KULTUR: „Kunst muss politisch sein“

Lars Schmitz und Raphael Lemaire von dem jungen Künsterkollektiv Richtung22 erklären im woxx-Interview, wie sie den kulturellen Sektor in Luxemburg sehen, wie man Leute erreicht, die bisher nicht erreicht wurden, und warum Kunst sich einmischen sollte.

Lars Schmitz, 27, hat sein Kommunikations- und Medienwissen-
schaftsstudium in Halle gerade abgeschlossen.

Raphael Lemaire, 22 Jahre alt, studiert Politikwissenschaft in München. (FOTOS: RICHTUNG22)

woxx: Warum Richtung22?

Lars Schmitz: Die Gruppe funktioniert basisdemokratisch, was am Anfang natürlich zu den zu erwartenden stundenlangen Diskussionen geführt hat. Ich glaube, wir hatten ungefähr 200 Namen zur Auswahl. Uns war wichtig, einen zu finden, der unser Engagement widerspiegeln würde. Unsere Projekte sind ja nicht neutral, sondern haben in gewisser Weise eine „Richtung“. Eigentlich ist der Name auf ganz banale Art und Weise zustande gekommen. Jemand hat gefunden, wir bräuchten unbedingt eine Zahl im Namen, weil das cooler klingen würde. Trotzdem: Die Idee dahinter ist „Richtung 22. Jahrhundert“, Richtung Zukunft also.

Wie ist das Kollektiv zustande gekommen?

Lars Schmitz: Sowohl im TNL-Jugendclub als auch im Conservatoire und im Echternacher Theater finden sich Schüler und Schülerinnen zusammen, um Theater zu machen. Uns wurde irgendwann klar: Es gibt kein Pendant dazu für Studenten und Studentinnen. Also haben sich die Leute aus den verschiedenen Jugend-Theatergruppen zusammengetan. So groß ist die Szene in Luxemburg ja nicht, es kennen sich also fast alle untereinander.

Es geht darum, die Mittel, die Kunst bietet, zu nutzen um die gesellschaftliche Debatte zu erweitern.

Raphael Lemaire: Jeder kennt jemanden, der Theater macht, und interessiert ist, und so zieht das dann immer weitere Kreise.

Eure Produktionen, ob im Theater- oder im Filmbereich, beschäftigen sich immer mit aktuellen, politischen Themen.

LS: Das geht teilweise auf den TNL-Jugendclub zurück, in dem es zwei, drei Leute gab, die eigentlich von Anfang an ein ebenso großes Interesse an Politik wie an Kultur hatten. So ist die Idee entstanden, unsere Stücke jeweils an ein aktuelles Thema zu binden. Mittlerweile sind wir der Meinung, dass Kultur in Luxemburg, aber auch der Kultursektor in Europa insgesamt, ein Problem hat: Nämlich das, sich in einer Nische zu befinden, eine Sprache zu sprechen, die außer einer intellektuellen Elite niemand versteht. Um den Weg aus dieser Nische zu finden, reicht es nicht, Hürden abzubauen, damit mehr Menschen den Weg zur Kultur finden. Es geht auch darum, rauszugehen, sich für die Themen, die die Menschen bewegen, zu interessieren, sich an den Diskussionen, die in einer Gesellschaft geführt werden, zu beteiligen. Es geht darum, die Mittel, die Kunst bietet, zu nutzen um die gesellschaftliche Debatte zu erweitern.

Was tut ihr, um so viele Menschen wie möglich anzusprechen und Hürden abzubauen?

LS: Wir beseitigen zum Beispiel die finanzielle Hürde, die ja sonst im Kulturbereich quasi omnipräsent ist. Unsere Filme sind immer umsonst im Internet zugänglich, was uns schon einige Diskussionen und Anfeindungen eingebracht hat. Die Hürden, die wir abbauen können, wollen wir auch tatsächlich beseitigen. Eine andere Frage ist natürlich: Wie erreicht man die Leute, die vorher gar nicht erreicht wurden? Wir haben versucht, die Frage andersherum zu stellen: Wie können wir als Kunstschaffende die gesellschaftlichen Mechanismen in Frage stellen und angreifen, die Leuten den Zugang zu Kultur erschweren oder verbauen? Die Frage ist doch: Für wen ist Kultur da? Für eine gesellschaftliche Elite? Oder kann Kunst auch ein Mittel im Kampf gegen die Eliten sein?

Ihr sprecht von Anfeindungen und Diskussionen wegen eurer Umsonst-Politik …

LS: Es gibt unter Kinobetreibern Vorbehalte. Oft wird gesagt: Wenn ein Film umsonst gezeigt wird, ist er nichts wert. Bei den Theateraufführungen ist es das Gleiche. Die Frage nach dem Wert von Kunst, für die man nicht bezahlt, kommt immer wieder auf. Uns wird vorgeworfen, unsere eigene Kunst dadurch abzuwerten, dass wir keinen Eintritt erheben oder unsere Filme umsonst online stellen.

Klar ist, dass wir uns nicht auf dem Weg befinden, den Luxemburg und die Luxemburger Filmindustrie gewählt haben.

Habt ihr das Gefühl, dass euch Steine in den Weg gelegt werden?

LS: Da ist man schnell bei den Vermutungen … Wir stellen uns natürlich Fragen, wenn wir feststellen, dass es irgendwo nicht so weitergeht, wie wir uns das vorgestellt haben. Klar ist, dass wir uns nicht auf dem Weg befinden, den Luxemburg und die Luxemburger Filmindustrie gewählt haben. Wir weichen vom sehr gleichgeschalteten Luxemburger „Aktionsplan Film“ ab. Da wir uns ganz klar davon abgrenzen und uns auf anderen Wegen bewegen, ist schon klar, dass es mehr oder weniger offene Konfrontationen gibt.

Nun gibt es ja auch Kulturschaffende, die es sich schlichtweg nicht leisten können, keinen Eintritt zu verlangen.

LS: Wir verstehen sehr wohl die persönlichen Argumentationen. Wir verstehen, wenn ein regionaler Kinobetreiber versucht zu überleben, und dafür Eintritt verlangt. Aber was haben wir denn davon, wenn wir 20 oder 25 DVDs verkaufen? Uns geht es in erster Linie darum, unsere Projekte so weit wie möglich zu verteilen, nach außen zu tragen.

RL: Dadurch, dass wir unsere Filme beispielsweise gratis online setzen, verleihen wir unserer Überzeugung Ausdruck, dass Kultur unabhängig vom Geldbeutel sein sollte.

Euer letzter Film „Staatsgeheimnis – keng Panik, näischt verfasst“ – beschäftigt sich mit dem Geheimdienstskandal 2013 und der anstehenden Verfassungsreform.

LS: Im Film dient die Darstellung des Geheimdienstes der Verbildlichung eines Systems in Luxemburg, das auch unter der neuen Regierung weiterexistiert. Alles bleibt, wie es war, das ist der Ausgangsgedanke. Das konfrontieren wir mit der Geschichte der Verfassungsmodernisierung. Im Film soll die Verfassung überarbeitet werden, aber der Geheimdienst sagt natürlich: Stopp! Hier wird nichts modernisiert! Bis er herausfindet, dass die gesamte Verfassungsreform nicht ernst gemeint ist und sich sowieso nichts ändern wird.

Ist Kunst für euch ein Mittel zur politischen Agitation?

RL: Bis zu einem gewissen Punkt sehen wir das schon als politische Agitation. Kunst muss politisch sein, wenn sie reiner Selbstzweck ist, schießt sie irgendwie am Ziel vorbei.

LS: Immer wieder stellen Leute mit Überraschung fest, dass jemand aus dem Kunstbereich bereit ist, den Schritt über die Tabugrenze der politischen Einmischung hinweg zu tun. Die Frage lautet doch eher: Wie ist dieses Tabu zustande gekommen? Warum greifen Künstler mit ihrer Kunst nicht mehr in die gesellschaftliche Debatte ein? Im Kunstsektor wird es nicht mehr als schick angesehen, die ganzen Verschnörkelungen und Umschreibungen gesellschaftlicher Probleme beiseite zu lassen und die Dinge beim Namen zu nennen. Wir vollziehen einen Bruch, weshalb uns natürlich vorgeworfen wird, den Kunstraum verlassen zu haben. Dann kommt jedoch die Frage auf: Wie zeitgemäß ist der vorherrschende Kunstbegriff noch?

Kunst muss politisch sein, wenn sie reiner Selbstzweck ist, schießt sie irgendwie am Ziel vorbei.

Wie bewertet ihr die aktuelle Kulturpolitik in Luxemburg?

LS: Der erste Schock war, dass keine der zu erwartenden Parteien – LSAP oder Grüne – im Kulturbereich am Ruder ist. Wieder einmal wird der Kultursektor stiefmütterlich behandelt. Das spiegelt sich in allen kulturpolitischen Entscheidungen wider. Was ist das zum Beispiel für eine dumme Idee, alle bestehenden Konventionen aufzulösen, ohne einen Plan für die Zukunft zu haben? Oft wird ja kritisiert, es gebe im Allgemeinen keinen Plan für den Kultursektor. Ich glaube, es gibt einen Plan, und zwar einen ziemlich gefährlichen. Immer öfter geht es nur noch um die Frage: Welchen Nutzen bringt Kultur für das Bild, das wir von Luxemburg zeichnen wollen? Diese gruselige Nationbranding-Strategie geht in diese Richtung, und die gesamte Kulturpolitik ist auf diesen Nutzen ausgerichtet. Im Filmsektor zeigt sich das ganz deutlich: Hauptsache, wir sind in Cannes und in Venedig dabei, Hauptsache, eine Luxemburger Koproduktion bekommt einen Oscar verliehen. Wir machen das nach, was die anderen eh machen. Das verhindert, dass Kunst in Luxemburg eigene Wege geht.


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