens zur Verfügung hatten?
Nein. In den bereits publizierten Kritiken zu meinem Buch wurde unter anderem bemängelt, dass ich viele Fragen offen lasse und Vivian Maier immer noch ein Mysterium sei. Was ich daran mag, ist dass Vivian Maier ihre Geheimnisse für sich behält. Immerhin hatte sie beschlossen, dass sie bestimmte Dinge von sich nicht preisgeben will. Hier besteht ja auch ein ethisches Dilemma: Ich erzähle ihre Lebensgeschichte obwohl ich weiß, dass sie nicht wollte, dass man etwas über ihr Leben erfährt. Ich spreche über ihre Fotos, obwohl ich weiß, dass sie diese nicht teilen wollte. Ich habe mir gesagt, okay, jetzt ist das alles ohnehin schon publik, also lasst es uns korrekt darstellen.
Wer nimmt die Urheberrechte von Vivian Maier wahr?
Die größte Ironie an der Geschichte ist, dass laut US-Urheberrecht dem nächststehenden noch lebenden Familienmitglied die Rechte und die aus dem Verkauf der Bilder entstehenden finanziellen Ansprüche zufallen. Dabei hat Vivian Maier sich doch gerade dafür entschieden, ihrer Familie den Rücken zu kehren. Sie hat nicht über ihre Familie gesprochen, sie hatte einen Bruder, von dem niemand wusste und sie hat behauptet, sie sei in Frankreich geboren. Wenn nun ihr Vermächtnis tatsächlich vom Gericht irgendeinem aufgestöberten Verwandten zugesprochen würde, wäre das wirklich das letzte, das sie gewollt hätte.
Pamela Bannos lehrt seit 1993 als Professorin für Fotografie an der Northwestern University in Chicago. Sowohl als Künstlerin wie auch als Wissenschaftlerin entwickelt sie Methoden, sich dem Vergessenen und dem Übersehenen anzunähern, und sucht nach den Bindegliedern zwischen visueller Repräsentation, urbanem Raum, Geschichte und kollektiver Erinnerung.
Ihre Arbeiten werden international ausgestellt. Sie hat eine Sammlung von Kameras, die inzwischen 300 Apparate umfasst. Die Biografie Vivian Maiers ist das erste Buch, das Pamela Bannos geschrieben hat.
Ihre Internetpräsenz findet sich via www.pamelabannos.com.