In seinem Roman „Annie Dunne” beschreibt der irische Autor Sebastian Barry einen Sommer im Leben der Bäuerin Annie Dunne. Sie führt ein beschwerliches, aber auch beschauliches Leben – bis sich dunkle Schatten darüber legen.
„Nie geküsst, nie liebkost, nie vom Begehren eines Jungen in Verlegenheit gebracht!“ Obwohl Sebastian Barrys Roman ihren Namen trägt, ist Annie Dunne keine typische Protagonistin. Die alleinstehende, kinderlose Endfünfzigerin arbeitet auf dem Hof ihrer Cousine Sarah, seit sie ihre vorherige Anstellung im Haus einer früh verstorbenen Schwester verloren hat. An ihrer prekären Lebenssituation leidet sie ebenso wie an ihrem Buckel, der sie, ihrer Ansicht nach, von Geburt an dazu bestimmt hat, eine Außenseiterin zu bleiben. Niemand wollte sie heiraten und mit ihr eine Familie gründen, aus Angst sie könne ebenso bucklige Kinder in die Welt setzen. Heimlich beneidet sie Mrs. Nicodemus, die ebenfalls einen Buckel hat, aber dies nur, weil ihr Vater sie gleich nach der Geburt fallen ließ, und die so trotzdem heiraten und bildhübsche Kinder gebären durfte. Annie Dunne käme selbst wohl nicht auf die Idee, ihre Geschichte mit ihrem eigenen Namen zu betiteln. Sie bezeichnet sich selbst als „einsames Nichts“.
Annie Dunne käme selbst wohl nicht auf die Idee, ihre Geschichte mit ihrem eigenen Namen zu betiteln.
Sebastian Barry zählt zu den bekanntesten irischen Autor*innen. Sein Roman über das Schicksal einer Bäuerin im ländlichen Irland der 1950er-Jahre ist soeben erstmalig in deutscher Übersetzung erschienen. So unspektakulär wie die Hauptfigur ist auch der Titel seines zweiten Werks und dessen Handlung. Eamonn Sweeney schrieb in seiner Rezension über das 2002 veröffentlichte Buch im britischen „Guardian“: „Annie Dunne is a book in which nothing happens many times” und verweist damit auf die Kritik zu Samuel Becketts „Warten auf Godot“ („Waiting for Godot has been described as a play in which nothing happens twice.“) Das US-amerikanische Literaturmagazin „Kirkus Review“ drückte es schmeichelhafter aus und nannte „Annie Dunne“ ein „Buch über das Leben selbst“. Die Arbeit auf dem Bauernhof wird sehr detailreich geschildert – zu detailreich, mögen manche sagen, aber dies ist wohl Absicht, um die Mühsal auch für die Leser*innen spürbar zu machen.
Zu Anfang kommen Annies Nichte und Neffe zu Besuch, die den Sommer auf dem Hof verbringen sollen, während ihre Eltern versuchen, sich in London eine neue Existenz aufzubauen. Dieser Besuch ist für Annie und ihre Cousine Sarah eine Verheißung, gleichzeitig strengt er die beiden betagten Frauen auch an. Die Kinder sind Hoffnung, aber auch Bedrohung: Sie sind laut und ungestüm, das kleine Mädchen wird von Albträumen geplagt, nachts wähnt sie Tiger in ihrem Zimmer und Annie beobachtet zwischen Bruder und Schwester ein Spiel, das sie bestürzt und besorgt.
Veränderungen stellen Annies Selbstverständnis und ihren hart erarbeiteten, zerbrechlichen Status in Frage. Als Billy Kerr, einer der Dorfbewohner, beginnt, ihrer Cousine Sarah den Hof zu machen, gerät Annie in Panik. Eine Hochzeit würde sie zum wiederholten Male obdachlos machen. Aus Angst und Überforderung beginnt die Protagonistin sich Stück für Stück ihrem Leben zu entfremden. Dass Annies Wahrnehmung womöglich nicht mit den Tatsachen übereinstimmt, wird erst sehr spät offensichtlich.
Hier nimmt Barry dann auch literarisch einen Widerspruch in Kauf: Es gelingt ihm, eine eigentümliche Bilderwelt zu erschaffen, die durchaus Annie Dunnes Wesen widerspiegelt, und doch scheint die Sprache eher die des Autors zu sein als die seiner Hauptfigur. Bevor der 1955 in Dublin geborene Barry sich der Prosa und dem Theater zuwandte, begann er seine Karriere als Dichter. Dies wird offensichtlich, wenn er Annie Sätze sagen lässt wie: „Ach, die Gesellschaft dieser Kinder ist ein Segen. (…) Wir glänzen vor Freude, wie mit Zucker aufgeschlagener Eischnee.” Manchmal sind seine Formulierungen jedoch Lichtjahre weit weg von der kleinen Farm in Wicklow: „Und so entfernt sich unser sonderbarer und zweifellos dunkelherziger Planet immer weiter von der Sonne, die Schnur der Tage strafft sich, die Stunden mit Tageslicht werden kürzer, der Sommer schließt seine Fensterläden aus Gold und Grün für ein weiteres Jahr.”
Barry gelingt es dennoch, die Verzweiflung einer Frau spürbar zu machen, die niemals Gestaltungshoheit über ihr eigenes Leben erlangen konnte. „Annie Dunne” reiht sich ein in die Tradition der Romane, die sich im ländlichen Irland und England der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts abspielen, wie J.L. Carrs „A Month in the Country”, oder die Romane von William Trevor. In ihrem Zentrum stehen unvollendete Existenzen, denen es lediglich vergönnt ist, kurz aufzublitzen und dann ein Leben lang in diesem einen Moment zu leben, sich in diesen Moment zurück zu ziehen, um der Eintönigkeit des Alltags zu entgehen.
Stellenweise erinnert „Annie Dunne” auch an die Bücher von Colm Tóibín, besonders an den 2014 erschienenen Roman „Nora Webster”, in dessen Zentrum eine eigenwillige, einprägsame Frauenfigur steht und die eigentliche Handlung zur Nebensache gerät. Wie Tóibín verwebt Barry die Handlungen seiner Bücher und Theaterstücke miteinander, indem er immer wieder die gleichen Figuren auftreten lässt.
Geduldige Leser*innen werden für ihre Auseinandersetzung mit Barrys Roman belohnt; schlüssig ist seine literarische Vorgehensweise ebenfalls: Der Autor lässt seine Geschichte bewusst unvollendet und alles Entscheidende unausgesprochen, so wie auch Annie Dunnes Leben unvollendet bleibt.