PAUL GREENGRASS: United 93

Mit den Mitteln des Kammerspiels und Dogma-Ästhetik:
Der Kinofilm „United 93“ trifft auf die Endlosschleife der 9/11-Bilder.

Mit dem Mut der Verzweiflung: Passagiere an Bord der United 93 beratschlagen, ob sie etwas gegen ihre Entführer unternehmen sollen.

Kommt die filmische Verarbeitung der Anschläge vom 11. September 2001 zu früh? Diese Diskussion entwickelte sich in den USA anlässlich der Premiere von „United 93“. Eine seltsam anmutende Frage. Denn die Scheu, eine auf reale Ereignisse basierende Geschichte mit Hilfe fiktiver Elemente in Szene zu setzen, trifft hier auf ein Sujet, das von Beginn an die Züge eines medialen Spektakels trug. Die Bilder vom Einschlag der Passagiermaschinen im World Trade Center und von den aufeinanderfolgenden Einstürzen der Twin Towers haben sich auf unserer Netzhaut eingebrannt, so oft haben wir sie gesehen. Dutzende, Hunderte Male in jenem September und bis heute, wann immer im weitesten Sinne über jene Ereignisse berichtet wird. Dennoch fiel es damals schwer, das am Fernsehschirm Mitverfolgte überhaupt zu realisieren, für wahr zu halten. Zu ähnlich sah das alles einem jener Streifen, wie sie etwa Roland Emmerich für ein Massenpublikum inszeniert. Was also geschieht, wenn man über diese Ereignisse auch noch einen Kinofilm dreht? Wird der beschriebene Effekt verstärkt oder zumindest perpetuiert?

Regisseur Paul Greengrass hat mit seinem Film eine mögliche Antwort auf diese Fragen gegeben. „United 93“ war die Flugnummer jener Maschine, die auf dem Weg von New York nach San Francisco gekapert wurde. Die Hijacker wollten sie, nach allem was man weiß, in ein Ziel in Washington lenken. Doch der Plan schlug fehl, denn die Geiseln an Bord des Fluges meuterten gegen ihre Entführer. Während dieses Kampfes stürzte das Flugzeug schließlich auf ein Feld bei Shanksville, Pennsylvania.

Nach Auswertung der Tonbandmitschnitte kam die 9/11-Kommission der US-Regierung zu dem Schluss, dass
die Passagiere es nicht geschafft hatten, das Cockpit zu stürmen.

Greengrass hat seine Geschichte unter Zuhilfenahme dieser Quellen inszeniert. Nüchtern referiert der Film auf verschiedenen Ebenen die Ereignisse ab dem Moment der ersten Entführung. Er blendet zwischen nationaler Flugsicherung, der New Yorker Luftabwehr und der Flugadministration hin und her und schildert die Konfusion, in der sich die völlig überforderten Verantwortlichen befinden. Dazwischen erlaubt er immer wieder einen Blick an Bord des Flugzeugs, dessen Start sich noch verschiebt, während zwei andere Maschinen bereits entführt und im Anflug auf die Towers sind. Harte Schnitte und eine durchweg subjektive Kameraführung sorgen dafür, dass dem Zuschauer keine Möglichkeit zum durchatmen bleibt. Man ist mittendrin, gefangen im Geschehen.

Informationen über Entführer und Geiseln bekommt man nur fragmentarisch, was einer Identifikation mit bestimmten Charakteren entgegenwirkt. Die Hijacker wirken zunächst sympathisch, Greengrass vermeidet jedes Ressentiment. Und dennoch: Als nach unerträglicher, endlos langer Zeit, auch an Bord dieser Maschine das beginnt, von dessen Eintreten man von Anfang an weiß, wird der barbarische Akt, den die vier jungen Männer begehen, schonungslos deutlich.

„United 93“ ist kein ideologiekritischer Film. Man erfährt nichts über das Motiv der Entführer. Greengrass geht es um etwas anderes: Er durchbricht die klassische Aktiv/Passiv-Dichotomie des Genres indem er zeigt, dass den Subjekten immer die Möglichkeit zur individuell verantwortlichen Entscheidung bleibt. Die Hijacker könnten bis zuletzt auch ablassen von ihrem mörderischen Tun. Und der Handlungsspielraum der Geiseln ist zwar begrenzt, dennoch entschließen sie sich zur Rebellion.

Die Planer des 9/11 haben sich der Methode des Spektakels ermächtigt, um den USA ihre Kriegserklärung zu übermitteln. Greengrass holt die Opfer der Anschläge mit Hilfe einer Inszenierung aus der abstrakten Inszenierung der Terroristen zurück, indem er ihnen stellvertretend ein Gesicht gibt. In diesen Gesichtern kann man lesen: Es gibt sie nicht, die quasi-fiktive Abstraktheit jener beinahe menschenleeren Fernsehbilder vom 11. September, und es gibt auch nichts zu rationalisieren. Die Grausamkeit hat nichts Abstraktes. Nicht dort, wo gestorben wird.


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