Zehntausende Flüchtlinge sind nach dem Sturz des syrischen Diktators Bashar al-Assad aus der Türkei nach Syrien zurückkehrt. Die Stimmung gegen die Verbleibenden wird immer negativer.

Nicht alle syrischen Flüchtlinge verlassen ganz freiwillig die Türkei: Unser Bild zeigt Rückkehrer auf der syrischen Seite des Grenzübergangs Bab al-Hawa nördlich von Idlib. (Foto: EPA-EFE/BILAL AL HAMMOUD)
Über 50.000 Syrer hätten inzwischen die Türkei verlassen und seien nach Syrien zurückgekehrt, sagte der türkische Innenminister Ali Yerlikaya während eines Besuchs am türkisch-syrischen Grenzübergang in Cilvegözü am Donnerstag vergangener Woche. Nach dem Sturz des syrischen Diktators Bashar al-Assad gingen Bilder der Auto- und Menschenschlangen an der türkisch-syrischen Grenze um die Welt. Viele Syrer konnten es kaum erwarten, sich selbst ein Bild von der Lage in ihrem Heimatland zu machen – wohl auch, weil die Stimmung gegen sie in der Türkei in den vergangenen Jahren immer feindlicher geworden war.
Davon gibt ein einstündiges Interview einen Eindruck, das der prominente Journalist Fatih Altaylı am 4. Januar auf seinem „Youtube“-Kanal mit dem Bürgermeister der westanatolischen Stadt Bolu, Tanju Özcan, führte. Der Kommunalpolitiker von der oppositionellen kemalistischen Partei CHP ist ein Mann markiger Worte. „Natürlich ist das ungesetzlich“, sagte er im Interview in Bezug auf Maßnahmen, mit denen er in Bolu syrische Geflüchtete drangsaliert hat. „Ich habe alle Schilder auf Arabisch vor ihren Läden in einer Nacht entfernen lassen und ihnen ihre Lizenzen entzogen. Jetzt gibt es in Bolu kein einziges arabisches Schild mehr. Dann haben wir gesehen, dass dies nicht ausreichte. Also haben wir dafür gesorgt, dass die Wasserrechnungen von Flüchtlingen ansteigen, Gebühren für Hochzeiten erhöht. Alles nicht rechtens, aber es hat funktioniert. Wir hatten 20.000 Flüchtlinge, jetzt sind es unter 100.“
Es folgten noch rassistische Sprüche auf der Plattform „X“ über das von Arabern „befreite“ Bolu, bis schließlich die Generalstaatsanwaltschaft der westanatolischen Provinz Bolu ein Ermittlungsverfahren gegen Özcan einleitete. In den sozialen Medien intensivierte sich nach der strittigen Sendung eine vor Rassismus strotzende Debatte, die bereits mit dem Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Ankara am 17. Dezember vergangenen Jahres begonnen hatte. Nach dem Sturz des Assad-Regimes sagte sie der Türkei eine Milliarde Euro Unterstützung für das Management der Flüchtlingsfrage und des Grenzschutzes zu. Drei Tage nach von der Leyens Besuch verkündete die CHP auf ihrer Website, die Türkei sei „die Flüchtlingsmüllhalde Europas“.
Nach dem Sturz des Assad-Regimes sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen der Türkei eine Milliarde Euro für das Management der Flüchtlingsfrage und des Grenzschutzes zu.
Offiziell hat die türkische Regierung jegliche Beteiligung an der Offensive verschiedener Gruppen, die gegen den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad kämpften, abgestritten. Ihr Einfluss auf und ihre Unterstützung für die in Syrien kämpfende und am Sturz von Assad beteiligte islamistische Miliz „Syrische Nationale Armee“ (SNA) ist allerdings bekannt; die türkische Armee hat Teile der in der SNA zusammengeschlossenen islamistischen Truppen trainiert, mit Waffen ausgestattet und Verwundete in türkischen Krankenhäusern behandeln lassen. Diese Einflussnahme zahlt sich nun aus. Sinan Ülgen, der Direktor des unabhängigen Think Tanks „Center of Economics and Foreign Policy“ in Istanbul, sagte in einem Interview mit dem deutschen Fernsehsender „ARD“ Mitte Dezember, dass die Bedeutung der Türkei in Syrien immer weiter zunehme, vorrangig da das Land „die wichtigen Transitrouten nach Syrien kontrolliert“ und die Regierung Erdoğan „beste Verbindungen zur syrischen Übergangsregierung“ habe.
Der Schlüsselposition der Türkei dürfte auch der rasche Besuch von der Leyens in Ankara nach dem Sturz Assads geschuldet sein. Die versprochene Milliarde werde zur „Migrations- und Grenzverwaltung beitragen, einschließlich der freiwilligen Rückkehr syrischer Flüchtlinge“, so von der Leyen. Aber auch die Gesundheitsversorgung und die Bildung von Geflüchteten in der Türkei sollen mit dem EU-Geld weiter unterstützt werden. Dabei konstatierte der Europäische Rechnungshof noch im vergangenen Juni grobe Mängel in der Verwendung der Gelder aus dem sogenannten Flüchtlingsdeal mit der Türkei. Es wurde festgestellt, dass zwar Schulen gebaut, aber keine ausreichenden Daten über die Beschulung syrischer Kinder zur Verfügung gestellt wurden.
Rabia L. aus Damaskus ist 36 Jahre alt und lebt im türkischen Gaziantep. Die Stadt ist etwa 50 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Sie ist bei einer internationalen Organisation tätig und lebt seit 13 Jahren in der Türkei. Sicher fühlt sie sich trotz des Arbeitsplatzes nicht: „Mein Einbürgerungsantrag wird immer wieder abgelehnt, meine Aufenthaltsgenehmigung hängt von meinem Arbeitsplatz ab.“ 2015 hatte sie sich im Gegensatz zu den meisten ihrer Freunde dagegen entschieden, die Flucht in ein EU-Land zu versuchen. L. erhielt ihren Arbeitsplatz aufgrund ihrer Sprachkenntnisse – neben Arabisch und Englisch spricht sie fließend Türkisch und Französisch.
Generell ist es für alle, die keine türkische Staatsbürgerschaft haben, schwer, in der Türkei Arbeit zu finden, denn im türkischen Arbeitsrecht gilt eine Quotenregelung, wonach der Anteil ausländischer Angestellter oder Arbeiter in einem Betrieb oder einer Organisation, von einigen Ausnahmen abgesehen, nicht über 20 Prozent liegen darf. Bei Geflüchteten mit subsidiärem Schutz (wenn weder Flüchtlingsschutz noch Asyl gewährt wird, aber geltend gemacht werden kann, dass im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht; Anm. d. Red.) liegt die Quote bei zehn Prozent.
Geflüchtete ohne Aufenthaltsstatus würden in den Abschiebezentren schikaniert und genötigt, Ausreiseeinwilligungen zu unterschreiben.
Insgesamt hat die Mehrheit der türkischen Bevölkerung eine negative Einstellung zu syrischen Flüchtlingen und sieht sie als wirtschaftliche Belastung der Türkei. Einer Umfrage eines türkischen Meinungsforschungsunternehmens aus dem Jahr 2022 zufolge befürworteten über 80 Prozent aller Türken eine Rückkehr der Syrer. Während es unter Erdoğans religiös-konservativen Wählern 84 Prozent waren, lagen die Zustimmungswerte bei Wählern der Oppositionsparteien zum Teil sogar noch höher. 89 Prozent waren es unter den CHP-Wählern, 87 Prozent bei den Wählern der prokurdischen „HDP“ und 97 Prozent bei der nationalistischen „İyi Parti“.
Wohl auch als Folge dieser Ablehnung sank die Zahl der Syrer in der Türkei in den vergangen Jahren. Der türkische Innenminister Ali Yerlikaya gab am 20. November 2024 bekannt, dass diese von etwa 3,8 Millionen im Jahr 2021 nun auf knapp drei Millionen zurückgegangen sei, das erste Mal seit 2017 seien die drei Millionen unterschritten worden. Mit dieser „Erfolgsmeldung“ reagierte er auf Anfragen der Opposition, vor allem der CHP, die im Wahlkampf 2023 die Repatriierung von Geflüchteten zu einem Hauptwahlkampfthema gemacht hatte. Während Erdoğan mehrfach betonte, ausreisende Syrer kehrten allesamt freiwillig in ihre Heimat zurück, berichteten „Amnesty International“ und „Human Rights Watch“ schon 2019 von erzwungenen Ausreisen. Geflüchtete ohne Aufenthaltsstatus würden in den Abschiebezentren schikaniert und unter Druck gesetzt, Ausreiseeinwilligungen zu unterschreiben.
Bereits 2023 hatte Katar, ein enger strategischer Partner der Türkei, zugesichert, den Bau von 240.000 Wohneinheiten in Nordsyrien für aus der Türkei zurückkehrende Syrer zu finanzieren. „Einige Familien aus ländlichen Regionen werden sicher in der Hoffnung zurückkehren, dort Wohnraum und Arbeit zu finden“, glaubt Rabia L. Aber sie weiß auch von der Bevorzugung islamisch-konservativer Sunniten im Gebiet Idlib, das die Türkei während des Bürgerkriegs zeitweilig kontrollierte. Islamistische Kämpfer haben dort schon in der Vergangenheit Häuser bezogen und die lokale Bevölkerung, insbesondere Angehörige religiöser oder ethnischer Minderheiten, drangsaliert, Olivenhaine und Vieh beschlagnahmt. Ob sich das in der Zukunft ändern wird, bleibt abzuwarten. L. kann sich ein Leben dort nicht vorstellen, in Damaskus hingegen schon, wenn der Frieden von Dauer sein sollte.