Theater: Es geht in die heiße Phase

Die Klimakrise trifft die Welt immer härter, die Menschheit steht mit dem Rücken zur Wand. Wie verar- beitet man das künstlerisch? Auf diese Frage versucht „Alphabet. 26 Theater-Miniaturen für eine sich erwärmende Welt“ eine originelle Antwort zu geben.

Die Schauspieler*innen von links nach rechts: Laura Talenti, Alexander Wanat, Pitt Simon und Eugénie Anselin (Copyright: Antoine de St Phalle)

Liefe die Gegenwart wie ein Film ab, würde der Klimawandel den dazugehörigen Soundtrack liefern, der jede Szene grundiert: allgegenwärtig, bedrohlich, aber auch viel weniger fassbar als die Handlungen auf der Leinwand. Der Philosoph Timothy Morton, der auch in der Begleitbroschüre von „Alphabet“ erwähnt wird, erfand deswegen den Begriff des „Hyperobject“: In ihrer Tragweite übersteigt die Klimakrise unser aller Vorstellungsvermögen, deswegen wirkt sie zugleich so abstrakt und fern unserer Lebenswirklichkeit. Weil sie als übermächtiges und unabänderliches Problem in Erscheinung tritt, fallen wir entmutigt einem Zustand der Lähmung anheim.

Wie nähert man sich nun als Erzähler*in einem solchen Sujet an? Entgegen der archetypischen Struktur des Monomythos, der Held*innenreise also, die formal auf Linearität und Kohärenz und inhaltlich auf Konflikt und Entwicklung beruht, entschied sich der Autor und Theaterregisseur Calle Fuhr für „26 Theater-Miniaturen für eine sich erwärmende Welt“, kleine Szenen beziehungsweise Szenenfolgen, die in alphabetischer Reihenfolge jeweils um einen oder mehrere Buchstaben kreisen. Schlagwörter, die verhandelt werden, sind (um einige wenige herauszupicken): CO2, Exxon Mobile, fossile Lobby, Greenwashing, Protest, Trauerweide, Visual Utopias und Xenophobie.

Mit der Entscheidung, das Publikum anhand des ABCs an den allmählichen Klimakollaps heranzuführen, beruft sich Fuhr auf die Journalistin und Pulitzer-Preis-Trägerin Elizabeth Kolbert. Im „New Yorker“ veröffentlichte sie 2022 den Essay „Climate Change from A to Z. The stories we tell ourselves about the future“, den sie nach demselben Strukturprinzip entwarf. Aus ihrem Kalamitäten-Alphabet wurde schließlich das Buch „H is for Hope“. Und hier sei gleich eine kritische Bemerkung geäußert: Zwar werden Kolberts Werk in der Theaterbroschüre anderthalb Abschnitte gewidmet, doch in der Kurzbeschreibung des Stücks auf der Website des Kasemattentheaters wird nicht einmal ihr Name erwähnt. Dort wird ausschließlich in einem halben Satz auf die „Story des New Yorker ‚Climate Change from A to Z‘“ Bezug genommen – fair wäre es gewesen, auch hier die Autorin, deren Text als Grundlage für die Miniaturen benutzt wurde, wenigstens namentlich zu nennen.

Einzelschicksale und turbulente Weltgeschehnisse

Am Anfang war das Ahrtal: Diesem Thema widmet sich das Theaterstück als erstes. Christian hat nach einem Streit beim letzten Weihnachtsessen den Kontakt zu seiner Tante Renate abgebrochen, doch dann kommt die Flut. Mit einem Telefonanruf versucht er wieder Kontakt zu seiner Verwandten, die im Katastrophengebiet lebt, herzustellen. Vorne auf der fast leeren Bühne stehen sie dann, die ehemals Zerstrittenen, die Hand wie ein Handy ans Ohr geklemmt, und stolpern durch das mit ungelenken Pausen versetzte, aber doch von leiser Zuneigung getragene Gespräch.

(Copyright: Antoine de St Phalle)

Renate entschuldigt sich für das Zerwürfnis, Christian fragt, wie es ihr geht. Die Frau, die als freiwillige Helferin am Hubschrauberlandeplatz auf die nächste Menschengruppe wartet, erzählt, dass sie vor Kurzem sechs Leichen, schön aufgereiht, in Empfang genommen habe. Persönliches vermischt sich mit Überpersönlichem, private Dramen werden mit den großen, kollektiv erfahrenen Tragödien verwoben. Die Mehrdimensionalität dieser Szene gibt den Ton vor für das gesamte Stück; das einzelne Lebensnarrativ und die es umspannenden Erzählungen von Verlust und Fortbestand, Weiterentwicklung und Rückschritt kreuzen sich immer wieder, sind nicht voneinander zu trennen.

Bei dem Buchstaben „U“ („Unsicherheit“) tauchen die beiden Figuren wieder auf, als die Vorgeschichte zu dieser Szene nachgereicht wird – überhaupt kommen verschiedene Figuren mehrmals vor, ihre Geschichten sind die Fäden, die wieder aufgegriffen werden, die dem Stück eine gewisse Architektur verleihen. Auf diese Weise rutscht die Produktion nicht ins rein Episodenhafte ab, sie gewinnt eine strukturelle Komplexität.

Art meets journalistic research

„Alphabet“ ist ein inhaltlich unglaublich kompaktes Stück, dem umfangreiche Recherchen vorangegangen sein müssen. Beleuchtet werden, um nur einige Beispiele zu nennen: die Klimaklage des peruanischen Bauern Saúl Luciano, der den Energiegiganten RWE verklagte, die Machenschaften des Atlas-Netzwerks, dem fast 500 neoliberale und konservative Thinktanks aus über 100 Ländern angehören, und das historische Ereignis des Pariser Klimaabkommens. Auch wird die Rolle der Medien beleuchtet, denen beim öffentlichen Umgang mit der Klimakatastrophe eine große Verantwortung zukommt.

„Je mehr ich darüber lese, desto weniger Lust habe ich, darüber nachzudenken“, wirft eine Figur in den Raum – und macht damit auf ein großes Problem aufmerksam: Je mehr die Menschen in den Medien mit dem Klimawandel konfrontiert werden, desto eher stumpfen sie ab, werden vielleicht auch trotzig. Und dieses Phänomen betrifft nicht nur journalistische Erzeugnisse, auch Kunstwerke wie „Alphabet“ selbst müssen einen Drahtseilakt wagen, wenn sie ein solch überwältigendes Problem wie die Klimakrise thematisieren. Wie gelingt es Journalist*innen und Kunstschaffenden, Menschen wirklich zu erreichen, eine bleibende Message zu hinterlassen, ohne die Rezipient*innen zu verscheuchen? Indem vielleicht neue Erzählformen genutzt werden und auch mal mit Humor gearbeitet wird, ist die Antwort, die „Alphabet“ gibt. Ob das Früchte trägt, ob ein Kunsterzeugnis aufrütteln und in einem zweiten Schritt tatsächlich Veränderungen hervorrufen kann, ist eine Frage, die letztlich jedoch offenbleiben muss.

Kunst und Klimaaktivismus

Im Theaterstück steht „L“ für „London“ – diese Szene ist den Klima- aktivist*innen gewidmet, die sich in Museen an verschiedene sehr bekannte Gemälde festzukleben versuchten oder letztere mit unterschiedlichen Substanzen bewarfen: Gustav Klimts Gemälde „Tod und Leben“ mit Öl, Claude Monets „Getreideschober“ mit Kartoffelpüree. Kein Bild sei dadurch zu Schaden gekommen; vielmehr eröffneten diese gewaltfreien Aktionsformen einen Interpretationsspielraum, so die Bühnenfigur, welche über die aktivistischen Taten spricht. So werde zum Beispiel Klimts Ölgemälde durch eine neue Dimension ergänzt, indem man ihm im buchstäblichen Sinne eine neue Ölschicht hinzufüge. „Nicht beliebig, vielmehr künstlerisch“ sei das Vorgehen der Aktivist*innen.

Diese und viele andere spannende Gedanken werden in „Alphabet“ vorgebracht, weiterverfolgt und in ein künstlerisches Gewand eingeschlagen. Über die Protesttheorie wird gesprochen, nach der es nur 3,5 Prozent der Bevölkerung brauche, um einen langfristigen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen, über die Forderungen des „civil rights movement“ und über neuere „Graswurzelbewegungen“. Als Zuschauer*in nimmt man viele neue Impulse mit und verlässt, trotz der Schwere der Thematik, das Theater durchaus auch ermutigt, beschwingt. Der Erfolg des Theaterabends beruht nicht zuletzt auf der überzeugenden Schauspielleistung der vier involvierten Schauspieler*innen Alexander Wanat, Eugénie Anselin, Laura Talenti und Pitt Simon.

„Alphabet“, noch am heutigen Freitag, dem 14. Juni um 20 Uhr im Kasemattentheater.

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