Schockierend authentisch zeichnet
Lukas Moodysson die Abgründe europäischer Sex-Sklaverei am Schicksal des Mädchen „Lilya“ nach.
Ein junges Mädchen irrt verzweifelt durch trostlose Vorstadtstraßen, der Rammstein-Song „Mein Herz brennt“ hämmert die Dramatik der Situation noch bis in die hinterste Ecke des Kinosaals. Sie rennt, bleibt am Geländer einer Brücke stehen, blickt hinunter auf den Autoverkehr – und stopp! Der schwedische Regisseur Lukas Moodysson („Fucking Amal / Show me Love“) schwenkt nun um und erzählt von Anfang an die bittere Geschichte eines Horrortrips, wie ihn unzählige Kinder und Frauen tagtäglich erleben müssen.
Lilya, 16 Jahre, haust in einem heruntergekommen Stadtviertel in Litauen. Sie freut sich auf ein neues, besseres Leben in den USA, wohin sie mit ihrer allein erziehenden Mutter und deren neuem Liebhaber ziehen soll. Doch am Tag der Abreise verkündet die Mutter, vom Freund unterstützt, dass Lilya nicht mitgehen wird. Sie war als Tochter nie gewollt und soll kein weiteres Hindernis mehr sein. Eine Tante soll
sich um sie kümmern, Geld soll folgen.
Nichts dergleichen geschieht: Die alkoholkranke Tante betrügt Lilya von Anfang an um Geld und Wohnung, steckt sie in ein schäbiges Rattenloch und nistet sich selbst in die doch bessere Wohnung des Mädchens ein. Briefe oder Geld von der Mutter gibt es nicht, vielleicht hat sich die Nachbarin im Briefkasten bedient. Hilfsbereitschaft gibt es auch keine in diesen Bauten, in denen jeder nur noch um die eigene Existenz kämpft. Lediglich auf den Jungen Volodya kann sie sich verlassen, auch wenn sie ihn anfangs wegen seines jugendlichen Alters nicht ernst nimmt. Volodya leidet ebenfalls unter der Armut und flüchtet vor der Gewalt seines Vaters auf die schäbige Couch in Lilyas dürftiger Bleibe. Er ist der einzige, der ihr ein treuer Freund bleibt, später, als falsche Freunde Lügen über sie verbreiten.
Moodysson nimmt sich viel Zeit für die Darstellung von Lilyas Alltag, schildert in kalten Farben die Trostlosigkeit in den Plattenbauten, die ausweglose Armut, die losen Begegnungen Jugendlicher, die ihre Klebstoffreste zusammentragen, um der Hoffnungslosigkeit für ein paar Minuten zu entfliehen. Durch diese eindrucksvolle Schilderung lässt sich nachvollziehen, warum die junge Frau unbedingt dem Rattenloch entfliehen will und naiv nach jedem Strohhalm greift.
Er heißt Andréi, sitzt an der Clubbar und mimt den rücksichtsvollen, hilfsbereiten jungen Mann. Dass er ein eiskalter Schlepper ist, begreift Lilya erst, als sie Wochen später im schwedischen Malmö in einem Apartment eingesperrt ist, das nicht viel besser aussieht als ihr ehemaliges in Litauen. Hier muss sie Männern als Sexsklavin dienen.
Davon ahnt Lilya zunächst aber nichts. Sie hofft auf einen Neubeginn mit dem netten Freund, der sie liebevoll und respektvoll behandelt, nicht bedrängt und ihr von einem gemeinsamen Leben in Schweden vorschwärmt, wo er schon seit längerem arbeitet. Sein Chef hätte eine Stelle für sie als Gemüseverkäuferin, behauptet er.
Dass im Winter kein Gemüse wächst, bemerkt nur Freund Volodya, der dem flotten Andréi mit dem roten Wagen von Anfang an misstrauisch begegnet. Lilya ist verblendet, riskiert alles, lässt selbst Volodya hinter sich und tauscht ahnungslos ihre trostlose Situation ein gegen eine noch viel schlimmere, gewaltvolle. Aus Lilyas Blickwinkel erlebt das Publikum, wie sich stöhnende Männer über ihren Körper hermachen, sich wie selbstverständlich das Recht nehmen, ihn für ihre eigene Befriedigung zu missbrauchen und sich einen Dreck um den Menschen Lilya scheren.
Moodyssons Bilder sind stark und realistisch, bilden einen Kontrast zu Lilyas Flucht in Traumwelten, in denen Volodya als Engel erscheint – eine etwas platte stilistische Einlage. Der Film erinnert an den authentischen Fall der 16jährigen Estonin Daugoule, die Anfang 2000 in Malmö ihrem mehrmonatigen Martyrium ein Ende setzte und von einer Brücke sprang.
Moodysson greift ein heikles Thema auf: Nach dem schwedischen Gesetz von 1999 werden Freier strafverfolgt, nicht mehr die Prostituierten. Doch trotz des Verbots, Frauen als Sexware zu behandeln, zwingen unübersichtliche Grenzen und skrupellose Schlepperbanden Frauen vor allem aus Osteuropa weiterhin in die lebensgefährliche Prostitution. Lilya, Daugoule und all die anderen leiden unerkannt und ohne Aussicht auf Rettung hinter den Mauern von Apartments, gefangen in den Netzen von Menschenhändlern, so lange bis womöglich ihre Leichen geborgen werden.
Im Utopia