Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Hand drauf

Wer als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Luxemburg gelangt, genießt besondere Rechte. In manchen Fällen muss aber zunächst einmal das Alter überprüft werden. Die Methoden, mit denen das geschieht, sind nicht unumstritten.

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Bei Altersfeststellungen wird in Luxemburg vor allem auf Röntgenaufnahmen der Hand zurückgegriffen, die anschließend mit Referenzbildern verglichen werden. (Foto: David Corry)

„Was macht Luxemburg im Fall von sogenannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, bei denen medizinische oder andere berechtigte Zweifel bestehen, ob sie überhaupt noch minderjährig sind?“, wollte der ADR-Abgeordnete Fernand Kartheiser in einer parlamentarischen Anfrage vom vierten September von der Regierung wissen.

„Das Asylgesetz sieht die Möglichkeit vor, im Fall von Zweifeln an der Minderjährigkeit eines Jugendlichen eine medizinische Untersuchung durchzuführen“, heißt es in der Antwort der Regierung. „Die Prozedur, die in solchen Fällen angewandt wird, ist gemeinsam mit Ärzten ausgearbeitet worden. Sie besteht aus einer Röntgenaufnahme der Hand und, falls dann noch Zweifel bestehen, aus weiteren Tests, wie Schlüsselbein- und Gebissröntgen und einer körperlichen Untersuchung durch einen spezialisierten Arzt.“

Laut der Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union und des Rates ist ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling ein „Minderjähriger, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder der Praxis des betreffenden Mitgliedsstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreist, solange er sich nicht tatsächlich in die Obhut einer solchen Person befindet.“ Auch Minderjährige, die nach der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats dort ohne Begleitung zurückgelassen wurden, werden zu dieser Gruppe gezählt.

Die Anzahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge – teilweise auch, politisch korrekter, als „children on the move“ bezeichnet – habe sich in Luxemburg bisher in Grenzen gehalten, berichtet die Kontaktstelle des European Migration Network (EMN) in Luxemburg. Allerdings sei seit 2013 ein Anstieg zu beobachten; damit einhergehend nehme auch das Verständnis für ihre besondere Situation zu.

„Children on the move“

Wer sich als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Luxemburg begibt, tut dies meist aus denselben Gründen wie andere Flüchtlinge: Das European Migration Network listet unter anderem „Flucht vor Verfolgung“, „ökonomische Beweggründe“, aber auch „Menschenhandel“ als mögliche Motive auf. Oft werde Luxemburg nicht bewusst als Zielland ausgewählt; in der Regel würden die „children on the move“ durch Zufall hierher verschlagen.

Nach der Ankunft beziehungsweise dem Aufgreifen durch die Behörden muss ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling in einem ersten Stadium dieselbe Prozedur wie ein Erwachsener über sich ergehen lassen: Er muss bei der „Direction de l’immigration“ einen Antrag auf Asyl stellen, danach werden seine Identität und gegebenenfalls seine Fluchtroute durch die „police judiciaire“ überprüft.

Nach dem Antrag auf Asyl wird der Großteil der Jugendlichen in das „Erstaufnahmeheim“ Lily Unden auf Limpertsberg verlegt. Das luxemburgische Rote Kreuz und die Caritas nehmen die Begleitung minderjähriger Flüchtlinge gemeinsam wahr: „Croix-rouge“ ist für die Jugendlichen unter 16 Jahren zuständig, Caritas für die älteren. Je nach seinem Alter wird ein Jugendlicher in einem Heim des Roten Kreuzes – in der Regel dem Asylbewerberheim an der Côte d’Eich – oder im „Foyer Saint Antoine“ der Caritas untergebracht.

Seit Anfang 2014 wird dem jugendlichen unbegleiteten Flüchtling ein sogenannter „Ad-hoc-Administrator“ zur Seite gestellt, der ihm in allen juristischen Fragen Auskunft geben und ihn über die ihm bevorstehende Prozedur aufklären kann. „In der Regel sind der Anwalt des Betroffenen und der Ad-hoc-Administrator ein und dieselbe Person“ erklärt David Petry von der luxemburgischen Kontaktstelle des European Migration Network.

Neben dem Ad-hoc-Administrator sieht das Gesetz auch einen Tutor zur Begleitung des jugendlichen Asylbewerbers vor. Der Tutor wird in der Regel von der Caritas oder dem Roten Kreuz gestellt und ist im Gegensatz zum Administrator für die schulischen, sozialen oder persönlichen Angelegenheiten zuständig. Dazu muss ein Antrag beim „Juge des tutelles“ eingereicht werden, woraufhin der Jugendliche zu einer Anhörung geladen wird.

Spätestens zum Zeitpunkt der Anhörung muss der Jugendliche nachweisen können, dass er tatsächlich minderjährig ist – so dass er in den Genuss der besonderen Rechte für Minderjährige kommt. Er steht dann unter anderem unter dem Schutz der UN-Kinderrechtskonvention. Seit 2011 bestimmt die luxemburgische Gesetzgebung zudem, dass ein minderjähriger Flüchtling, der nicht von einem „legalen Repräsentanten“ begleitet wird, nicht abgeschoben werden kann. Laut European Migration Network waren in den letzten Jahren keine „retours forcés“ unbegleiteter Minderjähriger zu verzeichnen.

Umstrittene Methode

Kann der Jugendliche seine Identität und sein Alter nicht zweifelsfrei nachweisen, verfügt er nicht über Papiere oder bestehen „berechtigte“ Zweifel an seinen Angaben, wird ein sogenanntes „Altersfeststellungsverfahren“ angeordnet. Neben dem Richter kann auch die „Direction de l’immigration“ ein solches Verfahren in Auftrag geben. Neben Befragungen stehen auch medizinische Tests als Mittel der Altersfeststellung zur Verfügung.

In der Regel wird dabei eine Röntgenaufnahme der Hand durchgeführt, um das Knochenalter festzustellen. Bei der in Luxemburg angewandten „Atlasmethode“ nach Greulich und Pyle wird das Röntgenbild der linken Hand mit Referenzbildern aus einem Atlas verglichen; das Skelettalter ergibt sich dann aus dem Bild, das der aktuellen Aufnahme am nächsten kommt.

Allerdings ist diese Methode nicht unumstritten: Nicht nur stammen die Aufnahmen des Greulich-Pyle-Atlas aus den 1930er Jahren, sondern es können auch die Referenzbilder, nach der Meinung von Experten, nicht ohne weiteres auf alle Personen übertragen werden. „Diverse wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass die Methode nicht auf jede Morphologie zugeschnitten ist“, erklärt David Petry. Das „Ombudskomitee fir d’Rechter vum Kand“ (ORK) weist darauf hin, dass die Referenzbilder des Atlas allesamt von Personen „kaukasischer Herkunft“ stammen. Dabei werde keine Rücksicht darauf genommen, dass die Knochenentwicklung bei Personen beispielsweise aus Asien oder Afrika eine andere als bei Personen aus Europa ist.

Eine weithin bekannte Tatsache, die eigentlich auch dem Immigrationsministerium in Luxemburg bewusst sein müsste. Ein Urteil der „Cour d’appel“ vom 25. Juli 2012 zum Beispiel äußert grundlegende Zweifel an der Methode und befindet, dass die Entscheidung über die Minderjährigkeit des Betroffenen nicht ausschließlich an deren Resultaten festgemacht werden sollte.

„Alle Akteure sind sich der Unzulänglichkeiten der Methode bewusst“ äußert David Petry. „Bei Gesprächen wurde uns auch von Seiten des Ministeriums zugesichert, dass man nach Alternativen Ausschau halte.“ Auch der „Lëtzebuerger Flüchtlingsrot“ (LFR) kann sich an solche Aussagen erinnern. In seinem „Avis“ zum Gesetzesprojekt 6779 – „relative à la protection internationale et à la protection temporaire“ – gibt der LFR Auszüge aus dem Protokoll eines Gesprächs mit Vertretern der „Direction de l’immigration“ wieder: „Was die Altersfeststellung bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen betrifft, so wird demnächst eine neue Prozedur eingeführt werden“. Die neue Prozedur sei Resultat der Zusammenarbeit zwischen „Direction de l’immigration“ und Gesundheitsministerium.

Doch in besagtem Gesetzesprojekt, das im Februar diesen Jahres eingereicht wurde, ist von Alternativen zur aktuell angewandten Methode der Altersfeststellung nichts zu finden. Eine Tatsache, die auch im „Avis“ der konsultativen Menschenrechtskommission kritisiert wird: „Die Knochentests, die am häufigsten angewandte Methode in Luxemburg (…), werden von mehreren Organisationen sowie vom Europäischen Parlament kritisiert“.

Wenigstens dem Urteil der „Cour d’appel“ wird im Gesetzesprojekt Rechnung getragen: „Sollten [nach der Prozedur zur Altersfeststellung] weiterhin Zweifel bestehen, wird angenommen, dass der Antragsteller minderjährig ist.“

Gibt es Alternativen?

Gibt es Alternativen zur Greulich-Pyle-Methode bei der Altersfeststellung? „Auf medizinischer Ebene gibt es wohl nur wenige andere Möglichkeiten“ meint Petry vom European Migration Network. Neben Schlüsselbein- und Gebissröntgen, deren Zuverlässigkeit aber ebenfalls von vielen Experten angezweifelt wird, besteht auch die Möglichkeit „körperlicher Untersuchungen“ durch einen Arzt. In verschiedenen deutschen Bundesländern gehört dazu auch eine Untersuchung der Geschlechtsorgane, insbesondere bei jungen Männern.

Auch bei diesen Methoden sind jedoch Zweifel angebracht. So weist das European Asylum Support Office (EASO) zum Beispiel beim Gebissröntgen auf eine Fehlerspanne von zwei Jahren hin – ein 16-Jähriger könnte also theoretisch auf 18 Jahre geschätzt werden. Was Röntgenaufnahmen des Schlüsselbeins angeht, verweist das EASO auf die diversen Risiken, die allgemein mit Röntgenaufnahmen verbunden sind, hin und stellt die Frage nach der Verhältnismäßigkeit.

Die körperlichen Untersuchungen durch einen Arzt würden Unterschiede in Bezug auf „ethnicities, race, nutritional intake and socioeconomic background“ nicht in Betracht ziehen und könnten sich zudem als „physically invasive“ erweisen.

Einschränkungen bei der medizinischen Altersfeststellung werden im Gesetzesprojekt 6779 nicht erwähnt – ein weiterer Punkt, der sowohl von CCDH als auch vom LFR kritisiert wird. Denn die europäische Direktive 2013/33/EU verlangt, dass die ärztliche Untersuchung „unter uneingeschränkter Achtung der Würde der Person und mit den schonendsten Methoden von qualifizierten medizinischen Fachkräften, die so weit wie möglich ein zuverlässiges Ergebnis gewährleisten“ durchgeführt wird. Im Gesetzesprojekt findet sich davon kein Wort.

„Wenn es keine brauchbaren medizinischen Alternativen zur in Luxemburg benutzten Methode gibt, kann man sich die Frage stellen, wie weit medizinische Methoden bei der Altersfeststellung überhaupt pertinent sind“ meint David Petry. „Wenn es aber Alternativen gibt, muss man sich fragen, warum sie nicht angewandt werden.“


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