Womex: That’s Underground!

Auf der diesjährigen Weltmusikmesse Womex brodelte es wieder im innovativen Untergrund.

Der Autor mit Moonlight Benjamin aus Haiti auf der Womex. (© Privat)

Vor 50 Jahren erschien die Kompilation „That’s Underground“ und machte zum ersten Mal aufregende Bands aus den USA, die zuvor nur kleinen Gruppen von Insidern bekannt waren, einem breiteren Publikum zugänglich. Diese Künstler*innen experimentierten, ohne die von der Musikindustrie vorgegebenen, steifen Regeln zu beachten, und pfiffen auf kommerziellen Erfolg. „The Electric Flag“, „Moby Grape“, „Big Brother & The Holding Company“ und natürlich „Mothers of Invention“, die man leider nicht mit auf die Platte genommen hatte, waren Avantgarde, Innovation, Rebellion. Viele blieben im Untergrund, hatten es auch gar nicht auf die Hitparaden abgesehen und beeinflussten trotzdem auch die Kommerzabteilung nachhaltig. Einen ganz wichtigen Teil des heutigen kreativen und experimentellen Undergrounds findet man in der Weltmusikszene. Weltmusik halten manche für einen Tummelplatz für ergraute Alt-Hippies, die andächtig verstaubter Dorfmusik lauschen. Beides gibt es in der Weltmusik, die Hippies und die (allerdings nur selten verstaubte) Dorfmusik, aber da findet noch viel mehr statt. Einige Musiker*innen bleiben der Tradition treu, andere elektrifizieren die Roots und wieder andere suchen ganz neue Wege. Die Akteure der Weltmusik sind mehrheitlich jung und ihre Musik ist oft experimentell, elektronisch, eklektisch.

Die diesjährige Ausgabe der Weltmusikmesse Womex Ende Oktober in Las Palmas, Gran Canaria hat wieder nachdrücklich bewiesen, dass hier Puristen, Rocker, Elektroniker und Fusionisten bestens miteinander auskommen können. Mit 2.700 professionellen Teilnehmer*innen aus 92 Ländern und 60 Konzerten mit 300 Musiker*innen vermischten sich auf der Womex Tradition und Avantgarde, traf Vergangenheit auf Gegenwart und Zukunft. Für viele Rock-Fans waren George Harrisons Sitarklänge bei den Beatles und Ravi Shankar in den 1960ern die ersten Berührungen mit nicht-europäischer Kultur, während Jazz-Anhänger*innen solche musikalischen Reisen schon länger bekannt waren. In den 1980ern beschritten dann wagemutige Rocker in Gruppen wie „Dissidenten“, die noch heute aktiv sind, und „3 Mustaphas 3“ neue Wege, als sie Musiker*innen vom Balkan, aus Nordafrika und Indien einluden und Unglaubliches schufen. Dann entdeckten Brian Eno, der bei „Roxy Music“ begann, Jah Wobble, der Bassist von „Public Image Ltd.“, die „Talking Heads“ und „Transglobal Underground“, welch ein Schatz in den traditionellen Musiken der Welt steckt. Dieser Prozess hat nie aufgehört und so modernisieren auch heute junge Musiker*innen die Musik ihrer Heimat und andere finden ihre Inspiration in der kreativen Vermischung von Moderne und der schier unendlichen Vielfalt musikalischer Stile, die Menschen in verschiedenen Regionen des Globus geschaffen haben. Etliche dieser Innovatoren waren auf der Womex wieder live zu erleben.

Die neuen Gruppen

„Moonlight Benjamin“ aus Haiti, deren Platte ich schon aufregend fand, hat mich mit ihrem Konzert umgehauen. Die ganz in Schwarz gehüllte, zierliche Voodoo-Priesterin fesselte mit imposanter Stimme und Bühnenpräsenz und wurde von der lautesten Band, die jemals haitianische Musik gespielt hat, angetrieben. Benjamin ist die Queen of Rock’n’Voodoo und im wahrsten Sinne des Wortes magisch! In der gleichen Liga spielt „Gaye Su Akyol“. Ihre Band mit schwarzen Augenmasken instrumentierte den psychedelisch klingenden, modernen Beat Istanbuls und vorne zelebrierte die Sängerin in glänzendem Umhang und hohen Stiefeln das Spannendste was die türkische Szene aktuell zu bieten hat. In den 1960ern beherrschte Arabesque, eine Mischung arabischer und anatolischer Klänge, die dortige Musikszene. Akyol bezieht sich darauf, klingt dabei aber so aktuell, als hätte sie diesen Stil soeben selbst erfunden. Feministisch, demokratisch und absolut zeitgemäß – oder, wie einige sagen, futuristisch! Zwei ihrer Platten werden von Glitterbeat Records international vertrieben, der Plattenfirma, die den Label Award der Womex erhalten hat. Einer der Glitterbeat-Betreiber, Peter Weber, ist bekennender Punk-Fan und sein Geschäftspartner, Chris Eckman, ist Mitglied der Indie-Rock-Band „Dirtmusic“ sowie der „Walkabouts“. Beide sind Garanten dafür, dass das Label auch die wilden, immer breiter werdenden Ränder der Weltmusik, wie sie „Gaye Su Akyol“ repräsentiert, abdeckt. Vierzig Jahre nach dem Entstehen des Punks gibt es ihn heute noch als albernes Stereotyp, inklusive besinnungslos-aggressivem Pogo und Spucken ins Publikum. „The Turbans“, eine Multikultitruppe aus London, verfügt über die Kraft, das Tempo und die ungezähmte Spielfreude des Punk, ohne dabei jemals in solche Klischees zu verfallen. Diese achtköpfige Combo würde auch schon als reine Rockband abräumen, doch ihre schwindelerregenden Power-Interpretationen von Balkan, Klezmer und was ihr sonst noch unter die Finger kommt, macht sie einzigartig.

Der algerische Raï, der immer wieder mal ins Schnulzige abglitt, war seit Jahren von der Bildfläche verschwunden. Jetzt ist er wieder da. „Sofiane Saidi“ und seine Gruppe „Mazalda“ haben ihn konsequent entschmalzt, ohne ihn seiner Emotionen zu berauben. Allzu oft werden mit Electronics kalte, sterile Sounds erzeugt; bei Sofiane Saidi bereichern sie die Stücke. Er ist auch Mitglied von „Ammar 808“, die einen berauschenden elektronischen Maghreb-Groove spielen.

Lebte Miles Davis noch, könnte er heute so klingen wie „Ariwo“. Zwei virtuose kubanische Perkussionisten und ein Iraner, der elektronische Klänge und vor allem Beats beisteuert, erzeugen einen dichten, lebendigen und druckvollen Polyrhythmus, über den zwei britische Jazzer mit Trompete und Saxophon ihre melodischen Läufe legen. Alle fünf sind gestandene Musiker. Hier werden Jazz-, Kuba- und Elektronik-Fans und auch die, die ein offenes Ohr für moderne Mixturen haben, glücklich. „Liniker e os Caramelows“ aus Brasilien mischen afro-brasilianische Melodien mit Funk, (Free-)Jazz und Rap. Liniker Barros ist die erste brasilianische Sängerin, die sich offen als Transgender outet und mit starker Stimme und feurigem Auftreten die angeschrägten Songs der Band führt. Diese mal leise, mal laute Gruppe vertrat das Brasilien, das man sich wünscht.

Hier geht’s lang

Wohl niemand würde heute auf die internationale Vielfalt der gastronomischen Genüsse verzichten wollen. Das Interessanteste kommt aus den traditionellen Küchen vom ganzen Globus: Wer immer nur mit denselben Zutaten kocht, dreht sich im Kreis – so ist es auch in der Musik. Die Womex hat wieder gezeigt, wo es langgeht. Wer auf der Suche nach neuen Klängen ist, muss in die Weltmusikszene hineinhorchen.

Da werden aus internationalen Zutaten neue Sounds zubereitet; erfrischend jung, innovativ, scharf und ohne kommerzielle Scheuklappen. Das ist der neue Underground!


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