Die Betreuung von Kleinkindern ist in Luxemburg vor allem ein kommerzieller Markt. Die Aktiengesellschaft Familienservice hat ihre Finanznot verschwiegen, bis zum Konkurs – ein Schock für 120 Kinder und 34 BetreuerInnen.
Keinen Zentimeter weicht er von der Seite seiner Großmutter – und das schon seit einer halben Stunde. Yan hat sein Köfferchen mit bebilderten Würfeln einer Betreuerin gegeben, sein seeblaues „Scheefchen“ nicht. Es ist genauso alt wie er: drei Jahre. Seit ihrer Eröffnung vor zwei Jahren besucht der Junge schon die Crèche Villa Lavande hier in Gasperich. Nur wenige Kinder sind heute dort. Yans Freunde fehlen.
Am Nachmittag muss er sich mit seiner Oma einen anderen Hort ansehen. Grund: Die Aktiengesellschaft Familienservice ist pleite. Und damit ist auch die Zukunft ihrer Krippe Villa Lavande ungewiss. Die Villa ist nur eine von vier betroffenen Betreuungsstätten. Für 120 Kinder und 34 Angestellte war die Nachricht vom Bankrott ein Schock. „Am Telefon haben sie uns gesagt, dass wir in zwei Wochen schließen“, erzählt eine Erzieherin. Seitdem verbringt sie ihre Freizeit damit, sich zu bewerben – bislang erfolglos.
„Il y a péril en la demeure“. Yan blickt neugierig auf den Artikel, der an der Magnetwand im Flur der Villa Lavande hängt und ein großes Foto seiner Crèche zeigt. Dass sein Hort schließen soll, kann Yan zwar nicht lesen. Aber er merkt die Veränderungen in seiner Krippe: Seine Spielgruppe musste mit einer anderen zusammengelegt worden.
34 Betreuungsplätze hat die Villa Lavande. Die Warteliste war lang – bis vor zwei Wochen. „Wir waren bis 2005 ausgebucht“, erzählt die Leiterin. Jetzt sind nur noch 14 Kinder da – die, die noch keine andere Crèche gefunden haben und die, die auf das Überleben ihrer Krippe gesetzt haben. Aber sie haben Pech. Denn für den Gaspericher Hort hat sich kein Käufer gefunden, ebensowenig wie für die Villa Jaune in Helmsingen. „Zumindest die Villa Bleue und die Crèche Les petits loups haben es geschafft“, erzählt Claude Janizzi, Referent für Kindertagesbetreuung im Familienministerium. Er hat sich bereits um neue Krippenplätze für die Kinder gekümmert, die das Ministerium in den Betreuungsstätten des Familienservice untergebracht hatte. 15 Plätze hatten sie dort angemietet.
Schwarze Schafe
„Das Ministerium hat von sich aus bei uns angerufen und uns gesagt, dass sie einen neuen Krippenplatz für Yan gefunden haben“, erzählt Yans Großmutter. Sie muss nur zehn Prozent der Kosten (950 Euro für eine Ganztagsbetreuung monatlich) zahlen, den Rest übernimmt der Staat. In Luxemburg gibt es rund 520 Krippenplätze für Kinder bis drei Jahren, deren Eltern ein geringes Einkommen haben. Die meisten von ihnen verwalten Asbl, die vom Ministerium eine Konvention für ihre Crèche bekommen haben. Aber die Zahl reicht längst nicht zur Unterbringung aller Kleinkinder berufstätiger Eltern aus.
1009 Krippenplätze liegen heute in der Hand kommerzieller Unternehmen. Regierung und Gemeinden hatten und haben sich fast nie auf eigene Initiative um Kinderkrippen bemüht. Sie überlassen den Markt seit Jahren Geschäftsleuten – auch solchen, denen es an pädagogischen Fähigkeiten und Seriösität fehlt: Beispiel Familienservice SA. „Die Miete war viel zu hoch. Die Betreiber haben sich das Haus im Grunde selbst vermietet“, sagt Claude Janizzi.
Die Aktiengesellschaft hat ihr Personal jetzt mit 500 Euro pro Person für die letzten zwei Monate Arbeit abgespeist. Noch ungeklärt ist die ausstehende Zahlung von 135.000 Euro Sozialversicherung. Die Strippenzieher in der Familienservice SA geben der Konkurrenz die Schuld am Konkurs. Zu einer Stellungnahme gegenüber der woxx waren sie nicht bereit. Bemüht das Gespräch zu beenden, hieß es nur noch: „Ja, ja die Entlassungspapiere bekommen die Leute noch.“
Maxime spielt im Hof der Villa Lavande. Der Junge ist nicht nur ziemlich groß für einen Dreijährigen, er übernimmt auch gleich Gartenarbeit für Große – Rasenmähen. „Die Betreuer in der Villa Lavande sind super. Aber die Betreiber sind skrupellos“, erzählt sein Vater Guy Kremer. Er ärgert sich bereits zum zweiten Mal über die Familienservice SA. Von heute auf morgen hätten sie schon einmal eine Betreuerin entlassen.
„Ein typisches Muster“, nennt es Gisela Erler, die vor drei Jahren ursprünglich als Mehrheitsbesitzerin der Aktiengesellschaft im Handelsregister eingetragen war. Die Gründerin der deutschen Firma Familienservice, die heute mehr als 160 Unternehmen betreut, und die Luxemburger Aktionäre haben sich bereits nach einem Jahr wegen fehlgeschlagener Zusammenarbeit getrennt. „Die haben wie verrückt Häuser gekauft. Die hatten gar keine ordentliche Bedarfsplanung“, erzählt Erler. Der Franchise-Versuch mit den „Luxemburger Herren“, einem Bürgermeister, einem Anwalt und einem Bankier, sei ihr „interessantester beruflicher Flop“ gewesen.
1998 hat die Luxemburger Regierung das so genannte ASFT-Gesetz verabschiedet. Das verlangt zwar die Offenlegung der Finanzlage eines Unternehmens, das eine Kinderbetreuungseinrichtung eröffnen will. Es verlangt aber nicht, dass die Firma über genügend Kapital verfügt. „Die Mission des Familienministeriums ist der Schutz der Untergebrachten“, rechtfertigt Claude Janizzi. Ob die Finanzdecke ausreicht, wird nicht geprüft. Eine Betriebserlaubnis hängt von anderen Faktoren ab, wie einer ausreichend großen Fläche pro Kind, von der ordnungsgemäßen Einrichtung von sanitären Anlagen und Notausgängen.
Die Einhaltung dieser Vorschriften kontrollieren Claude Janizzi und sein Stellvertreter, mehr oder weniger regelmäßig. Denn sie sind die einzigen Inspekteure für Betreuungseinrichtungen – immerhin 158 gibt es davon in Luxemburg. „Wir schaffen es nicht einmal, jedes Jahr überall hinzugehen“, sagt Janizzi. „Unangemeldet natürlich“, versichert er. In der Villa Lavande gab es vor wenigen Monaten ein Kontrolle – jedoch mit Vorankündigung. „Die waren dreimal in den vergangenen zwei Jahren hier, aber nie ohne vorher anzurufen“, erzählt eine Erzieherin.
Kein Dänemark
Es ist zwölf Uhr. Gleich gibt es Mittagessen in der Villa Lavande. Im Raum für die Babys füttern bereits zwei Erzieherinnen ihre verbliebenen Jüngsten. Gil hat schon gegessen. Mit ihrem vor lauter Knuddeln schon vergilbten Hasen sitzt sie auf einem zwei Meter langen gelben Kissen und wirft ihren Schnuller jauchzend durch die Luft.
Nicht alle Kinder sind so fit wie das 17 Monate alte Mädchen. Yandl ist schon seit einer Woche krank. Er bekommt einen Löffel Medizin verabreicht. Wortlos schluckt er die Flüssigkeit herunter. Aber so problemlos läuft das nicht immer. „Kranke Kinder sollten eine eigene Betreuerin bekommen und einen eigenen Raum“, sagt die Erzieherin.
Im Koalitionsabkommen kündigt die Regierung an, sie wolle ein „flexibleres Angebot“ und „neue Auffangstrukturen“ schaffen. Gemeint ist: Es soll überprüft werden, ob Öffnungszeiten von 7.30 bis 18.30 Uhr ausreichen. Das ASFT-Gesetz soll überarbeitet werden und damit auch der Punkt Offenlegung der Finanzen bei Anfrage nach einer Betriebserlaubnis, erklärt Claude Janizzi. Außerdem soll die Zahl der Betreuungsplätze erhöht werden.
50 Projekte sind derzeit in Arbeit. Allerdings handelt es sich hierbei überwiegend um Unterbringungen für die Dreijährigen, die jetzt den Précoce besuchen – die Einrichtung, die ab diesem Herbst von jeder Gemeinde zur Sprachintegration von Kindern angeboten werden soll. „Dort werden sie sozusagen gratis betreut“, sagt Claude Janizzi.
In der Villa Lavande sind acht von neun Angestellten ErzieherInnen oder haben eine gleichwertige Ausbildung. Damit hat sich die Familienservice SA mehr Qualität geleistet, als das Familienministerium verlangt. Vorgeschrieben ist: 50 Prozent der MitarbeiterInnen müssen eine Ausbildung als ErzieherIn haben. Nicht vorgeschrieben ist: dass jeden Tag auch eineR der gelernten Angestellten in der Krippe ist. „Im europäischen Vergleich liegen wir in einem guten Mittelfeld. Hätten wir Anforderungen wie in Dänemark, wäre das für kommerzielle Anbieter nicht finanzierbar“, erklärt Claude Janizzi. Das sieht die Gewerkschaft OGBL anders. Ihre Forderungen: mehr Iniative seitens der Regierung und Gemeinden sowie die alleinige Einstellung von ausgebildetem Personal.
Yan, der sich wohl oder übel von seiner Großmutter trennen musste, hat auch schon gut zu Mittag gegessen: Bohnensuppe. Und jetzt heißt es für die Kinder, die bis zum Nachmittag in der Crèche bleiben: Schlafen. Aber das ist seit zwei Wochen in der Villa Lavande ein echtes Problem. „Die Kinder wollen sich nicht mehr hinlegen. Sie sind ganz verstört“, erzählt die Leiterin. Auch Yan. Gleich muss er mit der Großmutter die andere Krippe besichtigen. „Für ihn wird es sehr schwer werden. Er fürchtet sich an fremden Plätzen, wo er niemanden kennt“, erzählt die Großmutter. Noch einmal kuschelt sich Yan an seine liebste Betreuerin Sandrine – vielleicht zum letzten Mal.