Sechs Wochen vor den Europawahlen ist die Angst vor einem Rechtsruck groß. Manche Strategien, um dem entgegenzuwirken, sind jedoch kontraproduktiv.
Vor rund zwei Wochen wurde die Leiterin der Vertretung der Europäischen Kommission in Luxemburg, Anne Calteux, im Radio 100,7 gefragt, ob sie den Bürger*innen rate, bei den anstehenden Europawahlen bestimmte Parteien nicht zu wählen. Wenige Augenblicke zuvor hatte Calteux behauptet, dass rechte und rechtsextreme Parteien das „gesunde politische Gleichgewicht“ im Europaparlament gefährdeten. „Ah nee, dat géif ech ni maachen“, so Calteux’ unmissverständliche Antwort auf die Frage des Journalisten. „Ech warne virun engem Verhalen, engem Bierger, dee wiele geet an deen dat net serieux hëlt.“ Sie erklärte, die Bürger*innen lediglich dafür sensibilisieren zu wollen, wie wichtig die Europawahlen seien und was auf dem Spiel stehe. Viele Menschen seien verunsichert und deshalb dazu geneigt, Parteien ihre Stimme zu geben, denen sie sie sonst nicht geben würden. Ein solches Wahlverhalten sei in ihren Augen „falsch“.
Was Calteux damit meint, ist alles andere als klar. Auf Nachfrage der woxx führt sie ihre Ansicht weiter aus. „‚Falsch Grënn‘ kënnen zum Beispill sinn, dass d’Leit op Basis vun Aussoe vu verschiddene Politiker mengen, dass d’EU net déi richteg Akzenter setzt oder net capabel ass, fir op déi haiteg Erausfuerderungen déi passend Äntwerten ze fannen. Si kéinten dann d’Meenung unhuelen, dass ee besser dru wier, wann een sech vun Europa ofwend, fir sech op reng national Interessien ze fokusséieren.“
Calteux’ Aussagen sind widersprüchlich. Sie warnt vor Bürger*innen, die die Wahlen nicht ernst nehmen und nicht berücksichtigen, was auf dem Spiel stehe. Aber beschreibt das Bürger*innen, die denken, die EU setze „nicht die richtigen Akzente“? Erfordert eine solche Beurteilung nicht ein Minimum an politischem Interesse? Zumindest scheint bei diesen Menschen das Bedürfnis nach einer Veränderung zu bestehen.
Wer so denkt wie Anne Calteux, legt einen Unwillen an den Tag, sich mit den Gründen für den Rechtsruck in Europa auseinanderzusetzen.
Mit ihren Aussagen scheint Calteux Kritiker*innen der aktuellen EU-Politik den Wind aus den Segeln nehmen zu wollen. Was sie im Grunde sagt ist: Wer die aktuell amtierenden Politiker*innen für fehl am Platz hält, sollte sie trotzdem wählen. Sie rät zu einem Wahlverhalten per Ausschlussverfahren: Man schließt extreme Parteien dem „gesunden politschen Gleichgewicht“ zuliebe von vorne herein aus und wählt dann das, was übrigbleibt. Nicht aus Überzeugung, sondern weil es die vernünftige Entscheidung ist. Das ist nicht Sensibilisierungsarbeit. Das ist ein ungeduldiges Augenrollen gegenüber einer bestimmten Wähler*innenschaft.
Wer so denkt wie Anne Calteux, legt einen Unwillen an den Tag, sich mit den Gründen für den Rechtsruck in Europa auseinanderzusetzen. Je nachdem, ob es sich bei den entsprechenden Wähler*innen um Protestwähler*innen oder Single-Issue-Wähler*innen handelt, oder ob sie rechtsextremes Gedankengut generell befürworten: Institutionen, die für Demokratie und Menschenrechte einstehen, täten gut daran, der Problematik möglichst aufgeschlossen und nuanciert entgegenzutreten. Der entsprechenden Wähler*innenschaft pauschal Desinteresse, Selbstsabotage, Unwissen, Naivität oder was sonst noch so als „falsche Gründe“ bezeichnet werden könnte, vorzuwerfen, trägt wohl eher zu einer Verschärfung des Problems bei.