Ungleichheiten im Bildungswesen: Die Blackbox

Nach wie vor reproduziert das Luxemburger Schulsystem soziale Ungleichheiten. Neue Reformen waren nur bedingt erfolgreich: Die Entscheidungen für den Übergang auf die Sekundarstufe verstärken weiterhin die Segregation.

Claude Meisch (DP) zu Besuch in einer Grundschule in Luxemburg. Seit 2014 arbeitet der Erziehungsminister verschiedene Reformen in das Bildungssystem ein. Tiefgehende Reformen wie die Verlängerung des Tronc commun werden jedoch weiterhin nicht besprochen. (Copyright: Ministère de l‘éducation nationale, de l‘enfance et de la jeunesse)

Sérgio Ferreira gibt immer das gleiche Gegenbeispiel: Ein Mädchen geht, gedrängt vom Schulsystem, auf die Universität, studiert Architektur. Ihr Traumberuf ist dabei ein ganz anderer: Sie möchte Chocolatier werden. Heute arbeitet sie als Pralinenherstellerin. Eine handwerkliche Ausbildung hätte besser gepasst, als der für eine luxemburgische Schülerin typischere Weg durch die allgemeinbildende Sekundarstufe und Universität. „Das ist genau das, was nicht passieren sollte ‒ ob in die eine oder in die andere Richtung“, kritisiert der Präsident der Association de soutien aux traveilleurs immigrés (Asti).

Doch das passiert seit über drei Jahrzehnten immer und immer wieder: Kinder im Luxemburger Schulsystem werden in eine Richtung orientiert, die weder für sie geeignet ist, noch unbedingt ihren Talenten entspricht. Betroffen sind vor allem Kinder mit Migrationshintergrund und solche aus niedrigen sozioökonomischen Schichten. „Es gibt eine gewisse Müdigkeit, seit Jahren immer genau das Gleiche zu sagen“, sagt Ferreira gegenüber der woxx. Haben laut Statec 40,92 Prozent der Schüler*innen zwischen zehn und 19 Jahren nicht die luxemburgische Nationalität, spiegelt sich das in den Sekundarstufen nicht wider: 2021 waren laut Angaben des Erziehungsministerium 78,3 Prozent der Schüler*innen, die eine „Classique“-Sekundarstufe besuchten, luxemburgisch. Vor zehn Jahren sah es nicht viel anders aus: Im Schuljahr 2012/13 waren 79,7 Prozent der Schüler*innen im „Classique“ Luxemburger*innen. Luxemburg zählt so „zu den Ländern mit einer starken Stratifizierung der Schülerpopulation und einer starken Segregation innerhalb des Schulsystems“, gibt der Observatoire national de l’enfance, de la jeunesse et de la qualité scolaire (OEJQS) nüchtern in einem im Juni 2022 veröffentlichten Bericht zu den sozialen Ungleichheiten im luxemburgischen Bildungsstystem an.

Diese Segregation betrifft in erster Linie die zunehmende Anzahl von Schüler*innen, die zuhause eine andere Sprache als Luxemburgisch sprechen, was natürlich nicht heißt, dass sie keins sprechen. Im Primar- und im Sekundarunterricht sind sie insgesamt in der Überzahl, jeweils rund 68 und 65 Prozent. Doch gerade mal 16,5 Prozent dieser Personen gehen auf eine „Classique“; von den Kindern mit luxemburgischem Pass sind es rund 41 Prozent. Je nach Herkunft sind die Unterschiede noch drastischer: Von der kapverdianischen Bevölkerung etwa gehen nur 2 bis 3 Prozent in das klassische Lyzeum. Die Frage, inwiefern Rassismus und Klassismus eine Rolle bei der Orientierungsprozedur spielen, stellt sich allemal ‒ zumal die soziale Schere weiterhin auseinandergeht.

Lese- und Hörverstehen sowie Mathematikkompetenzen der nicht-luxemburgischen Schüler*innen verschlechtern sich beispielsweise in den letzten Jahren zunehmend, warnte der Bildungsbericht von 2021. Daran hat sich seitdem nicht viel geändert, erklärt Susanne Backes, Forscherin an der Universität Luxemburg und eine der Autor*innen des Bildungsberichts. „Drei Jahre sind in Bildungszyklen gemessen sehr kurz. Die Muster bleiben bestehen, wobei die Lage jetzt ein bisschen differenzierter ist, weil zusätzliche Angebote dazu kamen“. Die Zahlen schwanken, doch sie zeigen einen klaren Trend.

Der Bildungsbericht von 2021 zeigt: Nur knapp über 10 Prozent der Kinder mit niedrigerem sozioökonomischen Status (SES) werden in … eine Sekundarstufe des „Classique“ orientiert – trotz dem „Classique“ entsprechenden Leistungen. Der neue Bericht soll noch vor Ende dieses Jahres erscheinen. Diese Muster bestehen jedoch auch noch nach drei Jahren, gibt die Forscherin Susanne Backes schon jetzt an. (Copyright: Nationaler Bildungsbericht 2021)

Neben der Nationalität gibt es einen weiteren Faktor, der den schulischen Erfolg in Luxemburg maßgeblich beeinflusst: Der sozioökonomische Status (SES). In einem Land, in dem fast jedes vierte Kind von Armut betroffen ist, wurden laut dem Bildungsbericht 2021 etwa 72 Prozent der Kinder mit einem hohen SES in den Klassik orientiert, gegen knapp 16 Prozent der Schüler*innen mit niedrigem SES. Auch hier lassen sich die Ungleichheiten seit Jahren verfolgen: 1978 veröffentlichte der Psychologe Gaston Schaber eine seitdem oft zitierte Studie, die belegte, dass ein Kind, dessen Elternteil einen Universitätsabschluss hat, damals eine sechsmal höhere Wahrscheinlichkeit hatte, das Abitur zu machen, als ein Kind aus einer Arbeiter*innenfamilie.

Die Auswirkungen auf die Gesellschaft sind beträchtlich, denn die Ungleichheiten in der Gesellschaft bleiben so weiterhin bestehen, kommentiert Sérgio Ferreira die kaum verändernden Zahlen. „Über die Frustrationen und Folgen für das Kind und den Jugendlichen hinaus, bringt die Ungerechtigkeit im System natürlich auch Probleme für den sozialen Zusammenhalt mit sich“, so der Asti-Präsident. „Da die soziale Leiter nicht so funktioniert, wie sie sollte, sehen wir, dass es immer eine Replikation gibt, zumindest von einem Teil der Bevölkerung, der in gewissen Arbeitsplätzen, Ausbildungen und Bildungswegen verbleibt.“

Die genauen Gründe für diese Segregation sind vielfältig – und die Annahme, dass Diskriminierung hier eine Rolle spielt, liegt nahe. Als Schlüsselmoment für die schulische und berufliche Laufbahn der 12-jährigen Kinder ist der Übergang von der Grundschule auf die Sekundarstufe sicher Teil des Problems. Laut dem Bildungsbericht von 2015 etwa bestimmen zwar die Noten der Schüler*innen die Übergangsentscheidung auf eine klassische oder technische Sekundarstufe, doch auch „leistungsferne Informationen wie beispielsweise der soziale Hintergrund und der Migrationshintergrund der Schüler sowie die Bildungsabschlüsse der Eltern“ fließen in sie mit ein. So ist „der Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe eine der entscheidenden Phasen der Schullaufbahn, in der sich der soziale Abstand vergrößert und seine strukturelle Natur offenbart“, brachte es der 2022 veröffentlichte Bericht des OEJQS auf den Punkt.

Der ungleiche Übergang

(CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Dabei zeigen Studien schon seit Jahren die ungleiche Behandlung während dieser Orientierungsprozedur. Eine im Bildungsbericht des Jahres 2015 veröffentlichte Studie etwa verglich das Verfahren für Kinder mit und ohne Migrationshintergrund. Für erstere verlaufe die Evaluation der Lehrer*innen nicht nur minutiöser als für die luxemburgische Schülerschaft, auch das Verantwortungsbewusstsein der Lehrer*innen spiele eine Rolle. Wurden Lehrer*innen spezifisch auf ihre Verantwortung und die Bedeutung der Orientierung hingewiesen, erhöhte sich die Genauigkeit ihres Urteils. Der Effekt ebbte jedoch bei Schüler*innen mit Migrationshintergrund nach sechs Monaten ab, die Übergangsentscheidung wurde erneut ungenauer.

Um den Diskrepanzen während der Entscheidungsprozedur etwas entgegenzukommen, leitete das Ministerium 2017 eine Neureglementierung ein. Neben kosmetischen Änderungen (aus dem „Lycée technique“ wurde ein „général“), ging die Reform auch die Orientierungsprozedur in Sekundarschulen an. Der Elternwunsch zur Orientierung ihrer Kinder wird seitdem zu einem früheren Zeitpunkt mit einbezogen. Auch hierzu veröffentlichte der Bildungsbericht eine Analyse, die gemischte Ergebnisse aufzeigt. Führt der frühere Austausch mit Eltern mit einem hohen sozioökonomische Status dazu, dass deren Kinder nun ihren Leistungen nach realistischer orientiert werden, gibt es bei Kindern einer niedrigeren sozialen Herkunft keine bedeutenden Unterschiede: Immer noch werden sie seltener auf den „Classique“ orientiert, und dies trotz hoher Leistungen.

Sind die Grundschul-Lehrer*innen also Schuld daran? Die Erziehungsgewerkschaften sehen das nicht so. Seit der Reform seien Lehrer*innen nur noch vorsichtiger, was die Übergangsentscheidung angeht, erklärt Joëlle Damé vom Syndikat für Erziehung und Wissenschaft (SEW/OGBL). Auch das Syndikat der Grundschullehrer*innen vertritt die gleiche Meinung: Im Falle einer Beschwerde würden Lehrer*innen negative Konsequenzen für ihre berufliche Autorität befürchten, so der SNE-CGFP gegenüber der woxx. „Die Lehrer wollen sich dieser Gefahr nicht aussetzen, geben den Eltern deshalb oft Recht.“ Bei der Asti sieht man die Prozedur anders, denn Eltern könnten die Lehrer*innen nur schwer überzeugen, erklärt Ferreira: „Sich der Entscheidung des oder der Lehrers*in zu widersetzen ist für Eltern eine Qual“.

Erklären können sich die Forscher*innen des Bildungsberichts die Diskrepanzen noch nicht. Forscher Thomas Lenz von der Universität Luxemburg hält den „objektiveren Lehrer“ für einen „Mythos“, doch sowohl er als auch seine Kollegin Backes warnen: Unbewusste Faktoren spielen sowohl bei Eltern als auch bei Lehrer*innen eine Rolle. Die Orientierungsprozedur sei „noch eine Blackbox“, so Backes, es fehle an repräsentativen Studien. Die Frage, inwieweit der Faktor Statuserhalt ‒ und somit (un)bewusste klassistische oder rassistische Denkmuster ‒ in der Frage, wie man seinem Kind bestmöglich helfen könne, eine Rolle spiele, sei noch unbeantwortet. Warum Kinder aus Familien mit niedrigem SES oft nicht ihren Leistungen nach orientiert werden, wisse die Wissenschaft noch nicht.

Verzweigtes System

Wie dann der Segregation etwas entgegensetzen? Neben dem Versuch, die Orientierungsprozedur zu verbessern, verstärkt der Erziehungsminister Claude Meisch (DP) seit 2014 die Unterstützungsmaßnahmen und testet Pilotprojekte wie die öffentlichen Europaschulen oder die Alphabetisierung auf Französisch ‒ Maßnahmen, die allerdings den Kern des Schulsystems nicht berühren und deshalb auf vergleichbar geringen Widerstand gestoßen sind. „Man hat neben dem regulären System ein Parallelsystem geschaffen, damit diese Kinder irgendeine Chance haben“, kommentiert Sérgio Ferreira begrüßend die Reformen der letzten Jahre. „Die Alphabetisierung in französischer Sprache ist eine gute Sache, die schon früher hätte passieren sollen.“ 2016 öffneten die ersten sechs öffentlichen Europaschulen, drei weitere sind in Planung, erläutert das Ministerium auf Nachfrage der woxx. Seit 2022 testet das Projekt „Zesumme wuessen“ in vier Grundschulen die Alphabetisierung auf Französisch ‒ eine der „Prioritäten“ für das Ministerium, um jedem Kind die „besten Chancen“ ermöglichen zu können. Im Gegenteil zu „traditionellen“ Grundschulen, gibt es hier die Wahl zwischen Deutsch oder Französisch als erste geschriebene und gesprochene Sprache. Kindern, die zuhause eine romanische Sprache sprechen, soll das Projekt das Lesen- und Schreibenlernen dadurch erleichtern. Und: Besuchen bislang vor allem Kinder mit höherem SES die öffentlichen Europaschulen, findet die Reform der Alphabetisierung eher bei Familien mit niedrigem SES Anklang.

Inwiefern eine französische Alphabetisierung die spätere Orientierung auf die Sekundarstufe positiv beeinflusst, muss sich noch zeigen. Das Ministerium strebt mitunter schon eine allgemeine Umsetzung auf nationaler Ebene für das Schuljahr 2026/2027 an. Die ersten Ergebnisse sind vielversprechend: Kinder, die auf Französisch alphabetisiert werden, schneiden in den „épreuves standardisées“ besser ab als Kinder gleicher Herkunft, die auf Deutsch alphabetisiert wurden. Auch was die Eltern der auf Französisch alphabetisierten Kinder angeht, geben nur 11 Prozent an, ihre Kinder nicht angemessen unterstützen zu können. Thomas Lenz nuanciert die Ergebnisse gegenüber der woxx: Es handle sich um eine erste Indikation, die Gruppen seien zudem ziemlich klein. „Für Kinder, die zu Hause nicht Luxemburgisch oder Deutsch sprechen, ist das Projekt eine Erleichterung. Das sind aber nicht unbedingt diejenigen, die auch sozioökonomisch schlechter gestellt sind. Das sind also zwei unterschiedliche Geschichten, die man sich da angucken muss“, so der Forscher. Auch die Gewerkschaften geben sich abwartend, wollen das Projekt „kritisch begleiten“ und fordern wissenschaftliche Evaluationen. Laut dem Forschungszentrum Luxembourg Centre for Educational Testing (LUCET) der Universität Luxemburg, das das Pilotprojekt betreut, sollen die Kinder weiterhin bis auf das dritte Jahr der Sekundarstufe beobachtet werden.

Weiterhin Tabu

Eine langjährige Forderung, die das Problem frontaler angehen würde, wird momentan jedoch nicht debattiert, auch steht sie nicht im Koalitionsprogramm: Die Verlängerung des Tronc commun. „Je verzweigter ein System ist, desto ungerechter wird es“, erklärt Jeanne Damé die Position des SEW/OGBL. Es gilt, die Komplexität der vielen Stufen und der multilingualen Programme zu überdenken. Denn in einem „relativ hochgegliederten Bildungssystem [wie in Luxemburg] sind mehr Entscheidungen möglich und nötig. An diesen Stufen finden dann durchaus auch sehr ungleiche Entscheidungen statt, die von verschiedenen Akteuren getroffen werden müssen, nicht mal sehr bewusst“, so Susanne Backes. Blieben die Kinder länger gemeinsam in einer Schule, könnte das ihnen helfen, weiterhin voneinander zu lernen, so das Argument der einen Seite. Der Vorschlag bekommt aber auch Gegenwind, die SNE-CGFP Gewerkschaft weist auf die „Heterogenität der Kinder“ hin, die es jetzt schon durch Leistungsunterschiede schwer mache, auf die individuellen Bedürfnisse jedes Kindes einzugehen. Es brauche jedoch eine grundlegendere Reform des Bildungssystems und in den Diskussionen „sollten keine Tabus bestehen“, kontert Ferreira. Vor allem sei „es nicht die Aufgabe der Kinder, sich an ein System anpassen zu müssen, das nicht auf sie zugeschnitten ist.“

Neu ist der Lösungsansatz des Tronc commun nicht: Schon Ende der 1970er-Jahre, kurz nach Erscheinen der Studie von Gaston Schaber, verabschiedete das Parlament unter einer DP-LSAP Regierung eine Reform, die die Orientierung um drei Jahre verschob. Doch wenig später kehrte die CSV in die Regierung zurück, die Reform wurde nicht umgesetzt. Die Idee eines Tronc commun ist seitdem vom Tisch. Auch wenn der OEJQS erklärt, dass „eine frühe Orientierung zu verschiedenen Schultypen vor allem dann problematisch ist, wenn der sozioökonomische und soziokulturelle Hintergrund die Schullaufbahn beeinflusst“ und sich Akteur*innen darum bemühen, die Diskussion anzustoßen.


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